Eine sozialpolitische Bilanz der großen Koalition
Damit konnte die große Koalition an eine alte Tradition anknüpfen: Seit der Weltwirtschaftskrise 1974/75, als die sozial-liberale Koalition unter Helmut Schmidt damit begann, verabreicht jede Regierung dem Land im Grunde dieselbe Medizin: Entfesselung der Marktkräfte, Entlastungen des Kapitals und weitere Belastungen der sozial Benachteiligten. Da sie nie wirkte, erhöhte man regelmäßig die Dosierung, ohne zu erkennen, dass in Wahrheit die Medizin selbst der Krankheitsauslöser ist. Unter der Kanzlerschaft von Helmut Kohl (1982 bis 1998) und Gerhard Schröder (1998 bis 2005) wurde der Sozialstaat immer stärker „um-“ bzw. abgebaut, bis er kaum noch in der Lage war, die zunehmenden sozialen Probleme wie Massenarbeitslosigkeit und -armut zu bewältigen.
Dieser Befund gilt auch für die Sozialpolitik der großen Koalition. Das zeigte sich bereits bei ihren „Korrekturen“ an den Hartz-Gesetzen. Das nach dem früheren VW-Manager Peter Hartz benannte Gesetzespaket stellt bis heute die mit Abstand fragwürdigste wirtschafts- und sozialpolitische Erblast der rot-grünen Bundesregierung dar. Besonders das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, oder kurz: Hartz IV, ist zum Symbol für einen die Armut fördernden „Um-“ bzw. Abbau des Sozialstaates geworden. Die in zwei Änderungsgesetzen des Sozialgesetzbuches II (SGB II) und im Hartz-IV-Fortentwicklungsgesetz, das ursprünglich „Optimierungsgesetz“ heißen sollte, enthaltenen „Korrekturen“ an der rot-grünen Arbeitsmarktreform liefen trotz einzelner Verbesserungen für die Langzeitarbeitslosen (Angleichung der Regelsätze in Ost- und Westdeutschland) in erster Linie auf eine Kürzung des Leistungsumfangs sowie eine Verschärfung der Kontrollmaßnahmen hinaus.
Kürzungen von Leistungen, Ausweitungen von Kontrollen
Mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung des SGB II und anderer Gesetze wurden Heranwachsende und junge Erwachsene, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, zur Bedarfsgemeinschaft ihrer Eltern gerechnet; für sie wurde der Regelsatzbedarf vom 1. April 2006 an auf 80 Prozent reduziert. Wenn die jungen Menschen einen eigenen Hausstand gründen wollen, müssen sie nunmehr vorher die Zustimmung des kommunalen Leistungsträgers einholen. Ziehen sie ohne dessen Einwilligung bei ihren Eltern aus, erhalten sie bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres gleichfalls nur 80 Prozent der Regelleistung. Heranwachsende und junge Erwachsene wieder in der Abhängigkeit von ihren Eltern zu belassen und ihnen per Mittelentzug die Möglichkeit der Gründung eines eigenen Hausstandes zu nehmen, ist einer so wohlhabenden und hoch individualisierten Gesellschaft, die im Zeichen der Globalisierung berufliche Flexibilität und geographische Mobilität von ihren Mitgliedern verlangt, unwürdig.
Mit dem Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitssuchende wurde die Beweislast bei eheähnlichen Gemeinschaften umgekehrt: Musste vorher der Leistungsträger nachweisen, dass eine solche bestand, wenn der Antragsteller und eine weitere Person länger als zwölf Monate in einer Wohnung zusammenlebten, muss dieser seit dem 1. August 2006 im Zweifelsfall den Verdacht widerlegen, dass es sich bei ihm und dem Mitbewohner bzw. der Mitbewohnerin um eine Bedarfsgemeinschaft handelt. Flächendeckend prüft ein Außendienst, ob die Anspruchsvoraussetzungen gegeben sind, um Missbrauch vorzubeugen oder zu begegnen. Zum selben Zweck kann die Agentur für Arbeit nunmehr Daten aus dem Kraftfahrzeugbundesamt, dem Melderegister und dem Ausländerzentralregister abrufen.
