Man könnte meinen, dass vor einem Virus alle gleich sind. Bezüglich der Infektiosität von Coronaviren stimmt dies, im Hinblick auf das Infektionsrisiko allerdings nicht. So traf die Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2020 alle Menschen, aber keineswegs alle gleichermaßen. Je nach Arbeitsbedingungen, Wohnverhältnissen und Gesundheitszustand waren sie vielmehr ganz unterschiedlich betroffen. Wegen der niedrigen Lebenserwartung von Armen, die rund zehn Jahre geringer ist als die Lebenserwartung von Reichen, gilt selbst in einer wohlhabenden, wenn nicht reichen Gesellschaft wie der Bundesrepublik Deutschland die zynische Grundregel: Wer arm ist, muss früher sterben. Während der Coronapandemie galt: Wer arm ist, muss eher sterben. Denn das Mortalitätsrisiko von Arbeitslosen und Armen war deutlich höher als das von Reichen. Das als Sars-CoV-2 bekannte Coronavirus hat die Kluft zwischen Arm und Reich sowie die bestehenden Interessengegensätze deutlicher hervortreten lassen, während sie der Lockdown und die staatlichen Rettungspakete weiter zuspitzten.
Auswirkungen der Covid-19-Pandemie
Die von ökonomischen, sozialen und politischen Verwerfungen begleitete Covid-19-Pandemie hat das Phänomen der Ungleichheit, das ein Kardinalproblem der Bundesrepublik, wenn nicht der ganzen Menschheit ist, wie unter einem Brennglas sichtbar gemacht. Wie nie zuvor nach dem Zweiten Weltkrieg wurde erkennbar, dass trotz eines verhältnismäßig hohen Lebens- und Sozialstandards des Landes im Weltmaßstab sowie entgegen allen Beteuerungen, die Bundesrepublik sei eine klassenlose Gesellschaft mit gesicherter Wohlständigkeit aller Mitglieder, ein großer Teil der Bevölkerung nicht einmal für wenige Wochen ohne seine ungeschmälerten Regeleinkünfte auskommt.
Durch monatelange Kontaktverbote, Ausgangsbeschränkungen und Einrichtungsschließungen wurde die ohnehin brüchige Lebensgrundlage der ärmsten Menschen (Bettler*innen, Pfandsammler*innen und Verkäufer*innen von Straßenzeitungen) zerstört, weil fehlende Passant(inn)en und die Furcht der verbliebenen davor, sich zu infizieren, manchmal zum Totalausfall der Einnahmen führten, was stärkere Verelendungstendenzen in diesem Sozialmilieu nach sich zog. Die finanzielle Belastung von Transferleistungsbezieher*innen, Kleinstrentner*innen und Geflüchteten nahm durch die Schließung der meisten Lebensmitteltafeln weiter zu.
Mit den bakteriell ausgelösten Epidemien, die Deutschland im 19. Jahrhundert heimsuchten – Cholera, Tuberkulose und Typhus –, hatte die Covid-19-Erkrankung gemeinsam, die Immun- und Einkommensschwächsten am stärksten zu treffen. Der Düsseldorfer Medizinsoziologe Nico Dragano hat zusammen mit einigen Kolleg*innen untersucht, ob die Covid-19-Pandemie und die Infektionsschutzmaßnahmen die gesundheitlichen Ungleichheiten verschärfen. Ihre auf Daten der AOK Rheinland/Hamburg basierende Studie ergab einen Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Unterschieden (v.a. in Bezug auf das Einkommen, den Bildungsgrad sowie die berufliche Position) und der Häufigkeit von schweren Verläufen einer Coronainfektion. Gegenüber den erwerbstätigen Versicherten hatten Arbeitslosengeld-I-Bezieher*innen im Untersuchungszeitraum vom 1. Januar bis zum 4. Juni 2020 ein um 18 Prozent, Arbeitslosengeld-II-Bezieher*innen sogar ein um 84 Prozent erhöhtes Risiko für einen Covid-19-bedingten Krankenhausaufenthalt.
