Weltpolitische Gewichtsverlagerungen

Der 15. November 2020 wird in die Geschichte eingehen. An diesem Tage wurde das größte Freihandelsabkommen der Welt unterzeichnet, die „Regionale, umfassende Wirtschaftspartnerschaft“ (Regional Comprehensive Economic Partnership – RCEP) für den asiatisch-pazifischen Raum. Eigentlich sollte dies am Ende eines Gipfels des südostasiatischen Staatenverbundes ASEAN in Hanoi erfolgen; diplomatisch gesehen war die vietnamesische Hauptstadt in der Tat Ort des Geschehens, praktisch erfolgte die Unterzeichnung des Vertragswerkes jedoch corona-gemäß virtuell. Vertragspartner sind die zehn ASEAN-Staaten Brunei, Indonesien, Kambodscha, Laos, Malaysia, Myanmar, die Philippinen, Singapur, Thailand und Vietnam sowie China, Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland.

Westliche Beobachter monierten, dass weder die USA noch die EU dabei sind. Im Grunde aber bedeutet dies nichts weiter, als dass sich das Schwergewicht der Weltwirtschaft mittlerweile nach Asien, in den asiatisch-pazifischen Raum verlagert hat und man die bisherigen Weltenbeherrscher aus dem nordatlantischen Raum nicht braucht. Zugleich wurde genörgelt, das Abkommen sei „ein großer Erfolg für die kommunistische Führung in Peking“, und Erstaunen darüber geäußert, dass Japan mit an Bord ist (Deutsche Welle). Dabei ist klar, dass die japanische Führung die Gestaltung der künftigen Handelsbeziehungen in der Region nicht China überlassen will. Was wiederum bedeutet: Man muss das selbst tun und rechnet weder mit den USA noch mit den Europäern, wenn es um die asiatisch-pazifische Region geht. Und Australien sowie Neuseeland? Offenbar ist dort angekommen, dass sie nicht mehr Gesellschaften „mit britischer Identität“ sind, wie der Evolutionsbiologe und Anthropologe Jared Diamond das einmal charakterisierte, sondern zum asiatischen Teil der Weltwirtschaft und Weltpolitik gehören.

Die mit dem RCEP verbundenen Staaten haben 2,2 Milliarden Einwohner und bestreiten etwa 30 Prozent des Welthandels. Die EU klopft sich auf die Schulter und insistiert, sie repräsentiere etwa 33 Prozent des globalen Handelsvolumens. Der Witz ist: Angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Dynamik in Ost- und Südostasien wird dessen Anteil rasch zunehmen, während der der EU eher stagniert und tendenziell sinkt. Mit dem Abkommen werden die Zölle deutlich reduziert, Regeln für den gegenseitigen Handel und den Bereich der Urheberrechte festgelegt sowie Erleichterungen in Handel, Dienstleistungen, Investitionen, E-Kommerz und Telekommunikation vereinbart. Verhandelt wurde seit 2012. Ursprünglich war auch Indien dabei. Die Regierung in Delhi fürchtete jedoch eine Überschwemmung des eigenen Marktes mit Industriegütern aus China und Agrarprodukten aus Australien und Neuseeland sowie einen Verlust der Kontrolle über die eigene Wirtschaft. Deshalb schied sie 2019 aus dem Verhandlungsprozess aus und ermöglichte so den Abschluss des Vertrages durch die anderen Staaten. RCEP bleibt jedoch für den Beitritt Indiens und anderer offen. Mit Indien hätte die Gruppierung 3,6 Milliarden Einwohner und einen Anteil am Welthandel von über 40 Prozent.

An dieser Stelle ist an das Abkommen über eine „Transpazifische Partnerschaft“ (Trans-Pacific Partnership – TPP) zu erinnern. Das war zunächst als Freihandelsabkommen zwischen Brunei, Chile, Neuseeland und Singapur gedacht. Nach seiner Amtsübernahme wollte Barack Obama die USA in ein umfassenderes Handelsabkommen einfügen, in dem es nicht nur um den Abbau von Zöllen gehen sollte, sondern auch um einen verschärften Schutz von Investitionen, geistigen Eigentumsrechten und eine Diskriminierung von staatseigenen Unternehmen sowie die Einrichtung von Schiedsgerichten, um Streitfälle zwischen Großfirmen und Mitgliedsstaaten im Sinne des sogenannten freien Wettbewerbs zu entscheiden. Kritiker wiesen darauf hin, dass mit einem solchen Abkommen die Wirtschaftsinteressen großer Firmen, vor allem der USA, über die Menschen- und Bürgerrechte in den teilnehmenden Staaten gestellt werden – wie in dem damals ebenfalls vorgesehenen Transatlantischen Freihandelsabkommen (TTIP) zwischen den USA und der EU.

Während das TTIP nicht zu Ende verhandelt wurde, weil Donald Trump ausstieg, war das TPP im Februar 2016 von den Vertretern von zwölf Staaten unterzeichnet worden: Australien, Brunei, Chile, Japan, Kanada, Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Peru, Singapur, Vietnam und die USA. Klar war, dass die Obama-Regierung dies als Instrument betrachtet hatte, um China nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftspolitisch einzukreisen. Donald Trump aber legte bereits am 23. Januar 2017 per Dekret den Austritt der USA aus dem TPP fest. Er wollte den Kampf gegen das aufsteigende China ohne die Fesseln eines multilateralen Vertrages führen, der auch die USA bindet. Die verbliebenen elf Staaten beschlossen daraufhin im Januar 2018, das TPP untereinander, ohne die USA, als „Umfassende und fortschrittliche Vereinbarung für eine Trans-Pazifische Partnerschaft“ (Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership – CPTPP) fortzuführen.

Damit sind die meisten Mitglieder des CPTPP auch Teilnehmerstaaten des RCPE. Die eigentliche Intention der Obama-Regierung, China weltwirtschaftlich einzuhegen, lässt sich nicht mehr umsetzen. Auch wenn ein Präsident Joe Biden dies versuchen sollte. In der internationalen Politik gibt es jede Gelegenheit nur einmal. Und der Aufstieg Chinas vollzieht sich unabhängig von Wahlergebnissen in den USA.