Gleichzeitig wurde die Höhe der Vermögensfreibeträge verändert: Während der Freibetrag für die Altersvorsorge von 200 auf 250 Euro pro Lebensjahr stieg, sank der Grundfreibetrag von 200 auf 150 Euro pro Lebensjahr bei entsprechender Anpassung der Höchstgrenzen, woraus Einsparungen für den Bund resultieren dürften, weil nur relativ geringe Sparsummen einer Zweckbindung zugunsten der Alterssicherung unterliegen. Erstantragstellern soll jetzt sofort ein Job oder eine Fortbildung angeboten werden, um ihre Arbeitswilligkeit zu testen. Dabei stand die Abschreckungswirkung solcher Maßnahmen und nicht etwa das Bemühen im Vordergrund, den Betreffenden eine sinnvolle Arbeitsstelle zu verschaffen. Lehnt ein Antragsteller das Angebot ab oder verletzt er binnen eines Jahres drei Mal seine Mitwirkungspflicht, droht ihm seit dem 1. Januar 2007 ein vollständiger Leistungsentzug. Bei Personen unter 25 Jahren erstreckt sich diese Sanktion im Fall einer wiederholten Pflichtverletzung sogar auf die Kosten von Unterkunft und Heizung. Während sich dadurch die Jugendarmut erhöht haben dürfte, trägt eine andere Neuregelung zur Vermehrung der materiellen Not von länger Erwerbslosen im Alter bei: Am 1. Januar 2007 sank der für Empfänger von Arbeitslosengeld II (ALG II) abzuführende Rentenversicherungsbeitrag von 78 auf 40 Euro pro Monat, was pro Jahr Arbeitslosigkeit eine bloß noch um 2,19 Euro höhere Altersrente ergibt.
Sowohl zwischen den als auch innerhalb der Regierungsparteien CDU, CSU und SPD waren einzelne Details der rot-grünen Arbeitsmarktreform umstritten. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) trat als Kritiker von Hartz IV auf und machte sich beispielsweise für eine längere Zahlung des ALG I an langjährig Versicherte stark. Die rot-grüne Koalition hatte dessen Höchstbezugsdauer im Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt auf 18 Monate für über 55jährige herabgesetzt. Zuvor bekamen Erwerbslose, die mindestens 64 Monate lang pflichtversichert waren und das 57. Lebensjahr vollendet hatten, bis zu 32 Monate lang Arbeitslosengeld. Als der damalige SPD-Vorsitzende Kurt Beck auf dem Hamburger Parteitag im Oktober 2007 gegen Franz Müntefering einen ähnlichen Beschluss zur Korrektur dieser Verschlechterung durchsetzte, war der Weg dafür frei: Bei einem Versicherungspflichtverhältnis von mindestens 48 Monaten Dauer innerhalb der letzten fünf Jahre und Vollendung des 58. Lebensjahres verlängerte sich die Höchstbezugszeit des Arbeitslosengeldes am 1. Januar 2008 wieder auf 24 Monate.