Sozial bedingte Vorerkrankungen wie Adipositas (Fettleibigkeit), Asthma, Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit), Rheuma oder COPD (Raucherlunge), katastrophale Arbeitsbedingungen (z.B. in der Fleischindustrie) sowie beengte und hygienisch bedenkliche Wohnverhältnisse erhöhten das Risiko für eine Infektion mit Sars-CoV-2 bzw. für einen schweren Covid-19-Krankheitsverlauf. Zu den Hauptleidtragenden gehörten Obdach- und Wohnungslose, aber auch andere Bewohner*innen von Gemeinschaftsunterkünften wie Gefangene, Geflüchtete und (süd)osteuropäische Werkvertragsarbeiter*innen der Subunternehmen deutscher Großschlachtereien bzw. Fleischfabriken, nichtdeutsche Saisonarbeiter*innen, Migrant*innen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, Menschen mit Behinderungen, Pflegebedürftige, Suchtkranke, Prostituierte, Erwerbslose, Geringverdiener*innen, Kleinstrentner*innen und Transferleistungsbezieher*innen (Bezieher*innen von Arbeitslosengeld I und II, Sozialgeld, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sowie Asylbewerberleistungen).
Die durch das Coronavirus bewirkte Zerstörung von Lieferketten und Vertriebsstrukturen, der Verlust von Absatzmärkten sowie die als Reaktion auf die Pandemie behördlich verordnete Schließung von Geschäften, Gaststätten, Hotels, Clubs, Kinos, Theatern und anderen Einrichtungen nach dem Infektionsschutzgesetz hatten erhebliche wirtschaftliche Einbußen für die dort Tätigen, aber auch eine Konkurswelle und Entlassungen im großen Stil zur Folge. Die mit Verzögerung einsetzende, als größte Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg geltende Krise warf nicht bloß ein Schlaglicht auf die hierzulande bestehende Ungleichheit, verschärfte sie in Teilbereichen vielmehr noch. Einerseits blieben Kurzarbeit für über sieben Millionen Beschäftigte, Insolvenzen kleinerer und mittlerer Unternehmen sowie massenhafte Entlassungen (z.B. in der Gastronomie, der Touristik und der Luftfahrtindustrie) nicht aus, andererseits realisierten Großkonzerne krisenresistenter Branchen (z.B. Lebensmittel-Discounter, Drogeriemärkte, Versandhandel, Lieferdienste, Digitalwirtschaft und Pharmaindustrie) in der Coronakrise sogar Extraprofite.
Die soziale Polarisierung verstärkt sich: Reiche sind die Gewinner*innen, Arme die Verlierer*innen
Zu den Hauptprofiteuren des Krisendesasters gehörten einige der profitabelsten Unternehmen mit den reichsten Chefs. So expandierte das Amazon-Imperium unmittelbar nach dem Beginn der Pandemie und suchte allein in den USA 100 000 zusätzliche Arbeitskräfte, um den Boom im Online-Versandhandel zu bewältigen. Im ersten Quartal 2020 stieg der Umsatz im Vergleich zum Vorjahresergebnis um 26 Prozent auf 75,5 Milliarden US-Dollar (68,9 Milliarden Euro), und Jeff Bezos, vorher schon reichster Mann der Welt, vergrößerte sein Vermögen aufgrund der Coronakrise weiter. Auf dem Höhepunkt der Pandemie war es im Vergleich zum Jahresbeginn 2020 laut dem Bloomberg Billionaires Index um 24 Milliarden Dollar auf 138,5 Milliarden Dollar (126,1 Milliarden Euro) gestiegen.
