Was gut klingt, bringt allerdings nicht vielen etwas. Das wird bereits in den prognostizierten Mehrkosten deutlich: Lediglich 300 Mio. Euro soll die pompös vermeldete Änderung jährlich kosten. Offensichtlich sind davon nicht allzu viele Hartz-IV-Antragsteller betroffen, weil die große Mehrzahl über gar keine Sparrücklagen verfügt.
Diese Regelung steht pars pro toto, denn unterm Strich erweist sich: Aller sozial- und familienfreundlichen Rhetorik zum Trotz zieht sich die Vorzugsbedienung der eigenen Klientel durch die gesamte Beschlusslage der neuen Koalition. Angefangen bei der Kinder- und Familien- über die Bildungs- bis zur Gesundheits- und Arbeitspolitik werden vor allem die Unternehmen und Besserverdiener entlastet – zu Lasten der Normalverdiener und sozial Schwachen.
So verleiht auch die zweite Wohltat Schwarz-Gelb nur auf den ersten Blick ein soziales Antlitz. Laut Koalitionsvertrag sollen von den geplanten Steuersenkungen besonders Familien mit Kindern profitieren: So werden zum 1. Januar 2010 das Kindergeld um 20 Euro und der Kinderfreibetrag auf 7008 Euro erhöht; dafür will die Koalition mehr als vier Mrd. Euro jährlich aufwenden. 1
Doch auch hier zeigt sich: Was gut klingt, muss nicht für alle gleich gut sein. Denn von einem hohen Kinderfreibetrag profitieren vor allem Besserverdiener: Während ein Normalverdiener ab dem nächsten Jahr pro Kind insgesamt 240 Euro mehr als heute vom Staat erhält, erhöht sich die Zuwendung für Spitzenverdiener um fast doppelt so viel, nämlich um 443 Euro jährlich. 2
Doch neben diese Ungleichbehandlung tritt eine weitere. Die Erhöhung des Kindergeldes kommt nämlich gar nicht bei jenen Kindern an, die eine solche am nötigsten hätten (und die, ganz nebenbei, das Geld tatsächlich umgehend verkonsumieren und damit zum Wirtschaftswachstum betragen würden): Die Bedürfnisse jedes Vierjährigen, der derzeit von Hartz IV lebt, müssen weiterhin mit insgesamt 215 Euro im Monat gestillt werden – für Essen, Kleidung, Schuhe, Bücher, Stifte, Spielsachen etc. Ursache der Malaise: Auch das neue Kindergeld in Höhe von 184 Euro wird auf Hartz IV angerechnet.
Erst jüngst wies die OECD darauf hin, dass Kinder in der Bundesrepublik trotz insgesamt sehr hoher Direktzuwendungen an Familien einem extrem hohen Armutsrisiko ausgesetzt sind: Jedes sechste Kind lebt hierzulande in relativer Armut, in Dänemark ist es nur jedes siebenundreißigste! 3 Die massiven Kindergelderhöhungen seit 1990 (von 50 DM auf nun 184 Euro) bewahren Kinder also nachweislich nicht davor, in Armut zu leben. Anstatt weiter diesen Irrweg zu beschreiten, wäre es angebracht, endlich dem Pfad der Dänen, Schweden und Finnen zu folgen und in Bildungsinfrastruktur zu investieren. 4
Dessen ungeachtet will die Koalition nun jedoch noch eine weitere direkte Zahlung einführen: Wer ab 2013 sein unter dreijähriges Kind zu Hause betreut, soll dafür monatlich 150 Euro erhalten. Die Hoffnung der CSU, damit ihr traditionelles Frauen- und Familienbild zu stärken, dürfte sich in Teilen erfüllen. Denn zusammen mit dem Ehegattensplitting fördert das Betreuungsgeld die Alleinverdienerehe und erhöht die Hürde für Frauen, eine finanziell lohnende Arbeit aufzunehmen. (Ganz zu schweigen davon, dass die ansonsten viel beschworene „Wahlmöglichkeit“ vielerorts schon deshalb nicht gegeben ist, weil nur für einen Bruchteil aller Kleinkinder überhaupt eine aushäusige Betreuungsmöglichkeit zur Verfügung steht.)
