An Kiews Seite

in (28.02.2022)

Wladimir Putins feiger Krieg gegen die Ukraine stößt in Polen auf einhellige und entschiedene Ablehnung. Der Kreml-Herr ließ nun wahrwerden, was zuvor kraft haushoher militärischer Überlegenheit angedroht war. Dass er den Krieg vom Zaun brechen wird, war in Polen fast jedem klar. Anders als in Deutschland gab es da zuletzt keinerlei Illusionen – hierin waren sich alle politischen Lager erstaunlich einig. Und um zu beweisen, wie lebensnotwendig für Land und Leute die NATO-Mitgliedschaft ist, braucht es künftig keines weiteren Beweises mehr. Der Schulterschluss zu Litauen, Lettland und Estland wird ohnehin fester werden, vor allem in der nun gegen die russische Bedrohung gerichteten Verteidigungspolitik. Alle vier Länder sind am vergangenen Montag in Putins geschichtsphilosophischer Lehrstunde unmittelbar vor Beginn der Kriegshandlungen nicht von ungefähr ausdrücklich angezählt worden.

In seiner langen Rede hatte Putin auch die Mitte des 17. Jahrhunderts gesondert herausgegriffen, als sich die Kosaken am Dnestr von der polnisch-litauischen Union ab- und dem Moskauer Zarentum zugewandt hatten. Damit begann tatsächlich der lange Zyklus des Aufstiegs der Zarenmacht zur unumstrittenen Herrschaft zunächst über die Weiten Russlands und schließlich zur erstrangigen europäischen Macht, die nach den Entscheidungen auf dem Wiener Kongress von 1815 zu einer Feste für die politische Reaktion in großen Teilen Europas wurde. Marx und Engels waren 1863/64 glühende Anhänger des schließlich vergeblichen polnischen Nationalaufstands, weil sie gehofft hatten, so den schädlichen Einfluss Zarenrusslands auf gesellschaftliche Prozesse in Mitteleuropas brechen zu können. Am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte Rosa Luxemburg das Konzept eines engen Schulterschlusses zwischen der westeuropäischen und der jungen, allerdings immer stärker werdenden russischen Arbeiterbewegung. Die Feuertaufe erlebte diese Hoffnung in der Revolution 1905/06, als Arbeitermassen in den Industriezentren Polens und Russlands gleichermaßen für politische Freiheit kämpften und die Zarenherrschaft fast zum Einsturz brachten. Europas gesamte Geschichte wäre bei einem Sieg der Arbeiterrevolution fürderhin anders verlaufen, so aber blieb sie im Ostteil des Kontinents noch für lange Zeit im Schatten der Zarenspur.

Noch Ende 1918 sprach Rosa Luxemburg davon, dass der Revolutionsprozess in Russland nur die Fortsetzung von 1905/06 sei, was damals begonnen habe, werde nun zu Ende geführt. Sie irrte sich gewaltig, denn der Brückenschlag nach Westeuropa, der über die Industriezentren Polens lief, war längst verlorengegangen. Einst hatte Rosa Luxemburg die russischen Kampfgenossen selber davor gewarnt, im Alleingang zu versuchen, das Zarentum zu stürzen und dessen tiefsitzendes Erbe auszumerzen. Die Entwicklungen in den Folgejahren bis hin zu dem unheilvollen Stalinschen Konzept vom Aufbau des Sozialismus in nur einem Land hatten noch einmal bewiesen, wie richtig sie mit ihrer Warnung lag. Es war die unheimliche Wiederkehr des Zarentums in anderen – jetzt roten Farben.

Putin lässt seit langem kein gutes Haar mehr an der Sowjetunion, hat mit wenigen Federstrichen die Zeit von Glasnost und Perestroika jetzt von seinem Redetisch gefegt. Diese Schlussetappe in der Geschichte der Sowjetunion war der wiederum vergebliche Versuch gewesen, mit der Entstalinisierung ernst zu machen, also einer demokratisch-sozialistischen Perspektive den späten Weg zu ebnen – mit voller politischer Freiheit. In all der Ratlosigkeit im Zerfallsprozess der Sowjetunion einigten sich die verschiedenen Führungsleute hier und dort, also auch in Russland selbst, auf den einen, für den Weltfrieden außerordentlich wichtigen Grundsatz: Wir trennen uns entlang der bestehenden Grenzen der einzelnen Sowjetrepubliken – ohne Gebietsansprüche und ohne Bevölkerungsaustausch.

Die Geschichte seither ist bekannt. Russland bekam mit Putins Machtantritt schließlich eine gelenkte Demokratie verordnet, die wiederum ganz offen den anderswo herrschenden Standards politischer Freiheit widersprach. Vielerorts wurde sie erklärt oder verklärt als ein spezifischer moderner Ausdruck russischer Zivilisation, die eben anders sei als die Zivilisation im Westen. Zugleich begann Putin das Konzept zu entwickeln, dass Russland in einer besonderen Verantwortung stehe für alle Russinnen und Russen, die nun außerhalb der Russländischen Föderation lebten. Das hat verständliche Seiten, so die Sorge bei offenkundiger Diskriminierung wegen Sprache, Herkunft und so weiter. Doch aus dem Fluch über den Zerfall der Sowjetunion, der machtpolitisch betrachtet ja auch ein empfindliches Zurückdrängen Russlands aus bisherigen geographischen Positionen bedeutete, wurde zunehmend ein böser Fluch für Russland selbst.

Die Entwicklungen in Georgien im Sommer 2008, auf der Krim und im Donbass im März 2014 verweisen bereits auf den schlimmen, mit nichts zu rechtfertigenden Irrweg zum jetzigen Krieg. Der Verlust an politischer, vor allem machtpolitischer Bindungskraft gegenüber großen Teilen der ehemaligen Sowjetunion wird ausgeglichen mit purem militärischen Machtspiel, weil dort tatsächlich niemand weit und breit Moskau Paroli bieten könnte. Die offenkundige Demütigung, als Macht mit Anspruch auf Weltgeltung an seiner südwestlichen Flanke peinliche Staatsgebilde unterhalten zu müssen, die ansonsten kaum jemand anerkennt, ist nun zum Platzen gekommen. Statt fleißig weitere Kleinstaaten einzusammeln, hat Putin nun entschieden, gleich die ganze ihm verhasste Ukraine einzunehmen. Die Welt ist jetzt eindringlich gewarnt – es ist die erschreckende Wiederkehr alter Großmachtpolitik aus Zaren- und Sowjetzeiten in anderer Färbung.

Der 24. Februar 2022 wird, auch wenn Putin und seine Leute zeitweise triumphieren sollten, als ein rabenschwarzer Tag in die Geschichte Russlands eingehen.

Geschrieben am Tag des Überfalls, am 24. Februar 2022.