Kuba und die Ukrainekrise

Wann Russland und die USA eine neue Deklaration über die Beendigung des Kalten Krieges unterzeichnen, lässt sich nur träumen“, vertraute der Pressesekretär des russischen Präsidenten Wladimir Putin der Komsomolskaja Prawda an. Deren Korrespondent hatte an den 1. Februar vor 30 Jahren erinnert, als die Präsidenten Georg Bush und Boris Jelzin in Camp David genau das taten. Sie verkündeten eine Ära der „Freundschaft und Partnerschaft“. Zum fast vergessenen Jubiläum beschied Dmitri Peskow den Fragesteller: „Träume sind nicht das, wofür man uns unser Gehalt zahlt.“ Der für beendet erklärte Kalte Krieg ist nicht nur umdüsterte Vergangenheit, sondern bittere Gegenwart als Kalter Krieg II. Abschied von den Illusionen.

Geschichte wiederholt sich doch. Was als Kubakrise die Welt am Abgrund balancieren ließ, ist beispielhaft für die Ukrainekrise. Die USA stationierten ab 1959 in Italien und der Türkei auf die UdSSR gerichtete nuklear bestückte Mittelstreckenraketen. Diese antwortete 1962 mit atomaren Mittelstreckenraketen auf Kuba. Eine Supermacht versuchte im Kampf um Macht und Einfluss der anderen so nah und gefährlich wie nur irgend möglich auf den Leib zu rücken. Sowjetische Raketen auf Kuba damals, die Ukraine und immer mehr NATO-Verbündete mit US-Raketen an der Grenze zu Russland heute. Kaum noch Vorwarnzeiten, weniger Sicherheit. Die Kubakrise endete mit einem Abzug auf beiden Seiten – und der Versicherung der USA, Kuba nicht militärisch anzugreifen. Ein Erfolg für beide Kontrahenten und die Welt. Ein Muster?

„Es gibt keine Sicherheit für die Europäer, wenn es keine Sicherheit für Russland gibt“, wagt der französische Präsident einzugestehen. Für seinen Dialog mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin watscht ihn Zeit Online jedoch ab: „Emmanuel Macron denkt eine Nummer zu groß.“ Zur Abdankung genötigt wurde der deutsche Marine-Chef, Vize-Admiral Kay-Achim Schönbach. Der wagte die Erkenntnis, es sei „Nonsens“, dass Russland „Interesse an einem kleinen Stück ukrainischen Bodens“ habe. Putin wünsche Respekt, und den habe er „wahrscheinlich auch verdient“. Die russischen Forderungen nach einem rechtsverbindlichen Ende der NATO-Osterweiterung und deren Rückzug auf die Positionen von 1997 titelte der russische Kommersant mit der Losung „Vorwärts in die Vergangenheit“. Das Angebot, keine Seite sollte der Sicherheit der anderen schaden, könnte ebenfalls als Lehre aus der Kubakrise gelten.

Die Lager sind befestigt. Die USA rufen und die Transatlantiker treten bereitwillig an. Auf der Gegenseite rücken mit Russland, der VR China und Kuba drei alte Freunde wieder zusammen – eher eine ungewollte Nebenwirkung von geostrategischem Ausmaß. Ausgerechnet der kleinste Partner erweist sich in dieser eiskalten Auseinandersetzung als der erfahrenste. Kuba wird von der Supermacht USA mit unerbittlicher Rachsucht seit mehr als einem halben Jahrhundert belagert. Selbst in Zeiten einer mörderischen Pandemie soll es sogar von medizinischen Hilfsmitteln abgeschnitten werden. Die Entwicklung eines eigenen Impfstoffes gegen Covid 19 gelang, der Import von Spritzen blieb verboten. Eine wahrhaft tödliche Strafe.

Sanktionen und Embargo sind Umschreibungen für eine mittelalterlich brutale Belagerung. „Die seit 60 Jahren bestehende US-Blockade gegen Kuba ist die längste und härteste in der Geschichte der Menschheit und hat bisher – konservativ geschätzt – Schäden in Kuba in Höhe von über 138 Milliarden US-Dollar bewirkt“, protestierte die deutsche Solidaritätsorganisation Netzwerk Cuba gegen diese „eklatante Verletzung der Menschenrechte“. Am 3. Februar 1962 hatte Supermacht-Präsident John F. Kennedy über den unbotmäßigen Inselstaat mit seinen elf Millionen Einwohnern die totale Blockade verhängt. Ebenso regelmäßig wie deren Verurteilung durch die UNO-Vollversammlung folgen Washingtons Verschärfungen.

Manche trauen sich aber doch: Im Jahr 2021 erhielt die Insel nach Angaben Havannas rund 135 Spendenlieferungen aus 40 Ländern. Aus Russland kamen mehr als 70.000 Schutzanzüge, drei Millionen Spritzen, und 200.000 Masken. Russland und die VR China sehen sich ebenfalls Sanktionen und deren Verschärfung ausgesetzt. Nun macht es aber durchaus einen Unterschied, ob diese einer Antilleninsel oder dem größten sowie dem bevölkerungsreichsten Land der Erde gelten. Wenn sie aber in dem einen Fall schon nicht zum Erfolg führen, wie sollten sie es dann erst in den anderen Fällen?