Um das durch die Hartz-Gesetze erleichterte Lohndumping einzudämmen, wurde der Geltungsbereich des bisher vor allem in der Bauindustrie wirksamen Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf die Gebäudereinigungsbranche ausgedehnt. Dagegen lehnten CDU und CSU die Einbeziehung des perspektivisch weitaus wichtigeren Zeitarbeitssektors ab. Nach zähem Ringen mit der Union, privaten Postdienstleistungsunternehen wie TNT oder PIN AG und daran beteiligten Zeitungsverlegern wie der Axel Springer AG gelang es der SPD im Dezember 2007 zwar, einen Mindestlohn für Briefzusteller durchzusetzen. Der von Bundesarbeitsminister Müntefering und seinem Amtsnachfolger Olaf Scholz eingeschlagene Weg, nach entsprechenden Novellierungen über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz und das früher nie angewendete Mindestarbeitsbedingungsgesetz für immer mehr Branchen sukzessive Lohnuntergrenzen festzulegen, ist aufgrund der geringen Nachfrage auf der Arbeitgeberseite jedoch als gescheitert anzusehen. Bis zum Ende der von CDU, CSU und SPD vereinbarten Meldefrist (31. März 2008) hatten nur der Zeit- bzw. Leiharbeitssektor, das Wach- und Sicherheitsgewerbe sowie einige Nischenbranchen, aber nicht – wie von der SPD erhofft – Branchen wie der Einzelhandel, die Gastronomie und die Landwirtschaft ihr Interesse an der Aufnahme ins Entsendegesetz bekundet.
Ob das novellierte Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen ausreicht, Lohnuntergrenzen auch in Wirtschaftszweigen einzuziehen, wo (flächendeckende) Tarifverträge fehlen, ist mehr als zweifelhaft. Die ausgesprochen wichtige Zeit- bzw. Leiharbeit wurde, trotz des von der Branche selbst geäußerten Interesses, letztendlich nicht in das Entsendegesetz aufgenommen, weil sich die Union sogar weigerte, den niedrigsten, von einer „christlichen Gewerkschaft“ ausgehandelten Tariflohn der Branche für allgemein verbindlich zu erklären. Stattdessen soll eine Lohnuntergrenze für Leiharbeiter im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz verhindern, dass deren Löhne zu stark von den Tariflöhnen der Stammbelegschaften abweichen. Für diesen Kompromiss mit der Union verzichtete die SPD schließlich bei den Verhandlungen über das „Konjunkturpaket II“ auf eine zunächst von ihr geforderte Erhöhung der „Reichensteuer“, die eigentlich mit zu dessen Finanzierung beitragen sollte.
Reichtum per Gesetz
Kurz vor dem Jahreswechsel 2008/2009 verabschiedete die große Koalition allerdings nach jahrelangem Tauziehen eine Erbschaftsteuerreform (wobei Bundespräsident Horst Köhler das entsprechende Gesetz buchstäblich in letzter Minute unterzeichnete). Diese Reform stellt einen verteilungspolitischen Skandal dar, weil sie einseitig besonders Wohlhabende, Reiche und Superreiche begünstigt. Nunmehr wird Kindern und Witwen von Familienunternehmern die betriebliche Erbschaftsteuer vollständig erlassen, sofern sie die Firma zehn Jahre fortführen (bzw. zu 85 Prozent bei sieben Jahren) und die Lohnsumme insgesamt mindestens zehn (bzw. 6,5) Mal so hoch ist wie im letzten Tätigkeitsjahr des Erblassers. Selbst größere Entlassungswellen sind aufgrund allgemeiner Preissteigerungsraten und darauf basierender Tariflohnerhöhungen möglich, ohne dass der Erbe von Betriebsvermögen sein Privileg gegenüber den Erben anderer Sachwerte und von Geldvermögen verliert.
Man begründet dieses Steuergeschenk mit der Gefahr, dass die Tochter eines Handwerksmeisters den vom Vater geerbten Betrieb aufgrund finanzieller Überforderung schließen und dessen Mitarbeiter entlassen muss. Dies dürfte jedoch in Wahrheit kaum vorgekommen sein, weil schon lange ein Freibetrag in Höhe von 225 000 Euro existierte, ein zusätzlicher Bewertungsabschlag von 35 Prozent des Betriebsvermögens die Steuerschuld ohnehin reduziert hatte und das Finanzamt diese bisher zehn Jahre lang stunden konnte, um Härten im Einzelfall abzufedern. Ehepartner, die eine selbst genutzte Luxusimmobilie erben und sie zehn weitere Jahre bewohnen, bleiben künftig von der Erbschaftsteuer ganz verschont, genauso wie Kinder, sofern die Wohnfläche 200 qm nicht überschreitet und sie für zehn Jahre dort ihren Hauptwohnsitz einrichten.