Viele kleine Einzelhändler*innen haben wegen der Schließung ihrer Läden und ausbleibender Kunden hingegen ihre Existenzgrundlage verloren. Wahrscheinlich hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich nicht zuletzt deshalb am Ende weiter vertieft. Bei einer vom DIW unter den SOEP-Haushalten durchgeführten Ergänzungsbefragung berichteten jedenfalls 20 Prozent der im Jahr 2019 erwerbstätigen Personen, dass ihr Einkommen aufgrund der Coronakrise gesunken sei: „Ein Verlust des Erwerbseinkommens wird zu einem Viertel etwas häufiger von den Erwerbstätigen im unteren bzw. oberen Terzil im Vergleich zum mittleren Terzil (ca. 16 Prozent) angegeben.“
Unter dem Druck der Coronakrise, die zu Einkommensverlusten durch Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit und Bankrotten geführt hat, kauften vermutlich mehr Familien bei Lebensmittel-Discountern ein, um Haushaltsgeld zu sparen, wodurch die Besitzer von Ladenketten wie Aldi Nord, Aldi Süd und Lidl, die ohnehin zu den vermögendsten Deutschen gehören, noch reicher geworden sein dürften. Schon vorher wurde das Privatvermögen von Dieter Schwarz, dem Eigentümer von Lidl und Kaufland, mit 41,5 Milliarden Euro (Stand: September 2019) veranschlagt. Infolge der Coronakrise sind wahrscheinlich auch mehr Girokonten von prekär Beschäftigten, Soloselbstständigen, Kurzarbeiter*innen und Kleinstunternehmer*innen ins Minus gerutscht, weshalb gerade die finanzschwächsten Kontoinhaber*innen hohe Dispo- und Überziehungszinsen zahlen mussten. Dadurch wurden jene Personen, denen die Banken oder Anteile daran gehören, noch reicher. Vergleichbares gilt für die Kassen- bzw. Liquiditätskredite überschuldeter Kommunen, die geringere Gewerbesteuereinnahmen, aber höhere Sozialausgaben als vor der Covid-19-Pandemie hatten. Daher hat die öffentliche Armut zugenommen, während der private Reichtum weniger Hochvermögender gestiegen ist.
Zwar brachen die Aktienkurse nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie in Deutschland wie an sämtlichen Börsen der Welt (vorübergehend) ein, dramatische Verluste erlitten aber vor allem Kleinaktionäre, die generell zu Panikreaktionen und überhasteten Verkäufen neigen. Großinvestoren dürften die Gunst der Stunde hingegen für Ergänzungskäufe zu relativ niedrigen Kursen genutzt und davon profitiert haben, dass der Kurstrend in Erwartung eines generösen staatlichen Konjunkturprogramms bald wieder nach oben zeigte. Zu den mutmaßlichen Krisengewinnlern gehört der Münchner Multimilliardär Hans Hermann Thiele, der im März 2020 bei der Lufthansa billig einstieg, seinen Aktienanteil auf dem Höhepunkt der Covid-19-Pandemie erhöhte und als neuer Hauptaktionär dem mit Staatsgeldern vor der Insolvenz bewahrten Unternehmen, den Betriebsräten sowie den Gewerkschaften von Piloten, Flugbegleiter*innen und Bodenpersonal massive Personaleinschnitte, Gehaltseinbußen, eine Kürzung der Betriebsrenten und einen Verzicht auf Sonderzahlungen diktieren konnte.
„Leistung“ als Vergabeprinzip: Unsummen für die Wirtschaft – Brosamen für die Armen?
Bund, Länder und Gemeinden haben in der Coronakrise nach kurzem Zögern fast über Nacht mehr als 1,5 Billionen Euro für direkte Finanzhilfen, Bürgschaften und Kredite mobilisiert. Letztere wurden über die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) abgewickelt und kamen in erster Linie großen Unternehmen zugute, während kleine und mittlere Unternehmen mit einmaligen Zuschüssen unterstützt wurden, die laufende Betriebskosten decken, aber nicht zur Bestreitung des Lebensunterhalts verwendet werden durften. Während zahlreiche Unternehmen, darunter auch solche mit einer robusten Kapitalausstattung, von der Bereitschaft des Staates zu einer hohen Neuverschuldung (Abschied von der Schwarzen Null und den Restriktionen der Schuldenbremse) profitierten, mussten sich die Finanzschwachen verglichen mit den Hilfsmaßnahmen für die Wirtschaft bescheiden. Da bei ihnen von den milliardenschweren Hilfspaketen und Rettungsschirmen für die Unternehmen kaum etwas ankam, stieg ihre Überschuldung während der historischen Ausnahmesituation.