Hinzu kommt ein regelrecht kontraproduktiver Effekt: Die Erfahrungen mit dem Landeserziehungsgeld in Thüringen zeigen, dass vor allem Kinder aus bildungsfernen Schichten von der Kindertagesstätte abgemeldet werden. Denn für jene Familien, die nur wenig zum Leben haben, stellen 150 Euro ein nicht zu vernachlässigendes Zubrot dar. Diese vor die schwere Entscheidung zu stellen, ob sie ihr Kind lieber in die Kita schicken oder ihm auch mal ein neues Spielzeug kaufen, ist jedoch grundfalsch. Viel sinnvoller wären eine angemessene Kinder-Grundsicherung sowie kostenlose und qualitativ wie personell gut ausgestattete Betreuungsmöglichkeiten für alle Kinder. Damit würde man auch jene Kinder frühzeitig wie kontinuierlich fördern und mit Büchern und Musik vertraut machen, deren Eltern sich dies aus den unterschiedlichsten Gründen nicht leisten (können). 5
Elitenförderung statt Chancengleichheit
Doch diese vielleicht wichtigste Aufgabe der Regierung auf dem Gebiet der Integration, nämlich allen Kindern eine gute Bildung zukommen zu lassen, wird nicht ernsthaft in Angriff genommen. Im Gegenteil: Die Förderung benachteiligter Kinder und Jugendlicher steht weit unten auf der schwarz-gelben Agenda.
Das gilt auch und gerade für Menschen mit Behinderungen: Zu ihnen findet sich lediglich in dem Kapitel „Soziale Hilfe und Sozialversicherung“ ein kleiner Eintrag mit gerade einmal 14 Zeilen, der vage daran erinnert, dass sich politische Entscheidungen an den Inhalten der UN-Konventionen messen lassen müssen. 6 Mit keinem Wort äußert sich die neue Koalition allerdings in ihrem Bildungskapitel, ob und wie sie den expliziten Auftrag der Konvention, für ein inklusives Bildungssystem zu sorgen, tatsächlich umsetzen will.
Stattdessen räumt sie der Eliteförderung besonderen Raum ein. Zu diesem Zweck sollen die Beratung von Eltern und Lehrern „hochbegabter“ 7 Kinder und deren Förderung ausgebaut werden: „Von den Ländern erwarten wir, dass sie Instrumente der Diagnostik und Förderung in einem ganzheitlichen Sinn ausbauen. Insbesondere wollen wir die MINT-Kompetenzen (Mathematik, Ingenieurwesen, Naturwissenschaften, Technik) stärken.“
Dieses Missverhältnis zwischen vernachlässigter Inklusion und forcierter Exklusivität ist symptomatisch für den verfehlten Bildungsansatz der neuen Regierung. Anstatt die Basis für eine Vielzahl von Nachwuchsingenieuren zu verbreitern, indem frühkindliche Bildungsmöglichkeiten für alle ausgebaut werden, setzt die schwarz-gelbe Koalition vorrangig an der Spitze an. Auf diese Weise wird der deutsche Sonderweg der frühen Selektion im Schulsystem nicht verlassen, sondern perpetuiert.
Stattdessen wäre es zwingend notwendig, auf alle Schülerinnen und Schüler zu setzen; das gilt für hochbegabte ebenso wie für lernschwache. Denn der mangelhafte Umgang mit unterschiedlichen Begabungen und Fähigkeiten von Schülerinnen und Schülern ist ein strukturelles Problem des auf standardisierte Wissensvermittlung wie -abfrage ausgerichteten Schulsystems, das all jene Schüler aussortiert, die durchs Raster fallen.
