Für das Verständnis der gegenwärtigen Situation in der Türkei sind zwei Entwicklungslinien von Bedeutung. Die erste ist, dass das Bestreben der Kemalisten, die Türkei als modernen, laizistischen Staat zu entwickeln, stets von einer islamistischen Gegenbewegung begleitet war. Versuche, eine islamistische Partei zu gründen, gab es seit den 1970er Jahren; sie wurden durch das Militär beziehungsweise die kemalistische Staatsbürokratie immer wieder unterbunden. Bei den Parlamentswahlen 1995 war in Gestalt der „Wohlfahrtspartei“ mit 21,4 Prozent der Wählerstimmen erstmals eine islamistische Partei stärkste Kraft im Parlament. Ihr Vorsitzender, Necmettin Erbakan, konnte im Sommer 1996 die Regierung bilden, wurde aber durch den Nationalen Sicherheitsrat 1997 zum Rücktritt gezwungen und die Partei 1998 durch das Verfassungsgericht verboten.
Recep Tayyip Erdoğan war 1994 als Mitglied der Wohlfahrtspartei zum Oberbürgermeister von Istanbul gewählt worden, galt in dem Amt als erfolgreich und wurde landesweit bekannt. 2001 war er einer der Begründer der „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP), die sich nicht als islamistisch, sondern als konservativ-demokratisch definiert – der Parteinahme suggeriert, das Land entwickeln zu wollen, und enthält zugleich ein Teilhabeversprechen, dies für alle Bürger des Landes zu tun. Die AKP regiert seit den Parlamentswahlen 2002 fast durchgängig mit absoluter Mehrheit der Parlamentssitze.
Als Vordenker eines modernisierten türkischen Volksislam galt Fethullah Gülen. Die von ihm geschaffene Bewegung gründete Schulen, Studentenheime und Universitäten; zur Gülen-Bewegung gehörten Radio- und Fernsehsender, Verlage und mehrere Tageszeitungen, eine Nachrichtenagentur, Krankenhäuser, Banken und Versicherungen. Über zehn Prozent der türkischen Bevölkerung sollen seiner Bewegung nahegestanden haben. Gülen, geboren 1941, predigt Bildung und Dialog, spricht sich für eine gebildete, mit dem Westen konforme muslimische Gesellschaft aus. Seine Anhänger sahen in ihm einen islamischen Gelehrten mit liberalen Ideen, seine Gegner einen Mann, der den laizistischen türkischen Staat unterminieren und durch einen islamischen Staat ersetzen wollte.
Im Jahre 1999 wurde eine geheim aufgenommene Rede Gülens im Fernsehen ausgestrahlt, in der er seine Anhänger aufforderte, die wichtigen Stellen im Justiz- und Innenministerium und schließlich die Macht in sämtlichen Verfassungsorganen zu erlangen, um die Kontrolle über den Staat zu übernehmen. Aus Angst vor Verhaftung reiste er in die USA aus, wo er seither – unbehelligt von den dortigen Behörden – lebt. Im Westen gilt er als Vertreter der Vereinbarkeit von Islam, Moderne und Demokratie, der auch für die Unvereinbarkeit von Islam und Gewalt stehe.
Erdogans AKP passte sich zunächst den Gegebenheiten an. Da in der ersten Hälfte der 2000er Jahre die Frage eines EU-Beitritts der Türkei stand, die ihrerseits eine Reihe von Bedingungen gestellt hatte, wurden wesentliche Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht. Dazu gehörten ein ausdrücklicher Menschenrechtsschutz, Trennung von Militär und Politik, Umschulung von Polizei und Richtern, Demokratisierung der Institutionen. Christen und Kurden gegenüber signalisierte er Dialogbereitschaft. Die EU honorierte dies 2005 mit dem Beginn von Beitrittsverhandlungen. All diese Reformen hatten eine Zurückdrängung der Positionen des Militärs und der kemalistischen Bürokratie zur Folge. Zugleich wurden, etwa durch das öffentliche Auftreten der Ehefrau mit Kopftuch, auf der Ebene der symbolischen Politik Zeichen einer stärker islamischen Orientierung gesetzt.
Im Jahre 2007, als die Amtszeit des kemalistischen Präsidenten Sezer abgelaufen war, setzte Erdogan durch, dass sein Parteifreund Abdullah Gül dieses Amt übernimmt. Der Generalstab drohte mit Putsch, das laizistisch geprägte Verfassungsgericht mit Verbot der AKP. Erdogan konnte jedoch Gül als Präsidenten durchsetzen, das Verbotsverfahren scheiterte. Im Jahre 2008 wurde eine Reihe von Generälen unter Putschverdacht verhaftet und damit entmachtet. Beobachter der Szenerie mutmaßten, dass das nur möglich war, weil Anhänger der Gülen-Bewegung nicht nur wichtige Positionen in der AKP einnahmen, sondern auch in der Polizei, den Geheimdiensten und dem Staatsapparat. Damit war der Machtkampf zugunsten der AKP und Erdogans entschieden. Aber er war mit Hilfe der Gülen-Bewegung errungen. Und kein autoritärer Herrscher mag jene, die ihm einst zur Macht verhalfen, noch mächtig wissen.