Damit wird die in der Bundesrepublik ohnehin überaus deutlich feststellbare Spaltung in Arm und Reich nicht bloß zementiert, sondern weiter verschärft. In kaum einem westlichen Industriestaat ist die Erbschaftsteuer so niedrig und das Finanzaufkommen daraus so gering wie hierzulande (rund vier Mrd. Euro pro Jahr). Auch im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit verspricht das Steuergeschenk der großen Koalition keinen Erfolg, denn wieso sollten Familienunternehmer fähiger sein als potentielle Käufer oder von diesen beauftragte Manager? Mitnahmeeffekte sind dagegen kaum zu vermeiden. Konsequenter war da übrigens der frühere US-Präsident George W. Bush, der die Erbschaftsteuer in seinem Land ganz abschaffen wollte. Selbst ein Neoliberaler hat aber Schwierigkeiten, diesen Schritt zu rechtfertigen: Zwar soll sich Leistung (wieder) lohnen; ist es jedoch tatsächlich eine Leistung, der Sohn bzw. die Tochter eines Multimillionärs oder Milliardärs zu sein?
War die schwarz-rote Koalition schon mit dem im Oktober 2008 geschnürten Paket zur Rettung maroder Banken gegenüber Kapitaleignern, Brokern und Börsianern ausgesprochen großzügig, so ergießt sich ausgerechnet über den reichsten Familien unseres Landes künftig ein weiterer Geldsegen. Dividenden, die bisher dem sogenannten Halbeinkünfteverfahren unterlagen, müssen ab 1. Januar 2009 voll versteuert werden und Kursgewinne aus Aktien- und Fondsanteilskäufen erstmals ohne Rücksicht auf eine (zuletzt zwölf Monate betragende) Spekulationsfrist. Beide unterliegen jedoch nunmehr genauso wie Zinsen einer Abgeltungssteuer, die unabhängig vom persönlichen Einkommensteuersatz des Bürgers pauschal 25 Prozent beträgt und die für Arbeitnehmer gültige Steuerprogression somit unterläuft. Davon profitieren insbesondere jene sehr wohlhabenden Einkommensbezieher, die den Spitzensteuersatz in Höhe von 42 bzw. 45 (sogenannte Reichensteuer) entrichten müssen, während sich Kleinaktionäre, die mittels entsprechender Wertpapiere privat für das Alter vorsorgen wollen, aufgrund ihres niedrigeren Steuersatzes eher schlechter als bislang stehen.
Während die große Koalition deutschen Unternehmerdynastien wie Burda, Oetker oder Quandt/Klatten (BMW) Steuergeschenke in Milliardenhöhe machte, bat sie Geringverdiener samt ihres Nachwuchses stärker als zuvor zur Kasse: Die Anhebung der Mehrwert- und Versicherungssteuer von 16 auf 19 Prozent zum 1. Januar 2007 traf besonders jene Familien hart, die praktisch ihr gesamtes Einkommen in den Konsum stecken (müssen). Selbst angesichts der Weltwirtschaftskrise war Angela Merkel nicht bereit, die Mehrwertsteuer – dem Beispiel der britischen Regierung folgend – zu senken, um auf diese Weise die Binnenwirtschaft anzukurbeln.
Familienpolitik nach dem Matthäus-Prinzip
Gleich zwei (weitere) Beispiele für die Geltung des Matthäus-Prinzips bot die Familienpolitik der großen Koalition, nämlich mit der besseren steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten und dem neu eingeführten Elterngeld. Während sozial benachteiligte Familien, die aufgrund ihres fehlenden oder zu geringen Einkommens keine Steuern zahlen, gar nicht erst in den Genuss der ersten, bezeichnenderweise im Gesetz zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung enthaltenen Maßnahme kommen, profitieren Besserverdienende, die sich eine Tagesmutter oder Kinderfrau leisten und zwei Drittel der Aufwendungen hierfür bis zu 4000 Euro steuerlich absetzen können, überdurchschnittlich davon.
