Wie nach dem 11. September 2001, den Attentaten in New York, sind im Gefolge der Anschläge von Paris am 13. November 2015 die Medien voller Deutungsversuche, Faktenzusammenstellungen und Diskussionen. Die französische Regierung bekundet Entschlossenheit, Härte zu zeigen, wie einst US-Präsident George W. Bush.
Dass der selbst-deklarierte „Islamische Staat“ dahinter steckt, scheint unbestritten. Schon weil er selbst sich zu den Untaten bekannte. Die französischen Ermittlungsbehörden haben den Sprecher der IS-Audiobotschaft zu den Pariser Anschlägen identifiziert: Ein französischer Islamist. Das erhärtet, so ist zu vernehmen, die Terroranschläge wurden von Syrien aus gesteuert. Doch es handelt sich hier um einen französischen Staatsbürger, der sich dem syrischen Dschihad angeschlossen hatte.
Nun sieht sich die EU-europäische Politik sieben Versuchungen gegenüber.
Die erste ist die multikulturelle, soziologisch Verstehen Zeigende. Beispiel ist die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan, die in den Debatten um das Buch von Thilo Sarrazin, „Deutschland schafft sich ab“, im Herbst 2010 in großen Zeitungen und in Fernseh-Talkshows als Sarrazins scharfe Kritikerin aufgetreten war. Der Soziologe Gunnar Heinsohn warf ihr damals vor, die Zahlen zu den Abiturquoten türkischstämmiger Deutscher geschönt und die zu deren Sozialhilfequoten reduziert zu haben. In der FAZ wurde später kommentiert, Sarrazin sei einem „unverstandenen Zahlengestöber“ gefolgt, ebenso aber auch die Gegendarstellung von Foroutan, „mal treuherzig, mal strategisch, nur halt in der Gegenrichtung“.
In einer solchen Sicht entsteht die Interpretation, der Terror habe nichts mit dem Islam zu tun, sondern mit der besonderen sozialen Benachteiligung von Migranten (-innen sind hier mitgedacht) in unserer Gesellschaft. Dem ist einerseits zu entgegnen, dass jeder, der denken und in der Gesellschaft leben gelernt hat, wissen muss, dass man – Not, Elend und Benachteiligung hin oder her – nicht einfach andere Menschen tötet. „Du sollst nicht töten“, das fünfte Gebot, ist ethische Bindung nicht nur für Christen und Juden, sondern gilt auch in anderen Religionen, ist menschheitlich eine feste Größe, die dem Einzelnen nicht in die freie Entscheidung gegeben ist.
Andererseits ist die Aussage, der Terror habe nichts mit der Religion zu tun, schon deshalb falsch, wenn sich die Terroristen auf ihn tatsächlich berufen. In diesem Zusammenhang ist nicht entscheidend, was die Schriftgelehrten von außen theologisch für zulässig halten, sondern was die Täter von sich heraus proklamieren. Das gilt übrigens nicht nur für Dschihadisten und den Islam, sondern auch für christliche Fundamentalisten und die Bibel in den USA, jüdische Fundamentalisten in Israel, hindu-nationalistische Fundamentalisten in Indien ..., die alle ebenfalls „ihre“ mordenden Terroristen hervorgebracht haben. Das gilt übrigens auch für Marxens Lehren und Stalins Lager. In allen diesen Fällen ist der Terror nicht notwendig aus der Lehre hervorgegangen, aber eine der Varianten, die aus ihr abgeleitet wurden – also abgeleitet werden konnten. Navid Kermani, der den diesjährigen Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt, hat die Verantwortung des Islam für die IS-Verbrechen vehement zurückgewiesen. Das wird diejenigen in Teheran freuen, die in den 1970er und 1980er Jahren ihrerseits auf Terror als Mittel ihrer „Islamischen Revolution“ setzten. Das macht die Sache aber nicht besser. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Islam und Terror. Und der muss offen diskutiert werden.