Die zuvor praktizierte Reformpolitik kam danach zum Erliegen. Die AKP hat den zentralistischen Staat übernommen und nutzt ihn jetzt in ihrem Sinne. Immer häufigere Eingriffe in die Medien, Verhaftungen von Journalisten, brutale Polizeieinsätze gegen missliebige Demonstranten, eine neue Unterdrückungspolitik in den kurdischen Angelegenheiten und schließlich Krieg in den kurdischen Gebieten sind Ausdruck dessen. Später beschloss Erdogan, dass das Amt des Ministerpräsidenten für ihn zu klein sei. Seit 2014 ist er Präsident und verfolgt das Ziel der Machterweiterung im Präsidialregime.
Die zweite Entwicklung hängt mit der Rolle des Militärs zusammen. Es hatte unter Kemal Atatürk eine faktisch über dem zivilen Staat stehende Rolle, war als dessen Garant definiert. Deshalb waren die Militärputsche und deren Androhung im Grunde selbstverständlich aus Sicht des Militärs. Aber es waren Verbrechen nach einem Pinochet-Muster. Nach dem dritten Putsch von September 1980 wurden tausende politische Gefangene gefoltert und zum Tode verurteilt. Nach türkischen Angaben von 1990 gab es 650.000 politische Festnahmen, 7.000 beantragte, 571 verhängte und 50 vollstreckte Todesstrafen sowie den nachgewiesenen Tod durch Folter in 171 Fällen. Deshalb waren bei dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 im Grunde alle politischen Kräfte, einschließlich der Linken und der Vertreter der von Erdogan ebenfalls unterdrückten Kurden, gegen den Putsch und die Putschisten.
Das bedeutet aber nicht, dass sie alle für Erdogan und seine Politik sind. Auch nicht, dass tatsächlich die Gülen-Bewegung dahinter steckte. Nach dem Putsch wurden mehr als 60.000 Staatsbedienstete entlassen, fast 19.000 mutmaßliche Erdogan-Kritiker wurden verhaftet, darunter vor allem auch Richter, Staatsanwälte, Journalisten und Universitätsprofessoren. 13.000 blieben in Untersuchungshaft. Tausenden Intellektuellen wurde der Reisepass entzogen. Seit 15. Juli wurden mehr als 30 Universitätsangehörige suspendiert, die Anfang des Jahres eine Friedenspetition unterzeichnet hatten, in der ein Ende des türkischen Militäreinsatzes in den Kurdengebieten gefordert wurde. Für Erdogans Regime gilt das als „Terrorpropaganda“. Die jetzt Repressierten sind nicht Teil der Gülen-Bewegung, zuletzt zwei an der Gazi Universität in Ankara, drei an der Sivas Universität und 21 an der Anadolu Universität in Eskisehir.
Lassen wir die verschwörungstheoretische Variante beiseite, wonach Erdogan den Putschversuch inszenieren ließ, um seine Inthronisation als Sultan zu vollenden, und auch die Frage, ob da militärische Dilettanten am Werke waren oder aber der russische Geheimdienst, der den Funkverkehr des türkischen Militärs ohnehin abhört, Erdogan rechtzeitig gewarnt hat. Unabhängig von all dem ist offensichtlich, die Proskriptionslisten für die Massenverhaftungen muss es schon vorher gegeben haben. Man muss nicht den Vergleich mit Hitlers inszeniertem Röhm-Putsch bemühen, um festzustellen, dass Erdogan die Gelegenheit nach dem Putsch und dessen Ablehnung in der Bevölkerung benutzt, um gegen alle seine Gegner vorzugehen. Gleichsam in einem Putsch nach dem Putsch machtpolitisch veränderte Verhältnisse zu schaffen.
Die nach den Massenverhaftungen gezeigten Bilder Hunderter nackter Gefangener in einem großen Saal oder der Gesichter offensichtlich Gefolterter sind würdelos, Zeichen orientalischer Despotie. Erdogans Sultanat hat mit Europa und „westlicher Wertegemeinschaft“ nichts zu tun. Wenn die NATO eine Wertegemeinschaft wäre, müsste sie protestieren. Sie ist aber ein Verbund zu geopolitischer Machtentfaltung, die „Wertegemeinschaft“ nur die Tarnkappe. Selbst der Generalsekretär des Europarates, der norwegische Sozialdemokrat Thorbjörn Jagland, sonst Gralshüter der Menschenrechte, bekundete bei seinem Besuch in der Türkei Anfang August Verständnis für Erdogans Maßnahmen. Er übernahm sogar das Unwort „Säuberungen“.