Das zum 1. Januar 2007 an die Stelle des Erziehungsgeldes getretene Elterngeld ist ein sozialpolitisches Paradox, weil man damit jene Anspruchsberechtigten am meisten subventioniert, die es am wenigsten nötig haben. Obwohl es nicht – wie von der CSU zunächst verlangt – auf die Sozialhilfe bzw. das Arbeitslosengeld II angerechnet wird, haben Transferleistungsempfänger (darunter viele Frauen), die Kinder erziehen, vom Elterngeld ausschließlich Nachteile. Zuvor erhielten Sozialhilfebezieher, Arbeitslose und Studierende das Erziehungsgeld in Höhe von 300 Euro pro Monat zwei Jahre (oder als „Budget“ in Höhe von 450 Euro ein Jahr) lang; Elterngeld gibt es dagegen bloß für ein Jahr und sein Sockelbetrag, mit dem sie auskommen müssen, liegt gleichfalls bei 300 Euro (oder bei 150 Euro, wenn er zwei Jahre lang gezahlt wird). Erwerbstätige Paare erhalten im Falle der Teilung von Erziehungsarbeit unter bestimmten Voraussetzungen zwei (Partner-)Monate zusätzlich; im Unterschied zum Erziehungsgeld wird ihnen das Elterngeld als Lohnersatz gezahlt und erst bei 1800 Euro pro Monat gedeckelt. Mithin erhalten Gutbetuchte auf Kosten von Schlechtergestellten mehr (Eltern-)Geld, das hoch qualifizierte, gut verdienende Frauen motivieren soll, (häufiger) ein Kind zu bekommen und anschließend möglichst schnell wieder in den Beruf zurückzukehren.
Weniger großzügig zeigten sich CDU, CSU und SPD gegenüber den Armen: Als die Koalition rechtzeitig vor dem Jahreswechsel beschloss, ab dem 1. Januar 2009 das Kindergeld für das erste und zweite Kind um 10 Euro und ab dem dritten Kind um 16 Euro pro Monat zu erhöhen, einigte man sich auf Initiative der SPD gleichzeitig darauf, für die Kinder von Hartz-IV-Beziehern, die nicht in den Genuss des höheren Kindergeldes kommen, weil es voll auf ihre Transferleistung angerechnet wird, ein „Schulbedarfspaket“ in Höhe von 100 Euro pro Schuljahr zu schnüren. Es sollte nach dem zum Jahresbeginn 2009 in Kraft getretenen Familienleistungsgesetz allerdings nur bis zur 10. Klasse gewährt werden. CDU und CSU hatten auf dieser Begrenzung bestanden, weil die SPD ihrem Wunsch nach Steuerprivilegien für Eltern, deren Kinder auf Privatschulen gehen, nicht entsprach. Die öffentliche Kritik an der beschlossenen Regelung blieb nicht aus, schien es doch geradezu so, als wollte die große Koalition damit unterstreichen, dass Kinder aus sozial benachteiligten Familien kein Abitur machen sollen, oder dokumentieren, dass Gymnasiasten der höheren Klassenstufen ohnehin aus Elternhäusern kommen, die keiner staatlichen Zuwendung bedürfen. Auf einer Sitzung des Koalitionsausschusses am 4. und 5. März 2009 verständigten sich die Regierungsparteien schließlich doch darauf, den Gesetzestext an diesem Punkt nachzubessern und auch Oberstufenschüler und Vollzeit-Berufsschüler sowie die Kinder von Geringverdienern in den Genuss des „Schulbedarfspaketes“ kommen zu lassen, das jedoch den realen Bedarf gar nicht deckt.