Doch Schwarz-Gelb hält auch im Hochschulbereich konsequent an der Elitenförderung fest, statt auf die Breite zu setzen. Zwar wurde den bundesweiten Studienstiftungen erst kürzlich attestiert, dass sie eine überdurchschnittlich hohe Zahl von Kindern besserverdienender Eltern fördern, während der Anteil von Kindern aus bildungsfernen und einkommensarmen Schichten sogar noch unter ihrem Anteil an den Studierenden liegt. 8 Dennoch hält es Schwarz-Gelb für vordringlich, jene Klientel zusätzlich zu bedienen: Während viele der übrigen 98 Prozent Studierenden, die von keiner Stiftung gefördert werden, wegen der zu niedrig angesetzten Elternfreibeträge keinen Anspruch auf das staatliche Studiendarlehen BAföG haben oder nur einen Bruchteil des Höchstsatzes erhalten, ergießt sich über die Stipendiaten ungeachtet der elterlichen Finanzstärke ein kleiner Geldregen: So soll das völlig einkommensunabhängig vergebene monatliche Büchergeld von 150 Euro auf 300 Euro erhöht werden.
Und einige Studenten, die sich aufgrund elterlicher Zuwendungen gänzlich ihrem Studium widmen können und nicht zusätzlich mit einem Nebenjob den eigenen Lebensunterhalt verdienen müssen, können sich demnächst auf einen zusätzlichen Bonus freuen: Auf der Basis eines „nationalen Stipendienprogramms“ soll für weitere acht Prozent aller Studierenden ein Stipendium in Höhe von 300 Euro eingeführt werden, das hälftig von der Wirtschaft und dem Staat finanziert und „ausschließlich nach Begabung einkommensunabhängig vergeben“ wird. So könnte ein weiteres Mal die Chefarzttochter, die den staatlichen Zuschuss nicht wirklich benötigt, zu einem monatlichen Zubrot kommen, während der Sohn der Zahnarzthelferin weiterhin des Nachts kellnern geht. 9
Individuelle Wahlfreiheit statt Solidarität
Dieser sich wie ein roter Faden durch den Koalitionsvertrag ziehende Klientelismus zugunsten der Gutsituierten zeitigt seine gravierendsten Auswirkungen in der schwarz-gelben Gesundheitspolitik. Während Angela Merkel im Wahlkampf jeden Hinweis auf eine Abkehr vom solidarischen Gesundheitssystem zu vermeiden suchte, setzt der neue Gesundheitsminister Philipp Rösler nun prioritär auf „Eigenverantwortung“.
Auf diese Weise kommen auf alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in einer gesetzlichen Krankenkasse (GKV) versichert sind, höhere Gesundheitskosten zu. Für den Großteil dürften diese die verkündeten Steuerersparnisse auffressen, wenn nicht gar übersteigen: Bereits im nächsten Jahr werden trotz des zugesagten Steuerzuschusses an die Krankenkassen die Versicherten mit Zusatzbeiträgen zur Kasse gebeten werden, während die Arbeitgeberbeiträge ungeachtet möglicher Kostensteigerungen bei 7 Prozent gedeckelt bleiben. (Schon jetzt zahlen die Arbeitnehmer mehr, nämlich 7,9 Prozent. Zudem belasten die quartalsweise zu entrichtende Praxisgebühr in Höhe von zehn Euro sowie die Zuzahlungen für Medikamente einseitig die Arbeitnehmer.)
Langfristig will Schwarz-Gelb „das bestehende Ausgleichssystem […] in eine Ordnung mit mehr Beitragsautonomie, regionalen Differenzierungsmöglichkeiten und einkommensunabhängigen Arbeitnehmerbeiträgen, die sozial ausgeglichen werden“, überführen. Zwar vermeidet der Koalitionsvertrag den Begriff „Kopfpauschale“, doch nichts anderes ist gemeint: Jeder Bundesbürger, ob Putzmann oder Managerin, zahlt dann einen gleich hohen Pauschalbeitrag für die „Grundversorgung“. Zusätzliche Versorgungswünsche darf jeder darüber hinaus „selbst gestalten“, schließlich sollen die „individuellen Wahl- und Entscheidungsspielräume“ erweitert werden.