Mit dem am 15. März 2020 in Kraft getretenen Gesetz zur befristeten krisenbedingten Verbesserung der Regelungen für das Kurzarbeitergeld ermächtigte das Parlament die Bundesregierung, bis zum 31. Dezember 2021 befristet per Rechtsverordnung festzulegen, dass fast die gesamten Lohnkosten von Unternehmen (einschließlich der Arbeitgeberbeiträge zur Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung) getragen wurden, wenn mindestens zehn Prozent der in einem Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer*innen zu mindestens zehn Prozent vom Entgeltausfall betroffen waren.
Zwar konnten fortan auch Leiharbeitnehmer*innen das Kurzarbeitergeld beziehen; dieses betrug aber höchstens 60 Prozent des pauschalierten Nettoentgelts für Kinderlose und 67 Prozent des pauschalierten Nettoentgelts, sofern Kinder im Haushalt lebten. Überstundenzuschläge, Einmalzahlungen (z.B. Gewinnbeteiligungen oder Jahresprämien) sowie steuer- und beitragsfreie Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit blieben bei der Berechnung unberücksichtigt, was im Falle der „Kurzarbeit Null“ nicht bloß für Geringverdiener*innen drastische Einbußen gegenüber ihrem früheren Lohn und gravierende Einschränkungen ihres gewohnten Lebensstandards mit sich brachte. Allerdings waren Beschäftigte aus finanziell bessergestellten Haushalten seltener von Kurzarbeit betroffen, wie das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit feststellte.
Selbst das in Windeseile durch Bundestag und Bundesrat gebrachte, am 28. März 2020 in Kraft getretene Erste Sozialschutz-Paket der CDU/CSU/SPD-Koalition wies eine verteilungspolitische Schieflage auf. Während der Arbeitslosengeld-II-Bezug für von der Coronakrise geschädigte Soloselbstständige erleichtert wurde, indem man die strenge Vermögensprüfung für sie vorübergehend aussetzte und ein halbes Jahr lang die Angemessenheit der Wohnung stillschweigend voraussetzte, erhielten langjährige Hartz-IV-Bezieher*innen selbst dann keinen Ernährungszuschlag, wenn ihre Kinder während der wochenlangen KiTa- und Schulschließungen zuhause verpflegt werden mussten, anstatt wie sonst kostenfrei die Gemeinschaftsverpflegung in der öffentlichen Betreuungseinrichtung zu nutzen.
Mit dem am 29. Mai 2020, teilweise aber auch rückwirkend zum 1. Januar desselben Jahres in Kraft getretenen Sozialschutz-Paket II wurde das Kurzarbeitergeld bis zum Jahresende befristet auf 70 bzw. 77 Prozent nach drei Monaten und auf 80 bzw. 87 Prozent nach sechs Monaten angehoben, sofern die Arbeitszeit um mindestens 50 Prozent reduziert war. Außerdem erweiterte der Gesetzgeber – bis zum Jahresende befristet – die Hinzuverdienstmöglichkeiten für Kurzarbeiter*innen. Sinnvoller wäre die Schaffung eines Mindestkurzarbeitergeldes gewesen, wie es den CDU-Sozialausschüssen vorschwebte, weil Geringverdiener*innen davon stärker profitiert hätten als Besserverdienende.
Unter der Überschrift „Corona-Folgen bekämpfen, Wohlstand sichern, Zukunftsfähigkeit stärken“ hat der Koalitionsausschuss von CDU, CSU und SPD am 2./3. Juni das Eckpunktepapier für ein Konjunktur-, Krisenbewältigungs- und Zukunftspaket verabschiedet, das nicht weniger als 57 Positionen umfasste. Obwohl das Kompromisspapier der Großen Koalition durchaus sinnvolle Vorschläge unterbreitete und auf die höchst problematische, von der Autolobby geforderte Kaufprämie für Kraftfahrzeuge mit einem Verbrennungsmotor verzichtete, war es wie alle früheren Covid-19-Hilfsprogramme des Staates nicht verteilungsgerecht. Überproportional profitieren dürften bei den vom Bundesfinanzministerium veranschlagten Ausgaben in Höhe von 130 Milliarden Euro die Wirtschaft, Unternehmen und Besserverdienende.
