Von Abschiebung zu Abschiebung
Im Oktober 2016 wurde zwischen der Europäischen Union und der afghanischen Regierung das Absichtsdokument Joint Way Forward on Migration Issues between Afghanistan and the EU[1] vereinbart. Rückkehr und Abschiebungen gehören dort zu den „dringenden Themen“ und werden detailliert behandelt. Ziel sei es, „reibungslose, würdevolle und geordnete Prozesse“ (S. 1) für Rückkehr und Abschiebungen zu etablieren und ihre Reintegration in Afghanistan zu unterstützen. Der Joint Way Forward ist also ein Rückübernahmeabkommen unter anderem Titel. Es wird Afghan*innen ohne Aufenthaltsrecht in der EU überlassen, ob sie „freiwillig“ rückkehren möchten oder sonst abgeschoben werden. „Vulnerable Gruppen“ (Frauen, Kinder etc.) sollen besonders sorgsam behandelt und unbegleitete Minderjährige nur abgeschoben werden, wenn es Angehörige gibt, die sie aufnehmen (S. 2f). Seitdem ist die Zahl der Abschiebungen aus Ländern der EU stark angestiegen. Zwischen Dezember 2016 und April 2019 wurden allein aus Deutschland 548 Personen nach Afghanistan abgeschoben. Es liegen mittlerweile einige Studien zu den Erfahrungen der Abgeschobenen vor, die gemeinsam mit der schlechten Sicherheitslage Grund genug sein sollten, alle Abschiebungen -- auch die von Straftäter*innen -- nach Afghanistan auszusetzen.
Das hier dokumentierte Interview wurde im Mai 2018 von der Afghanistan Human Rights and Democracy Organization (AHRDO) geführt. Die AHRDO hat in Deportation to Afghanistan: A Challenge to State Legitimacy and Stability? (2019) Interviews mit rund hundert nach Afghanistan Abgeschobenen in Balkh, Kabul, Herat und Nangarhar geführt. Sie dokumentiert, dass die im Joint Way Forward postulierte Absicht der Reintegrationsunterstützung inexistent ist, vielmehr geht von Polizei und anderen Staatsangestellten ebenso wie von den Taliban und normalen Bürger*innen ein enormes Gewaltpotenzial gegen Abgeschobene aus. Jawed Jafari, dessen Erfahrungen wir hier dokumentieren, kam 1983 in der Provinz Ghazni südwestlich von Kabul zur Welt. Er erzählt von einem Leben im Unterwegs zwischen Afghanistan und Europa. Drei Mal machte er sich auf den Weg nach Europa, überlebte gefährliche Reisen, schlug sich durch. Drei Mal wurde er wieder nach Afghanistan abgeschoben. Heute lebt er in Kabul und arbeitet schlecht bezahlt an drei Tagen wöchentlich in einem Gewächshaus. Von seinen Reisen hat er noch viele Schulden. Seine Geschichte mag extrem erscheinen, enthält jedoch für afghanische Flucht-, Migrations- und Abschiebungserfahrungen typische Elemente: teils Jahrzehnte andauerndes Hin und Her auf teils verworrenen Routen, das Erleben der eigenen Lebensgefahr (75 % der Interviewten), traumatische Erlebnisse wie das Miterleben von Suizid und Tod von Mitreisenden -- aber auch die Entschiedenheit, für ein besseres Leben zu kämpfen. Viele beschrieben das eigene Überleben als Wunder. AHRDO meint zu den Perspektiven der Abgeschobenen: „Es wird enorm schwierig, wenn nicht unmöglich, dahin zurückzukehren, wo sie waren, bevor sie sich für die Reise entschieden.“ (AHRDO 2019: 8) Die Erfahrungen von 55 aus Deutschland Abgeschobenen hat Friederike Stahlmann in ihrer 2019 erschienenen „Studie zum Verbleib und zu den Erfahrungen abgeschobener Afghanen“ (in: Asylmagazin, 8-9: 276-286) ausgewertet. Sie kommt wie AHRDO zu dem Ergebnis, dass sich die Abgeschobenen mit massiven Gewalterfahrungen, der Angewiesenheit auf Unterstützung durch im Ausland lebende Angehörige, einem Leben in Verstecken und Obdachlosigkeit und einer großen Perspektivlosigkeit konfrontiert sehen.
Wir danken der AHRDO für die Erlaubnis zur Übersetzung und Publikation des Interviews. Für den Abdruck haben wir das Interview leicht gekürzt und bearbeitet, anonymisiert (Name des Protagonisten und der Schlepper) und weitere Details weggelassen, die eine Identifikation erlauben könnten.
(Helen Schwenken)
[1] https://eeas.europa.eu/sites/eeas/files/eu_afghanistan_joint_way_forward_on_migration_issues.pdf, letzter Aufruf: 11.10.2019.
Jawed Jafaris Geschichte
Ich war zwei Jahre alt, als meine Familie wegen der Probleme in Afghanistan in den Iran einreiste und sich in Qom niederließ. Dort haben wir 18 Jahre gelebt. Wir hatten auch im Iran kein ruhiges Leben, weil die iranische Regierung afghanische Einwanderer belästigte. Wir durften nicht studieren, insbesondere nicht im Hochschulbereich, deshalb durfte ich nur bis zur zehnten Klasse die Schule besuchen. Wir hatten Angst nach Afghanistan, besonders in unsere Provinz Ghazni, zurückzukehren, weil die Taliban die Grundstücke meines Vaters beschlagnahmten.