Schwarz-rote Rentenpolitik: Altersarmut vorprogrammiert
Besonders widersprüchlich fiel die Regierungspolitik von CDU, CSU und SPD im Bereich der Alterssicherung aus. Gleich zu Beginn machte die große Koalition deutlich, dass mit Rentenerhöhungen vorläufig nicht zu rechnen sei, sondern in den nächsten Jahren mehrere „Nullrunden“ anstünden. Rentenkürzungen schloss der Koalitionsvertrag zwar für die ganze Legislaturperiode aus, er sah aber zwecks Gewährleistung der Beitragssatzstabilität die Möglichkeit, „nicht realisierte Dämpfungen von Rentenanpassungen nachzuholen“, sowie die „schrittweise, langfristige Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters“ vor. Während mit dem „Nachholfaktor“ erreicht werden soll, dass Kürzungen, auf die zunächst verzichtet wurde, in Erhöhungsphasen letztlich doch noch – weniger spektakulär – wirksam werden, wollten CDU, CSU und SPD die Lebensarbeitszeit unter Hinweis auf den demographischen Wandel verlängern und 2007 die gesetzliche Grundlage für eine 2012 beginnende und für den ersten Jahrgang bis spätestens 2035 abgeschlossene Anhebung der Regelaltersgrenze von 65 auf 67 Jahre schaffen.
Völlig unerwartet preschte der damalige Arbeits- und Sozialminister Franz Müntefering im Januar 2006 mit der auch seine eigene Partei überraschenden und viele Genossen, die sich gerade in Landtagswahlkämpfen befanden, verärgernden Idee vor, das gesetzliche Renteneintrittsalter schneller anzuheben, als es die sogenannte Rürup-Kommission empfohlen und der Koalitionsvertrag festgeschrieben hatte: Nach dem am 1. Februar 2006 auf Drängen des Vizekanzlers vom Bundeskabinett gefassten Beschluss erhöht sich das Regelrentenalter im Jahr 2012 für den Geburtsjahrgang 1947 um einen und für Folgejahrgänge jedes Jahr um einen weiteren Monat, bis der Jahrgang 1958 im Alter von 66 eine abschlagsfreie Rente ab 2023 bezieht; für die Folgejahrgänge beschleunigt sich die Anhebung der Altersgrenze um jeweils zwei Monate pro Jahr, bis der Jahrgang 1964 bereits 2029 erst mit 67 in Rente gehen kann. Angesichts der Tatsache, dass die meisten deutschen Unternehmen gar keine Arbeitnehmer über 50 beschäftigen, führt diese „Reform“ zu weiteren Rentenkürzungen, zwingt sie doch noch mehr Beschäftigte, vor Erreichen der Regelaltersgrenze – und das heißt: mit entsprechenden Abschlägen – in den Ruhestand zu gehen.
Wer von den Betroffenen eine sogenannte Riester-Rente abgeschlossen hat, kann darauf nicht zurückgreifen, weil sie auf die Grundsicherung im Alter voll angerechnet wird. Da es weder genügend Stellen für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer noch Maßnahmen der Gesundheitsförderung und der beruflichen Weiterbildung gibt, die eine Annäherung des faktischen Renteneintrittsalters an die bisherige Regelaltersgrenze von 65 erlauben würden, bedeutet die Rente mit 67 deren Kürzung: „Die Brücken zwischen Erwerbsaustritt und Renteneintritt werden, gerade auch zu Lasten der Arbeitslosenversicherung, wieder länger. Hierdurch und in Verbindung mit den Hartz-Gesetzen wird eine Rückkehr der weitgehend überwunden geglaubten Altersarmut sehr wahrscheinlich.“