Je umsatzstärker (und vermutlich auch größer und kapitalkräftiger) ein Unternehmen ist, umso stärker profitiert es von der am 1. Juli 2020 in Kraft getretenen Mehrwertsteuersenkung. Passgenau sind die Hilfen für Unternehmen daher nicht. Bei der Ausweitung des steuerlichen Verlustrücktrags, der Einführung einer degressiven Abschreibung für Abnutzung (AfA) mit einem höheren Faktor und maximal 25 Prozent pro Jahr für bewegliche Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens 2020/21 und der unbefristeten „Modernisierung“ des Körperschaftsteuerrechts (Einführung eines Optionsmodells zur Körperschaftsteuer für Personengesellschaften) handelt es sich um drei ziemlich teure Steuergeschenke, die der Wirtschaftsflügel der Unionsparteien den Unternehmern schon lange zugedacht hatte.
Um eine Steigerung der gesetzlichen „Lohnnebenkosten“ – gemeint sind die Beiträge der Arbeitgeber zur Sozialversicherung – zu verhindern, hat die Große Koalition mit ihrer „Sozialgarantie 2021“ einer alten Forderung der Unternehmerverbände nachgegeben, die Sozialversicherungsbeiträge durch den Einsatz von Steuermitteln bei 40 Prozent vom Bruttolohn oder -gehalt zu deckeln. Arbeitnehmer*innen haben ein sehr viel weniger ausgeprägtes Interesse an niedrigen Sozialversicherungsbeiträgen als die Arbeitgeber, weil dadurch zwar ihr verfügbares Monatseinkommen steigt, das Leistungsniveau der Gesetzlichen Krankenversicherung, der Arbeitslosenversicherung, der Gesetzlichen Rentenversicherung und der Sozialen Pflegeversicherung aber tendenziell sinkt
Verlängert wurde der erleichterte Zugang in die Grundsicherung für Arbeitsuchende (Arbeitslosengeld II), welcher Soloselbstständigen und Kleinstunternehmer*innen zugutekommt, deren Existenz bedroht war, die aber ein das Schonvermögen überschreitendes Vermögen und/oder eine teure Mietwohnung haben. Transferleistungsbezieher*innen, die schon länger Arbeitslosengeld, Sozialgeld, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung oder Asylbewerberleistungen erhielten, hatten davon nichts.
Zwar wurden Familien und Kinder im Konjunktur- und Krisenbewältigungspaket der Großen Koalition finanziell durchaus bedacht, Bildungseinrichtungen wie die Schulen und Kindertagesstätten kamen allerdings eher zu kurz. Sehr viel großzügiger war das Zukunftspaket über 50 Milliarden Euro, in dem mit der Technologieförderung jene Staatsausgaben dominierten, die Großunternehmen der Automobil-, Luftfahrt-, Computer-, Telekommunikations- und Energieindustrie sowie anwendungsorientierten und wirtschaftsnahen Forschungseinrichtungen zugute kommen. Auch für die Kommunen wurde – verglichen damit – wenig getan. Zwar übernimmt der Bund einen höheren Anteil der Unterkunftskosten bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende, stockt die Mittel für den Kapazitätsausbau der öffentlichen Kinderbetreuung ebenso auf wie das Investitionsprogramm für Ganztagsschulen/-betreuung und kompensiert aktuelle krisenbedingte Ausfälle bei den Gewerbesteuereinnahmen. Nicht durchsetzen konnte die SPD jedoch ihre Forderung nach Übernahme der kommunalen Altschulden.