Die zweite Versuchung ist die der Abschottung unter Berufung auf Gefahren, die aus der Religion abgeleitet werden. Das war in Deutschland vor dem Hintergrund der vielen Flüchtlinge schon vor den Anschlägen von Paris laut zu vernehmen. Gemeint ist: Alle Muslime sind potentielle Terroristen und deshalb sollen die Grenzen sofort geschlossen und die Flüchtlinge rasch wieder abgeschoben werden. Das ist gewissermaßen die Umkehrung der soziologischen Sicht; während die den Zusammenhang leugnet, wird er hier als zwingend interpretiert. Gewiss, im ersten Weltkrieg gab es die große Agenten-Angst. Im zweiten Weltkrieg haben Frankreich, Großbritannien und die Sowjetunion deutsche Antifaschisten-Emigranten interniert, aus Angst, es könnten sich Nazi-Spione und Saboteure darunter gemischt haben. Die USA haben während des zweiten Weltkrieges 120.000 Japaner in Lager gesperrt, von denen über 60 Prozent USA-Bürger waren, aus Angst, sie könnten für Japan Sabotageakte begehen. Der größte Teil der aus Syrien kommenden Flüchtlinge ist vor dem IS-Terror, der dort seit Jahren wütet, geflohen. Dass darunter auch IS-Kämpfer sein könnten, ist nicht ausgeschlossen. Was man bisher jedoch über die Attentäter von Paris weiß ist, sie waren längst französische oder belgische Staatsbürger, sogar dort geboren. Von hier aus ist nun in der Tat über soziale Bedingungen im Westen für junge Menschen mit migrantischem Hintergrund zu reden.
Die dritte Versuchung klingt fatalistisch, es ist die postmoderne: Die Grenzen sind nicht zu kontrollieren, deshalb muss man die Flüchtlinge kommen lassen, wie sie kommen. Die vierte ist die gegenteilige, die Rückkehr zur nationalen, modernen „Ordnung“: Die Grenzen müssen wieder geschlossen und kontrolliert werden, wie es Viktor Orbán in Ungarn vorgemacht hat. Selbstverständlich waren alle Grenzen in Europa in der Zwischenkriegszeit und in der des Kalten Krieges kontrolliert. Da wurde im Zweifelsfalle aber auch geschossen, und zwar nicht nur an der deutsch-deutschen Grenze. Die postmoderne Versuchung ist im Grunde die Konsequenz nicht nur des Endes des kalten Krieges, sondern auch des Neoliberalismus: es wurden Grenzpolizisten, Zollbeamte und viel anderes Personal „eingespart“, das jetzt auch bei der Bearbeitung der Flüchtlingsfälle fehlt. Deutschland hatte sich im Schengen-System wohlig eingerichtet. Jetzt heißt es: entweder bleiben die Grenzen offen und ungeschützt, oder es muss eine neue Regelung geben. Dass die armen EU-Länder an der Peripherie die Grenzen für Deutschland sichern, bleibt unwahrscheinlich. Ob neue Regelung auch Zaun und Schießbefehl heißt, ist eine Wertefrage. Für die gibt es in Deutschland und im Westen Europas aber keine gesellschaftliche Mehrheit, zumindest bisher.
Die fünfte Versuchung ist die kulturalistische: Das jetzt ist der „Kampf der Kulturen“, wie ihn Huntington vor zwanzig Jahren vorhergesagt hat, und nun müssen wir ihn auskämpfen. Das spart aus, dass es die Kriegspolitik des Westens war, in Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien, die zunächst das Chaos hervorgebracht und dann den Terror im Nahen und Mittleren Osten befeuert hat. Der IS kam nach mehreren Häutungen aus den Nestern des sunnitischen Terrorismus, die entstanden, nachdem die USA den Irak erobert, Saddam Husseins Regierungssystem zerstört und das Land ethnisch-religiös umgeformt hatten, es aber nicht zu kontrollieren vermochten.
