Die autoritäre Pionierin

Hefteditorial iz3w 384 (Mai/Juni 2021)

»Treibt die Türkei in die Diktatur?«, fragte der Romanautor Doğan Akhanlı bei einer Lesung 2018 in Freiburg. Die Frage steht im Untertitel seines Romans »Verhaftung in Granada« und es ist eine rhetorische Frage. 2018 war wieder ein Jahr zahlreicher politischer Inhaftierungen von Gegner*innen des türkischen AKP-Regimes unter Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan gewesen.

2021 macht die Türkei mit einer Verbotspolitik gegen die oppositionelle Partei Halkların Demokratik Partisi (HDP) Schlagzeilen. In der Türkei müssen oppositionelle Politiker*innen grundsätzlich damit rechnen, ins Gefängnis zu kommen. Die jüngste polizeiliche Festnahme des HDP-Parlamentsabgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu ist nur ein Beispiel. Er wurde in das Sincan-Hochsicherheitsgefängnis in Ankara gebracht. Zwei Wochen zuvor wurde ihm gerichtlich sein Mandat als Abgeordneter entzogen, denn ein Tweet von ihm enthalte »terroristische Propaganda«.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International weiß kaum, wo sie anfangen soll: Die türkische Justiz missachtet internationale Standards für faire Gerichtsverfahren. Die Antiterrorgesetze richten sich gegen Oppositionsarbeit oder kritische Medienberichterstattung. Justizbehörden schikanieren Journalist*innen, Politiker*innen, Aktivist*innen, und Nutzer*innen sozialer Medien wegen ihrer tatsächlichen oder vorgeblichen oppositionellen Haltung. Die Türkei tritt aus der Istanbul-Konvention des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen aus. Es gibt glaubwürdige Berichte über Folter und andere Misshandlungen.

Dabei gab es zu Beginn dieses Jahrhunderts in der Türkei eine lebendige Presselandschaft und Aufbruchsstimmung. Die autoritäre Wende von einem konservativ-liberaldemokratischen Laden in ein Unrechtregime läuft in der Türkei seit 2002. In diesem Jahr gewann die AKP unter Recep Tayyip Erdoğan die Parlamentswahlen.

     Das neue Jahrhundert wurde weltweit zu einem der Wiederkehr autoritärer Tendenzen. In zahlreichen Ländern werden liberale Grundrechte rechtspopulistisch ausgehöhlt, etwa in Polen, Ungarn, Slowenien, Indien, Russland, Brasilien, zeitweise in Italien oder in den USA. Auch rekonstituieren sich inzwischen Militärdiktaturen wie in Myanmar oder Thailand. Zwar scheinen die islamistische AKP und die anti-islamischen europäischen Rechtspopulist*innen nichts gemein zu haben. Aber ihre Zielrichtung gegen demokratische, sozialstaatliche oder fortschrittliche Errungenschaften deckt sich fast eins zu eins. Die Türkei ist eine Pionierin des neuen Autoritarismus. Dieser kapert die Demokratien von innen und baut sie mit deren Handwerkszeug ab. Das Drehbuch dafür liefert die Türkei. Dort sieht man, wie so ein Umbau funktioniert.

Die autoritäre Wende in der Türkei ab 2002 war dort zunächst gar keine. Die misstrauisch beäugte AKP benahm sich lieb und nett. Die Todesstrafe wurde abgeschafft, die Folter in türkischen Gefängnissen bekämpft, es wurden versöhnliche Signale in Richtung der armenischen und der kurdischen Minderheiten gesendet. Beim Kurs Richtung Europäische Union signalisierte die AKP-Regierung Beitrittsambitionen. So wurde erstmal Entwarnung gegeben.

Doch es kam anders. Die Elemente des Führerkults, Nationalstolz und Islamismus waren da und arbeiteten fort. So ist es oft im Rechtspopulismus: Am Anfang markieren die Populist*innen Volkes Stimme und stellen sich als Opfer der ‚Eliten’ dar. Das rechtspopulistische Drehbuch läuft aber von der Türkei bis Ungarn oder Polen weiter: Opferkult, Spaltung der Gesellschaft, Ethnisierung, Nationalismus; und schließlich Verfestigung und Verewigung der eigenen Macht.

     Der demokratische Wettstreit um die Macht beinhaltet, dass man die Macht auch wieder abgibt. Das leuchtet autoritären Charakteren nicht ein: Man gewinnt nicht die Macht, um sie wieder abzugeben! Erfolgreiche Staatsmänner in diesem Sinne sind Victor Orban, Wladimir Putin, Jarosław Kaczyński oder eben Erdoğan.

Erdoğans AKP ist seit 2018 das Wahlbündnis »Volksallianz« mit der rechtsextremen Milliyetçi Hareket Partisi (MHP) eingegangen. Dagegen kämpft die vom Verbot bedrohte HDP unter hohem persönlichem Risiko ihrer Aktiven. Die hasserfüllte imaginierte »Stimme des Volkes« beschimpft diese als »Terroristen«.

Eine schwierige Aufgabe ist es, zu lernen, wie man einerseits dem Autoritarismus Grenzen setzt; und sich andererseits dessen Logik von Freund und Feind, Gut und Böse, Schwarz und Weiß widersetzt. Doğan Akhanlı schreibt in seinem Roman: »Solange die Begriffe Vaterland, Nation, Verräter und Märtyrer nicht aus dem alltäglichen Sprachgebrauch getilgt sind und solange die Türkei sich nicht der eigenen Vergangenheit stellt, werden zwar die Opfergruppen wechseln, aber das Morden wird kein Ende nehmen.« Zwischen Diktatur und Freiheit wird also ständig im Alltag gestritten. Das ist genauso wichtig wie der folgende Blick nach Myanmar, Hongkong, Honduras, Japan oder Mosambik.

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