Eine Schlüsselgröße für die künftige Rentenhöhe ist die Bruttolohnsumme, nach der sich die Arbeitgeberbeiträge zur Gesetzlichen Rentenversicherung richten. Rentenexperte Winfried Schmähl fürchtet, dass die Altersrenten weiter zurückbleiben werden und nennt in diesem Zusammenhang den Beschluss der großen Koalition, die abgabenfreie Entgeltumwandlung als Dauerregelung beizubehalten. Die rot-grüne Bundesregierung hatte den Versicherten bis zum Jahr 2008 befristet das Recht eingeräumt, Teile ihres Lohns in – ausschließlich von den Beschäftigten finanzierte – Ansprüche auf betriebliche Altersrenten umzuwandeln, ohne dass für diese Lohnanteile Steuern und Sozialabgaben anfielen. Davon profitieren die Arbeitgeber, während die Einnahmenbasis der Rentenversicherungsträger unterminiert und der Leistungsanspruch aller Versicherten reduziert wird: „Nicht nur, dass für diese Entgeltbestandteile keine GRV-Ansprüche erworben werden, ein Anstieg der Entgeltumwandlung mindert zudem auch die Entwicklung der für die Rentenanpassung maßgeblichen Entgelte und reduziert damit auch den Rentenanpassungssatz (sofern es überhaupt eine Anpassung gibt). Dies trifft alle Versicherten, gegenwärtige und künftige Rentner, unabhängig davon, ob sie die Entgeltumwandlung nutzen konnten oder nicht.“
Nach dem Auslaufen der sogenannten 58er-Regelung, die dafür sorgte, dass ältere Langzeitarbeitslose dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen mussten, um Transferleistungen beziehen zu können, werden die Betroffenen mit 63 Jahren zwangsverrentet, was ihre dürftigen Rentenansprüche weiter verringert. Absehbar ist, „dass der Anteil der Grundsicherungs-Rentner und damit das Problem der Altersarmut in den nächsten beiden Jahrzehnten massiv zunehmen wird.“
Zuletzt war die Koalition allerdings um Schadensbegrenzung im Hinblick auf die Folgen ihrer eigenen Rentenpolitik bemüht: Durch die Aussetzung des sogenannten Riester-Faktors für zwei Jahre wurde erreicht, dass die Renten am 1. Juli 2008 stärker als geplant und am 1. Juli 2009 (weniger als drei Monate vor der Bundestagswahl) so stark wie schon lange nicht mehr stiegen. Kurz vor dem Ende der Legislaturperiode verabschiedete man auf Betreiben von Arbeits- und Sozialminister Scholz eine sogenannte Rentenschutzklausel, die im Falle sinkender Bruttolöhne (beispielsweise wegen starker Inanspruchnahme von Kurzarbeitergeld, dessen Höchstbezugsdauer die Koalition vorher auf 24 Monate verlängert hatte) zumindest eine nominale Kürzung der Altersrenten ausschließen soll, denn Preiserhöhungen führen mittelfristig ohnehin zu einem spürbaren Kaufkraftverlust. Zwei namhafte Koalitionspolitiker, Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) und Wirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), kritisierten die von ihnen mit beschlossene Rentengarantie unmittelbar nach deren gesetzlicher Verankerung als übermäßige Belastung nachwachsender Generationen, obwohl die Kürzung der Altersrenten zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt würde.
Die nächste Bundesregierung wird – unabhängig davon, welche Parteien sie bilden – wahrscheinlich der Versuchung erliegen, weitere Kürzungen im Sozialbereich vorzunehmen, und zwar vorzugsweise dort, wo die „Lobbymacht“ der Betroffenen gering ist. Wenn nicht alles täuscht, stehen wir am Vorabend einer „Agenda 2020“, die den Bismarckschen Sozial(versicherungs)staat zunehmend in einen bloßen Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat verwandelt. Die staatliche Unterstützung wird sich noch stärker auf die „wirklich Bedürftigen“ konzentrieren, auf die Gewährleistung des Existenzminimums beschränken und auf eine „Gegenleistung“ ihrer Nutznießer dringen. Dass sich der Sozialstaat zunehmend darauf beschränkt, das bloße Überleben seiner Bürgerinnen und Bürger zu sichern, dürfte allerdings weder im Sinne des soeben noch gefeierten Grundgesetzes noch in einer so wohlhabenden Gesellschaft wie unserer ethisch verantwortbar sein.