Nigeria kommt nicht zur Ruhe. Immer wieder erschüttern Selbstmordattentate und Entführungen den Nordosten des Landes – verübt durch die islamistische Terrororganisation Boko Haram. Im Vorfeld der ursprünglich für Mitte Februar angesetzten Präsidentschaftswahl ist die Gewalt noch einmal eskaliert. Den bisher traurigsten Höhepunkt bildete die Invasion der Handelsstadt Baga nahe dem Tschadsee Anfang Januar. Kämpfer von Boko Haram ermordeten etwa 2000 Menschen und zerstörten zahllose Gebäude – und das, obwohl dort die Multinational Joint Task Force stationiert ist. Die Einheit, die sich aus Soldaten verschiedener Nachbarländer zusammensetzt, war ursprünglich zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden organisierten Kriminalität gedacht, in jüngster Zeit aber auch mit der Aufgabe betraut, gegen Boko Haram vorzugehen. Der Angriff auf die Stadt Baga zeigt in aller Deutlichkeit das eklatante Versagen der Sicherheitskräfte, der terroristischen Gefahr etwas entgegenzusetzen.
Zwar gelang es der Armee, die im Februar gestarteten Offensiven der Boko-Haram-Terroristen auf die im Nordosten gelegene Millionenstadt Maiduguri sowie auf die Großstadt Gombe vorerst abzuwehren. Doch angesichts der bedrohlichen Lage hat die nigerianische Wahlbehörde den Termin für die Präsidentschaftswahl kurzerhand um sechs Wochen auf den 28. März verschoben. Man könne den sicheren Ablauf der Wahl in den von Boko Haram kontrollierten Gebieten im Norden des Landes nicht garantieren, hieß es zur Begründung. Bis zur Wahl will der derzeit amtierende Präsident Goodluck Jonathan die Islamisten nun in einer großangelegten Offensive schlagen. Zu diesem Zweck einigten sich Nigeria und seine Nachbarländer Benin, Niger, Kamerun und Tschad mit Unterstützung der Afrikanischen Union Anfang Februar auf die Schaffung einer Eingreiftruppe aus 8700 Soldaten, Polizisten und Zivilisten. Doch ob diese die Dschihadisten tatsächlich bezwingen können, ist mehr als fraglich.
Seit nunmehr fünf Jahren wütet Boko Haram nun schon in Nigeria, dem mit 175 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten Land Afrikas.[1] Eines ihrer zentralen Ziele ist es, Nigeria vollständig unter das Scharia-Gesetz zu stellen. Zunächst als Alternative gegen den korrupten Staat und die schlecht funktionierenden staatlichen Institutionen gegründet, radikalisierten sich die Mitglieder der Bewegung schnell und entwickelten sich nicht nur zu einer innenpolitischen, sondern inzwischen auch zu einer internationalen Bedrohung. Anfangs verübten die Terroristen vor allem Anschläge auf staatliche und kirchliche Institutionen. Mittlerweile werden jedoch auch gezielt Märkte, Schulen, Universitäten und Busbahnhöfe angegriffen. Auffällig ist die Verlagerung der Bombenanschläge vom Norden in Richtung Süden. Seit April 2014 ist der Terror endgültig in der bis dahin als sicher geltenden Hauptstadt angekommen. Die Anzahl der Opfer nimmt stetig zu. Seit 2009 tötete die Gruppe mehr als 13 000 Menschen, unzählige weitere wurden verletzt, Hunderttausende sind auf der Flucht. Seit Boko Haram nun erstmals auch Dörfer in den Nachbarstaaten Kamerun und Tschad überfiel und dabei zahlreiche Menschen tötete, ist die Lage unberechenbarer denn je zuvor.
