Die Entdeckung der Einsamkeit
Auch wenn ich dem „Organizing“ kritisch gegenüberstehe, also der „strategischen Erschließung“ von Gewerkschaftsmitgliedern durch modernes Direkt-Marketing, so war der Begründer dieser sozial-psychologischen Aktivierungstechnik doch irgendwie eine coole Socke. Möglicherweise konnte er nichts dafür.
Saul Alinsky sagte 1972, kurz vor seinem Tod, auf die Frage, warum er in den 1930er Jahren sein Soziologie-Studium geschmissen habe: „Die Uni Chicago investierte 100.000 $ [heute umgerechnet mehr als eine halbe Million] in ein Forschungsprogramm, um die örtlichen Bordelle zu entdecken, die jeder Taxifahrer dir umsonst zeigen würde. Mir wurde bald klar, wie weit sich die selbsternannten Sozialwissenschaften vom alltäglichen Leben entfernt haben, was besonders schade ist, weil dieser Stamm der Erbsenzähler einen enormen Einfluss auf die so genannten Armutsbekämpfungsprogramme hat.“ (1)
Daran musste ich denken, als ich ein Wissens-Feature in der FAZ zum Thema „Einsamkeit“ las. Acht Millionen Deutsche fühlen sich oft oder immer einsam; 30 Millionen Deutsche fühlen sich zumindest manchmal einsam. Der Beitrag stand im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen. Warum Wirtschaft? Einsamkeit schadet der Volkswirtschaft. Arbeitsausfälle aufgrund psychischer Krankheiten haben in Deutschland innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte um mehr als 200 Prozent zugenommen. (2) Einsamkeit und soziale Isolation erhöhen das Risiko zu sterben signifikant. Einsamkeit ist eine Art Volkskrankheit.
Woran mag das liegen? So fand eine Studie der Uni Hamburg heraus, „dass Menschen, die arm sind, sich seltener mit Freunden und Bekannten treffen. Sie machen seltener Besuche oder empfangen seltener Gäste. Sie nehmen insgesamt weniger am gesellschaftlichen Leben teil. Denn solche Aktivitäten sind oft mit Kosten verbunden.“ Ja wirklich?!
Die Hamburger Sozialökonomen fanden zudem heraus: „Manche Menschen schämen sich, arm zu sein und ziehen sich auch deswegen aus der Gesellschaft zurück.“ Wer hätte das gedacht...
Nebenbei bemerkt sind auch Superreiche oftmals sehr isoliert in ihren Villen und Lofts, empfinden ihr Dasein aber vermutlich völlig anders. Chinesische Wissenschaftler unterscheiden daher auch zwischen Einsamkeit und sozialer Isolation. Soziale Isolation sei ein objektiver Mangel an Sozialkontakten bei Menschen mit begrenztem sozialem Netzwerk. „Im Gegensatz dazu ist Einsamkeit ein subjektives Gefühl der Not, das entsteht, wenn ein Missverhältnis zwischen gewünschten und tatsächlichen sozialen Beziehungen besteht.“ (3)
Es gibt auch eine Deutschlandkarte der Einsamkeit. Spitzenreiter ist demnach Meck-Pomm. Und am wenigsten Einsamkeit findet sich in einer Region in Rheinland-Pfalz westlich von Koblenz. Wie das? Eine Erklärung, was es mit diesem weißen Flecken auf der Einsamkeitslandkarte auf sich hat, liefert die FAZ nicht. Bei genauer Betrachtung handelt es sich um das Ahrtal, das im Juli 2021 von einer Flutkatastrophe heimgesucht wurde. 135 Menschen starben, die Region hat sich bis heute nicht erholt. Hier gibt es offenbar andere Probleme als Einsamkeit. Warum ist das keine Erwähnung wert?
Ebenfalls banal klingt zunächst ein Befund des unternehmernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). So fühlen sich Arbeitende weniger einsam als Arbeitslose. Saul Alinsky und mich wundert es nicht. Dann wird es allerdings interessant: „Arbeiten Menschen deutlich über den ‚normalen’ Verhältnissen, verstärkt sich das Einsamkeitsgefühl wieder. Denn sie haben weniger Zeit für soziale Aktivitäten wie Vereins- und Clubmitgliedschaften.“ Was gemeint ist, wird nicht zu Ende gedacht: Das Heer von Niedriglohn-Arbeiter*innen, die durch Schichtarbeit, Kettenbefristung, Werkverträge, Leiharbeit und Auslagerung voneinander entfremdet sind. Also im Kern durch neoliberale Methoden, die in Zeitungen wie der FAZ seit Jahrzehnten propagiert werden, um Deutschland als Exportweltmeister voran zu bringen und die Lohnstückkosten zu senken. Ebenso betrifft die Einsamkeit durch Arbeit aber auch ein anwachsendes Heer gut bezahlter Bullshit-Jobber*innen, die ihr Leben in sinnlosen aber zeitraubenden Aktivitäten vergeuden. Und die jetzt auch noch Home-Office machen...
Was könnte ein Gegenmittel sein? Der Blick ins Ahrtal zeigt: Kooperation und Solidarität. Leider brauchte es dafür erst eine Katastrophe.
Elmar Wigand
Anmerkung der GWR-Redaktion:
Nachdem Oskar Lubin seine GWR-Kolumne „stichworte zum postanarchismus“ nach 37 Folgen eingestellt hat, erscheint ab sofort unter der Rubrik „so süß wie maschinenöl“ in der Graswurzelrevolution eine monatliche Kolumne von Elmar Wigand zu den thematischen Schwerpunkten Arbeitsunrecht, Wirtschaftsdemokratie und Union Busting. Elmar Wigand ist Pressesprecher der aktion ./. arbeitsunrecht e.V. Er moderiert mit Jessica Reisner den Podcast arbeitsunrecht FM. Kontakt zum Autor: https://arbeitsunrecht.de/presse
mp3-Sprechversion dieser Kolumne: https://www.freie-radios.net/mp3/20231023-soswiemaschi-124751.mp3
Anmerkungen:
1) Eric Norden: Interview mit Saul Alinsky, Playboy, März 1972, https://scrapsfromtheloft.com/comedy/saul-alinsky-playboy-interview-1972/
2) Dana Hajek: Das unsichtbare Leiden, FAZ, 4.9.2023, https://www.faz.net/-hx6-beajj
3) Merklich höheres Sterberisiko bei Einsamkeit und isoliertem Leben, FAZ, 19.6.2023, https://www.faz.net/aktuell/wissen/medizin-ernaehrung/gesundheit-hoeheres-sterberisiko-bei-einsamkeit-und-isoliertem-leben-18974644
Kolumne "so süß wie maschinenöl" 1, aus: Graswurzelrevolution Nr. 482, Oktober 2023, www.graswurzel.net