Wenn die Regierungspolitik einem Vergabeprinzip folgt, ist es die „Leistungsgerechtigkeit“, bei der es um den ökonomischen Erfolg einer Personengruppe geht, die Hilfe braucht: Gewinneinbußen vor der Covid-19-Pandemie rentabler Unternehmen wollte die Große Koalition mittels finanzieller Soforthilfen ausgleichen und Lohn- bzw. Gehaltseinbußen sozialversicherungspflichtig Beschäftigter mittels Kurzarbeitergeld abmildern. Transferleistungsempfänger*innen hatten durch den Lockdown hingegen scheinbar nichts verloren und daher auch wenig zu erwarten. Stattdessen hätte die Bedarfsgerechtigkeit als Ziel von Hilfsmaßnahmen im Mittelpunkt aller Bemühungen der politisch Verantwortlichen stehen und das Motto lauten sollen: Wer wenig hat, muss besonders viel, und wer viel hat, muss entsprechend wenig Unterstützung seitens des Sozialstaates bekommen.
Covid-19 als Bewährungsprobe für den Wohlfahrtsstaat
Bevor sich die medizinischen, wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen der Covid-19-Pandemie genau absehen ließen, war bereits klar, dass sie den Wohlfahrtsstaat auf die härteste Bewährungsprobe seit der Vereinigung, vielleicht seit dem Zweiten Weltkrieg stellen würde. Ohne den Lockdown wäre die Zahl der schwer Erkrankten sehr viel höher ausgefallen und das Gesundheitssystem der Bundesrepublik ebenso wie das anderer Länder in Kürze überfordert gewesen. Damit bestätigte sich, was den politisch Verantwortlichen schon zu Beginn jener Reformen, die sie im Zuge der rot-grünen „Agenda 2010“ kurz nach der Jahrtausendwende umgesetzt haben, bewusst war oder hätte bewusst sein können: Ein teilprivatisiertes, gewinnorientiertes Sozial- und Gesundheitssystem garantiert keine gute medizinische Behandlung der Kranken und in Krisensituationen wie einer Pandemie auch keine Versorgungssicherheit für die gesamte Bevölkerung.
Die durch das Coronavirus ausgelöste Wirtschaftskrise verweist nicht zuletzt auf die Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Gesellschaftssystems. Der Wiener Politikwissenschaftler Ulrich Brand übernimmt von Naomi Klein den Begriff „Corona-Kapitalismus“, um damit die „Krisenbearbeitung im Sinne der Wohlhabenden und der naturzerstörerischen Wirtschaftsbranchen“ zu charakterisieren: „Durch die neuerlichen Schock-Politiken kommt es wie in früheren Krisen zur dauerhaften Stärkung der ohnehin Mächtigen, die keine Rücksicht auf Gesellschaft und Natur nehmen.“ (Brand 2020, 8) Schon aus diesem Grund darf die Coronakrise nicht losgelöst von den sozioökonomischen Rahmenbedingungen untersucht werden.
Für den Fall, dass die Pandemie, der Lockdown und die coronabedingte Rezession – wie oft prognostiziert – tiefe Spuren im Kollektivgedächtnis hinterlassen, müssten sie eine nachhaltige öffentliche Debatte über die sozioökonomische Ungleichheit und Möglichkeiten ihrer Reduktion auslösen, zumal sich das Problem im Gefolge dieser Ereignisse noch verschärfte. Wenn das Infektions-, Krankheits- und Sterblichkeitsrisiko in und nach der Covid-19-Pandemie nicht mehr zentral von den jeweiligen Ressourcen abhängen soll, muss das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem grundlegend verändert werden. Andernfalls manifestieren sich die sozioökonomisch bedingten Ungleichheitsstrukturen weiterhin auch im Bereich der Gesundheit und des persönlichen Wohlbefindens.
Erschienen in LuXemburg Online, August 2020.
Mehr zum Thema im Online-Dossier: "Online-Schwerpunkt: Schutzschirm für die Menschen – Kämpfe um den Sozialstaat in der Pandemie "