Der Aufstieg Boko Harams fällt größtenteils in die Amtszeit des amtierenden Präsidenten Goodluck Jonathan. Der promovierte Biologe und Angehörige der ethnischen Minderheit der Ijaw trat sein Amt im Jahr 2011 als Hoffnungsträger der People’s Democratic Party (PDP) an, jener Partei, die seit dem Ende der Militärdiktatur 1999 alle Präsidenten stellte. Jonathan ist in der Geschichte der unabhängigen Republik erst das zweite Staatsoberhaupt ohne militärischen Hintergrund, für viele Beobachter symbolisierte sein Amtsantritt daher einen Schritt in Richtung Demokratisierung. Doch von den in ihn gesetzten Hoffnungen ist nicht viel geblieben, zahlreiche Bürgerinnen und Bürger sind von der Bilanz seiner Regierung enttäuscht.
Denn letztlich war der Machtzuwachs Boko Harams nur möglich, weil Jonathan die Sicherheitslage im Nordosten lange nicht ernst genommen hat. Obwohl die Gruppe hier bereits seit 2009 aktiv ist, unternahm die Regierung bis vor zwei Jahren nichts, um die Dschihadisten aus dem Gebiet zurückzudrängen, weder indem sie sie direkt bekämpfte noch indem sie gegen die strukturellen Ursachen des Terrors wie die massive Armut vorging. Über Jahre hinweg ignorierten Regierungsverantwortliche die Präsenz radikalislamischer Kräfte oder redeten sie klein. Dieses Vakuum ermöglichte Boko Haram nicht nur, sich nahezu ungestört im gesamten nordöstlichen Teil des Landes auszubreiten, sondern auch, sich großflächig zu vernetzen und zu einer transnationalen Formation über die Staatsgrenzen zu Niger, Tschad und Kamerun hinweg heranzuwachsen.
Besonders deutlich wurden die Passivität der Regierung und ihre Fehleinschätzung der innenpolitischen Lage im April 2014: Kurz nach einem von Boko Haram verübten Bombenanschlag auf einen Busbahnhof in einem Außenbezirk Abujas bezeichnete der Präsident die Terroristen als ein „temporäres Problem“. Nach fast jedem Anschlag verurteilten führende Politiker die Gewalttaten. Dabei blieb es aber in aller Regel auch.
Auch erste internationale Initiativen, in den Konflikt zu intervenieren, konnten die Terroristen bislang nicht stoppen: Bereits im Mai 2014, kurz nach der Entführung von über 200 Schülerinnen durch Boko Haram im nordöstlichen Bundestaat Borno, entsandten beispielsweise die USA Truppen in den benachbarten Tschad, um die Suche nach den Entführten mit militärischer Aufklärung zu unterstützen – bisher jedoch ohne Erfolg. Noch immer steht auch die Option einer direkten internationalen Militärintervention im Raum, wie sie schon in den Vereinigten Staaten und Frankreich diskutiert wurde. Solche und andere Arten denkbarer militärischer Unterstützung mögen zwar zu kurzfristigen Erfolgen im Kampf gegen Boko Haram führen, langfristig werden die Dschihadisten allein militärisch jedoch nicht zu besiegen sein – denn Militäreinsätze richten sich zwangsläufig nur gegen die Symptome, nicht aber gegen die Ursachen der Gewalt.
Symptom einer strukturellen Krise
Boko Haram ist letztlich bloß Ausdruck tieferliegender struktureller Probleme, die lange nicht beachtet wurden. Die Lebensbedingungen der Menschen sind denkbar schlecht, noch immer leben viele unterhalb der Armutsgrenze. Trotz eines hohen durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens müssen viele Nigerianer mit weniger als einem US-Dollar pro Tag auskommen. Darüber hinaus ist das Land in einen vergleichsweise prosperierenden, christlich dominierten Süden und einen ärmeren, muslimisch geprägten Norden gespalten. Diese Spaltung geht bereits auf die 1950er Jahre zurück. Damals wurde im südlich gelegenen Nigerdelta Erdöl entdeckt. Doch die Gewinne landeten in den Händen einflussreicher politischer und wirtschaftlicher Eliten, die Mehrheit der Menschen blieb von diesem Wohlstand ausgeschlossen. Soziale Spannungen, eine flächendeckende gesellschaftliche Unzufriedenheit sowie fehlendes Vertrauen in Politik und in staatliche Institutionen waren die Folge.