Die sechste Versuchung ist die geopolitische. Hier ist zunächst über Saudi-Arabien zu reden. Im Februar 1945, auf der Rückfahrt von der Krim-Konferenz, hatte USA-Präsident Franklin D. Roosevelt auf dem Kreuzer Quincy im Suezkanal unter anderen den saudischen König Ibn Saud empfangen. Sie schlossen ein strategisches Bündnis: Saudi-Arabien liefert den USA und auf den Weltmarkt Erdöl und die USA garantieren die äußere Sicherheit des Landes. Das blieb bis heute. Die „Arabische Revolution“, die in Tunesien und Ägypten begonnen hatte, wurde so umgelenkt, dass die „Diktatoren“ und Menschenrechtsbrecher in Ägypten, Libyen, Syrien und Jemen bekämpft wurden, nicht aber die absolut herrschenden Monarchen am Golf, die nicht weniger Menschenrechtsbrecher sind und köpfen, auspeitschen und steinigen lassen. Dass von Saudi-Arabien aus al-Qaida und der IS finanziert wurden (und werden?), wurde in aller Regel totgeschwiegen.
Zur Geopolitik gehört auch, dass der Westen islamistische Terroristen unterstützte, wie in Tschetschenien gegen Russland und in Xinjiang gegen China, und diese nicht als Teil einer internationalen Bedrohung wahrnahm. Auch der Militäreinsatz Russlands in Syrien wurde zunächst mehr kritisiert als befürwortet; Russland mache dort eine eigene Geopolitik und wolle „den Diktator Assad“ stärken, während der Westen lediglich für Werte, vor allem die Menschenrechte kämpfe. Ganz in diesem Sinne sagte Bundespräsident Gauck in seiner Rede zum Volkstrauertag am 15. November über den Anschlag in Paris zwei Tage zuvor, er „galt Frankreich, aber auch der offenen Gesellschaft […]. Jene, die solche Taten verüben oder gutheißen, sie müssen wissen: Die Gemeinschaft der Demokraten ist stärker als die Internationale des Hasses.“ Das ist wieder die Versuchung, den Kampf gegen den Terrorismus als Problem der „demokratischen Länder“ zu interpretieren, der Russland und China ausschließt. Auf dem G20-Gipfel im türkischen Antalya am 15. und 16. November wurde dagegen klar gemacht, dass der Kampf gegen den IS eine Sache der gesamten zivilisierten Welt ist – im Sinne der UNO-Charta.
Die siebente Versuchung ist die, gegen den IS jetzt einen „Krieg“ zu proklamieren. Das ist auch hierzulande en vogue; Berthold Kohler hatte seinen Kommentar auf Seite eins der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (bereits am 15. 11. 2015) überschrieben mit: „Weltkrieg“... Kriegsführende Macht zu sein, wertet den „Islamischen Staat“ jedoch auf und attestiert ihm eine Staatsqualität, die er von der Sache her nicht hat. Und es hätte auch völkerrechtliche Konsequenzen, bis dahin, seine „Kämpfer“ als Kombattanten im Sinne des Kriegsvölkerrechts anzusehen, was sie nicht sind. Das sind Kriminelle, die auch als solche zu ergreifen, vor Gericht zu stellen und entsprechend zu bestrafen sind.
Dieser Versuchung zu widerstehen, ist in diesen Tagen wahrscheinlich am schwersten. Der französische Präsident Hollande sieht Frankreich im Krieg, fordert von der EU größere militärische Unterstützung und will innenpolitisch größere Vollmachten. Frankreich ist – zumindest innerhalb der EU – bereits jetzt das Land, in dem die Exekutive die größten Vollmachten hat. Es hat gegen die Anschläge nichts genützt. Sollen die Bürgerrechte im Inland jetzt weitreichender suspendiert werden? Noch mehr Krieg in Syrien und anderswo? Angezeigt ist jetzt, den Friedensprozess in Syrien voranzubringen. Dessen Zeitplan wurde in der jüngsten Wiener Verhandlungsrunde, ebenfalls am 15. November, festgezurrt.