Westliche Wortführer von Sanktionen im Zeichen „wertebasierter“ Politik und der Achtung der Menschenrechte strafen die einen und lassen die die anderen laufen. Doch das Foltergefängnis in Guantanamo ist keine kubanische, sondern eine US-amerikanische Einrichtung fernab jeden Rechts. Wenn US-Präsident Joe Biden angesichts tödlicher Polizeigewalt einen strukturellen Rassismus und „Schandfleck auf der Seele unserer Nation“ beklagt, meint er wohlgemerkt die eigene und nicht die vielfarbige kubanische Nation. Ein archaisches Wahlrecht aus der Zeit des Wilden Westens soll in den Vereinigten Staaten durch den schamlos tendenziösen Zuschnitt von Wahlbezirken und den Ausschluss von Wählern unerwünschte Ergebnisse verhindern. Da bedarf es der lautstark beklagten angeblichen Einflussnahme durch den Moskauer Kreml doch gar nicht, wenn die Manipulation im eigenen System liegt.

Doch allemal ist Putin schuldig. Ihm wird als Bösartigkeit zur Last gelegt, was aus der eigenen Büchse der Pandora stammt. Streben nach Welt- und Vorherrschaft, fabrizierte Vorwände für Kriege, Morde, Spionage, Cyberangriffe und so vieles mehr. Doch der erlogene Krieg gegen den Irak, die Destabilisierung des Mittleren Ostens, Drohnenmorde, die weltweite und maßlose Cyberschnüffelei der NSA sogar bei engsten Verbündeten entstammen dem US-Arsenal. Ob er Biden für einen Mörder halte, würde Putin sicher nicht gefragt. Biden oder wer auch immer im Weißen Haus ist der Gute und dessen Anführer.

Denn, so formuliert es Professor Noam Chomsky, der weltweit wohl bekannteste Kritiker von US-Politik: „Was immer die Welt denken mag, die Handlungen der USA sind gerechtfertigt. Weil wir es so sagen.“ Dieses Prinzip sei von dem bedeutenden Staatsmann Dean Acheson im Jahr 1962 verkündet worden. Damals habe er ,die American Society of International Law darüber belehrt, dass „kein rechtliches Problem daraus erwachse, wenn die Vereinigten Staaten auf eine Herausforderung ihrer 'Macht, Stellung und Prestige' reagieren“.

Der Vorwärts fasste in einer Rezension seines Buches „Wer beherrscht die Welt?“ zusammen, dass für den politischen Denker Chomsky die USA „der führende terroristische Staat“ seien. Unzählige Attentatsversuche auf Fidel Castro, Unterstützung der rechten Contras in Nicaragua, Einmarsch in den Irak – inklusive schwerer Menschenrechtsverletzungen in Abu Ghraib und Guantánamo“. Folter, so schreibe Chomsky, sei dabei allerdings „noch das Geringste der vielen Verbrechen“, derer sich die USA und andere Großmächte schuldig machten. Schlimmer noch seien „Aggression, Terror, Subversion und wirtschaftliche Strangulation“, die von Washington ausgingen.

Zorn und Verachtung des Westens richten sich in moralischer Selbstgefälligkeit aber an den Gegner im Osten. Zur lautstarken Forderung nach Freilassung des Kremlkritikers Alexej Nawalnys aus der Lagerhaft gehörte, um als Sorge um Menschenrechte glaubhaft zu sein, ebenso ein energischer Einsatz für den Gründer der Enthüllungsplattform WikiLeaks Julian Assange. Der Aufklärer von US-Kriegsverbrechen wird gnadenlos gehetzt und mit 175 Jahren Gefängnis bedroht. Beide haben auf ihre Weise den Staat herausgefordert. Ebenso angeklagt wie jemand, der im Berliner Tiergarten vom Fahrrad aus mit der Pistole mordet, gehörten jene, die solches zehntausendfach mit Hightech-Drohnen in Syrien, Afghanistan, Irak und anderswo erledigen. Wer den sowjetischen Einmarsch in das Land am Hindukusch verurteilte und den afghanischen Widerstand aufrüstete, sollte anschließend nicht selbst dort in den Krieg ziehen. Der Westen hätte von der Niederlage der Sowjetunion lernen sollen. Denn der Westen wurde ebenfalls zu einem schmählichen Rückzug gezwungen.

Auch die aktuelle Konfrontation verheißt nichts Gutes. Eine halbe Stunde Krieg gab es bereits. Zum Glück nur bei der Agentur Bloomberg am 5. Februar: „ Die Schlagzeile ,Russland fällt in die Ukraine ein' (Russia Invades Ukraine) wurde versehentlich heute gegen 16 Uhr auf unserer Website veröffentlicht. Wir bedauern den Fehler zutiefst.“ Am Tag vor der Falschmeldung hatte Bloomberg TV ein Interview mit dem für Mäßigung nicht bekannten Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg geführt. Das trug die dramatische Überschrift: „‚Real Danger‘ of Russia Invading Ukraine, NATO Chief Says“. Für eine nervöse Hand am Roten Knopf hätten Stoltenberg und Bloomberg mit ihrer Beschwörung der realen Gefahr einer russischen Invasion einen Krieg schon herbeireden können.