Goodluck Jonathan hat es nicht vermocht, diese Kluft zu verringern. Zwar verfolgt der Präsident eine wirtschaftsfreundliche Politik – das Land hat im letzten Jahr Südafrika als größte Volkswirtschaft des Kontinents abgelöst –, allerdings förderte er vor allem die wirtschaftlich ertragreichen Metropolregionen im Süden, während er den Norden zurückstellte. Gleichzeitig vernachlässigte er die staatlichen Grundpfeiler wie Gesundheit, Bildung und Investitionen im Agrarsektor und ließ den Ausbau des Verkehrsnetzes oder die schon lange benötigte landesweite Stromversorgung schleifen. Ein Großteil der Bevölkerung macht die Regierung angesichts dessen für die ungerechte Verteilung des Reichtums verantwortlich. Selbst in seiner Heimatregion im Süden hat Jonathans Politik für Unmut gesorgt.
Für das terroristische Netzwerk Boko Haram hat sich das Wohlstandsgefälle im Land indes als ein begünstigender Faktor erwiesen. Frustrierte junge Männer ohne Arbeit und Perspektive lassen sich leicht für den Kampf gegen den Staat rekrutieren. Auch die von einigen Gouverneuren verschiedener nördlicher Bundesstaaten seit dem Jahr 2000 eingeführte Scharia erscheint vielen als attraktive, da funktionierende Alternative zum langsamen und korrupten staatlichen Rechtssystem. Dabei stehen sich das säkulare Bundesgesetz und die religiösen Gesetze dieser Bundesstaaten gegenüber und sorgen für Spannungen, besonders unter den nichtmuslimischen Beamten und Zivilisten.
Die Abgrenzung der religiös, ethnisch und wirtschaftlich sehr unterschiedlich geprägten nördlichen und südlichen Landesteile Nigerias hat auch politische Relevanz. So wird Jonathan vorgeworfen, gegen das ungeschriebene Gesetz verstoßen zu haben, demzufolge die Regierungsführung zwischen Repräsentanten aus dem Norden und dem Süden alternieren soll. Um Wählerstimmen aus dem Norden zu gewinnen, versprach er 2011, nur für eine Amtszeit kandidieren zu wollen, obwohl rechtlich zwei Legislaturperioden von je vier Jahren möglich wären. Indem Jonathan nun erneut zur Wahl antritt, hat er sein Wort gebrochen. Einige Beobachter in Nigeria sehen das Staatsoberhaupt daher mittlerweile selbst als Verkörperung des Problems.
Der Sicherheitsapparat im Dienst der Mächtigen
Auch international wächst die Kritik an Jonathan. So macht etwa Human Rights Watch die Regierung für die derzeitige katastrophale Sicherheitssituation verantwortlich.
Tatsächlich sind die Probleme im nigerianischen Sicherheitssektor, also bei Streitkräften, Polizei und Justiz, gravierend. Doch Nigeria leidet nicht erst seit dem Erstarken von Boko Haram unter einem Sicherheitsproblem. Zwar gilt die nigerianische Armee im westafrikanischen Vergleich als stark, und das Land engagiert sich seit Jahren mit Friedenstruppen innerhalb der Staatengemeinschaft ECOWAS (Economic Community of African States) in verschiedenen Krisengebieten Afrikas. Doch innenpolitisch gelingt es der Armee keineswegs, Sicherheit zu gewährleisten. Die unterbezahlten Beamten sind oft empfänglich für Bestechungsgelder und verschaffen so vielen Verbrechern Straffreiheit. Ein Großteil der Gelder, die in die Bekämpfung von Boko Haram investiert werden, versickert. Zudem kommt es bei Einsätzen der Sondertruppe Joint Task Force im Kampf gegen Boko Haram in den Bundesstaaten Yobe, Adamawa und Borno, wo seit Mai 2013 ein Ausnahmezustand herrscht, zu willkürlichen Verhaftungen und Tötungen. Racheaktionen des Militärs an der muslimischen Bevölkerung haben die Sicherheitskräfte in ein schlechtes Licht gerückt und tragen nicht zur Befriedung der Lage bei. Auch der Polizeiapparat befindet sich in einem desolaten Zustand. Folter, außergerichtliche Tötungen und fehlender Opferschutz sind an der Tagesordnung. Im Justizbereich sind es vor allem Verzögerungen im Prozessablauf, Klientelismus und fehlende Kooperation mit den Polizeikräften, die notorisch Probleme bereiten. Kurzum: Die nigerianischen Sicherheitskräfte sorgen vorrangig für den Schutz der Mächtigen und Reichen.