Und dafür müssen selbstverständlich auch die privaten Krankenkassen gestärkt werden. Ab 2010 sollen Gutverdiener ab 44 100 Euro Jahreseinkommen bereits wieder nach einem Jahr von der GKV in die PKV wechseln dürfen. Angesichts steigender Zusatzbeiträge werden davon viele Gebrauch machen und somit das Einnahmedefizit der GKV weiter vergrößern. Das Ziel der Regierung ist jedenfalls klar: Ein „freiheitliches Gesundheitswesen“ muss her, von einem solidarischen ist keine Rede mehr.
Prekäre Beschäftigung wird forciert
Es bleibt das Geheimnis der Koalition, wie sie den angekündigten Sozialausgleich im Gesundheitsbereich – von dem keiner weiß, was er beinhalten soll – über Steuern finanzieren will, während sich allerorten Schuldenberge türmen und die Einkommensteuer weiter gesenkt werden soll.
An jene Durchschnitts- und Geringverdiener, die schon jetzt keine oder kaum Einkommensteuer entrichten und deshalb auch nicht von den beschlossenen Entlastungen profitieren, hat die Koalition dabei offensichtlich keinen Gedanken verschwendet. Sie werden nun nicht nur von den drohenden Veränderungen im Gesundheitssystem kalt erwischt. Denn anstatt etwas gegen die sich massiv ausweitenden Dumpinglöhne und prekären Beschäftigungsverhältnisse zu unternehmen und dafür zu sorgen, dass der Slogan „Mehr Netto vom Brutto“ auch für jene Leistungsträger etwas bedeuten kann, die als Altenpfleger, Bäckerin oder Müllmann für ein reibungsloses Funktionieren der Gesellschaft sorgen und dennoch oft von ihrem Lohn nicht leben können, schickt sich die neue Regierung an, deren Situation noch zu verschlimmern.
So will Schwarz-Gelb die sozialversicherungsfreien Minijobs ausweiten. Im Gespräch ist eine Erhöhung von bislang 400 auf bis zu 600 Euro. Damit solle „die Brückenfunktion von Mini- und Midi-Jobs in voll sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse“ gestärkt werden. Der massive Abbau vormals sozialversicherungspflichtiger Arbeitsverhältnisse bei gleichzeitigem Anstieg der Minijobs in den letzten Jahren spricht dieser Idee allerdings Hohn. Zudem bedeutet diese Ausweitung weiter sinkende Einnahmen für die Sozialversicherungsträger und steigende Altersarmut in der Zukunft. Auch die vereinbarte Erhöhung der Zuverdienstgrenze für Hartz-IV-Empfänger wird zu einem Anstieg von Minijobs und einem weiteren Abbau sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze führen.
Zugleich wendet sich die Koalition gegen eine Ausweitung von Lohnuntergrenzen und will die bestehenden Mindestlöhne evaluieren. Anschließend solle entschieden werden, „ob die geltenden Mindestlohnuntergrenzen Bestand haben oder aufgehoben werden“.
Zudem sollen befristete Beschäftigungen ausgeweitet werden: Auch ohne Begründung darf ein vormals bereits befristet Beschäftigter wieder befristet eingestellt werden. Das bereits auf 18 Mrd. Euro prognostizierte Defizit der Bundesagentur für Arbeit im kommenden Jahr soll nicht etwa durch eine Anhebung des erst kürzlich extrem gesenkten – partätisch zu finanzierenden – Arbeitslosenversicherungsbeitrags abgefedert werden, sondern vielmehr sind auch hier Steuerzuschüsse eingeplant, über deren Herkunft die Koalition schweigt. Zudem kommen die Ausgaben auf den Prüfstand: So werden die Fördermaßnahmen für Arbeitslose wohl deutlich reduziert.
Hier gilt ab sofort: Wer arbeitslos geworden ist, soll sich um sein Problem gefälligst selber kümmern. Die noch jüngst bei Quelle oder Opel Beschäftigten haben jetzt schließlich genug Zeit, sich mit ihrem individuellen Versagen zu beschäftigen.
Kurzum: Wer hat, dem wird gegeben. Das ist das Motto der neuen Koalition. Darüber kann auch die beste Sozialcamouflage nicht hinwegtäuschen.