Gegenkandidat Muhammadu Buhari – eine politische Alternative?
Als Hauptgrund für die eskalierende Gewalt sehen viele Beobachter jedoch den fehlenden Willen der politischen Eliten, grundlegende Reformen anzugehen. Nahezu alle Machthaber und Führungseliten profitieren vom bestehenden System der Korruption bzw. gelangten durch dieses erst an ihre derzeitigen Ämter und wollen diese lukrativen Machtposten ungern aufgeben.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob der Gegenkandidat Muhammadu Buhari eine Alternative zu Jonathan darstellt. Der Muslim aus dem Norden gilt als der aussichtsreichste unter den insgesamt 14 antretenden Kandidaten. Er ist Präsidentschaftskandidat der Partei All Progressives Congress (APC), die sich 2013 aus verschiedenen kleinen Parteien zusammenschloss, um ein Gegengewicht zur PDP zu bilden. Es ist bereits das zweite Duell zwischen Jonathan und Buhari um das Präsidentenamt. Letzterer unterlag bei der Wahl 2011 mit rund 32 Prozent dem Sieger Jonathan, der gut 60 Prozent der Stimmen erhielt.
Buhari, der sich explizit auf die Seite der Regierungskritiker geschlagen hat, spricht sich für die Bekämpfung von Armut und Unsicherheit aus. Priorität haben für ihn die Eindämmung der Korruption und die infrastrukturelle Entwicklung in den ländlichen Regionen. Damit rechnet er sich Chancen auf einen Großteil der Stimmen aus dem Norden aus. Potentielle Wähler erhoffen sich von ihm zudem ein entschiedeneres Vorgehen gegen Boko Haram. Der 72jährige verfügt als ehemaliger General nicht nur über mehr militärische Erfahrung als Amtsinhaber Jonathan, er ist auch auf der politischen Bühne kein Neuling: Buhari regierte das Land bereits zwischen 1985 und 1987 während der Militärdiktatur.
Doch weder Jonathan noch Buhari haben bislang eine konkrete Strategie im Kampf gegen die Terrorgruppe formuliert. Darüber hinaus sind umfangreiche Hilfsmaßnahmen für die hunderttausenden Flüchtlinge aus dem Nordosten des Landes erforderlich.
Damit allein wird es jedoch nicht getan sein: Um den Zusammenbruch des fragilen Landes abzuwenden, muss die neue nigerianische Regierung nach der Wahl vor allem gegen die Ursachen der Gewalt vorgehen. Es braucht umfassende strukturelle Reformen sowohl im staatlichen Sicherheitssektor als auch in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, die allen Nigerianern eine gerechtere Teilhabe am Ressourcenreichtum des Landes verschaffen. Die effektive Bekämpfung der Ebola-Epidemie im Herbst letzten Jahres hat gezeigt, dass Nigerias Führung durchaus in der Lage ist, Missstände zu bekämpfen. Was ihr bislang jedoch fehlt, ist der politische Wille, die dafür nötigen Reformen tatsächlich anzugehen.
[1] Vgl. dazu auch Marc Engelhardt, Boko Haram: Nigerias entfesseltes Monster, in: „Blätter“, 6/2014, S. 21-24.
(aus: »Blätter« 3/2015, Seite 17-20)