Die erste Reise nach Europa: 2000-2007
Im Mai 2000 habe ich mich entschieden nach Europa zu reisen. Wir, vier Afghanen, sprachen mit zwei iranischen Schmugglern, die sich bereit erklärten unsere Reise legal für 8.000 Dollar aus dem Iran nach Großbritannien zu organisieren und uns bis dorthin zu begleiten. Im Juni 2000 waren dann unsere afghanischen Dokumente und Pässe fertig. Die Reise begann, und wir flogen über Istanbul. Von dort sollte es weiter nach Pristina gehen. In Istanbul blieben wir mit weiteren Geschmuggelten eine Woche im Keller eines Hauses und machten uns dann auf den Weg nach Bosnien. Wir blieben zehn Tage im Haus der Großeltern des bosnischen Menschenschmugglers, die sehr nett und gastfreundlich waren. Dann reisten wir nach Tirana in Albanien und blieben vier Tage mit zwanzig Menschen aus verschiedenen Ländern in einem Stall. Das Essen war schlecht, aber es war uns egal, weil wir ans Ziel kommen wollten. Von Albanien wollten wir in die italienische Hafenstadt Lecce fahren. In der ersten Nacht bemerkten wir, dass der Schmuggler uns im Stich ließ und die Küstenwache uns bemerkte. Wir versteckten uns sofort. In der nächsten Nacht fuhren wir mit einem Schlauchboot nach Lecce. Am Strand machten wir es kaputt, damit die Polizisten uns nicht nach Albanien abschieben konnten. Wir riefen unseren Schlepper an, aber er war verschwunden. Als ich meine Familie kontaktierte, hatten sie ihn schon bezahlt. Ich konnte nichts tun. Ich sollte meine eigenen Wege finden. Am nächsten Morgen gingen wir eine unbekannte Straße lang. Nach einer halben Stunde verhaftete die Polizei uns 18 Personen und brachte uns ins Lager Lecce. Dort wurden unsere Fingerabdrücke genommen und Profilbilder gemacht. 21 Tage später kam der Lagerleiter mit einem Dolmetscher zu uns und fragte, ob wir dauerhaft in Italien bleiben wollen. Unsere Antwort war „nein“, weil es in Italien keine Arbeitsmöglichkeiten gibt. Obwohl der Dolmetscher sagte, dass uns in Italien Asyl gewährt würde, haben wir abgelehnt. Sie würden uns ein Dokument geben und wir müssten binnen 15 Tagen Italien verlassen. Wir kauften Bahntickets nach Rom, blieben drei oder vier Tage in einem Park in der Nähe des Kolosseums, um andere Afghanen zu finden, die planten, in andere Länder zu reisen. In Rom ging uns das Geld aus. Leute brachten uns Essen, und wir schliefen im Park. Wir fanden einige afghanische Freunde und beschlossen ohne Ticket mit dem Zug nach Paris zu fahren. Wir versteckten uns unter dem Zug und sobald der Zug fuhr stiegen wir ein. Wenn wir Schaffner sahen, versteckten wir uns auf den Toiletten. In Paris angekommen, mieteten wir uns zu sechst ein Taxi bis zur französischen Küstenstadt Calais. Von dort ging es mit dem Zug durch den Tunnel nach Dover. Wir gingen zur Polizei, die uns in ein Lager in Dover brachte, wo wir zehn Nächte verbrachten. Die Regierung stellte gute Einrichtungen zur Verfügung und zahlte uns monatlich einen Betrag. Im Juli wurden wir nach London umgesiedelt. Wir waren einen Monat in einem Lager. Wir haben unsere Asylanträge mit Hilfe eines Anwalts registriert und wurden dann nach Manchester umverteilt. Mein Prozess dauerte acht Monate, danach erhielt ich ein Einjahresvisum. Während dieser Zeit habe ich legal Kurse besucht und durch Arbeit in einem Hotel etwas Geld gespart.
Als sich der 11. September ereignete und Terroristen die Zwillingstürme der Vereinigten Staaten angriffen, wurden die Asylanträge aller Afghanen abgelehnt. Vor dem 11. September hatten die meisten Afghanen ein Visum für ein bis vier Jahre bekommen und dann unbefristet. Mein Antrag auf eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis wurde zwar bearbeitet, aber der Vorfall vom 11. September zerstörte alles. Im Jahr 2004 verhaftete und deportierte die Polizei viele afghanische Jugendliche. Im nächsten Jahr beantragte ich ein Visum, aber die Antwort war „nein“. Überall wurde gemunkelt, dass alle afghanischen Flüchtlinge Terroristen sind. Das Verhalten der Nachbarn im Dorf, die früher sehr freundlich waren, hat sich total verändert. Die wollten nicht, dass sie selbst oder ihre Kinder uns begegnen. Einer meiner Mitbewohner, dessen Asylantrag abgelehnt wurde und der Angst vor einer Abschiebung hatte, erhängte sich mit dem Kabel eines Wasserkochers. Wir kamen in die Wohnung und fanden seinen leblosen Körper. Wir waren zu spät gekommen.
In einer Nacht um vier Uhr morgens kamen vier Polizisten in meine Wohnung und verhafteten mich. Am nächsten Morgen kam der Dolmetscher und erklärte mir, dass ich jeden Donnerstagmorgen um 9 Uhr zur Polizeistation gehen müsse, um Papiere zu unterschreiben. Sobald ich die Polizeistation verließ, besorgte ich mir einen Anwalt. Er kostete ungefähr 3.500 Pfund. Auch mein neuer Asylantrag wurde abgelehnt. Ich habe meinen Wohnort gewechselt, damit die Polizei mich nicht verhaftet. Ich versteckte mich im Haus von afghanischen Freunden und fand einen Job, aber meine Zukunft war unsicher. Nach fast zweieinhalb Jahren wurde ich Ende 2006 oder Anfang 2007 von der Polizei festgenommen. Die Polizei fragte mich: „Warum bist du nicht jede Woche zur Polizeistation gekommen, um die Dokumente zu unterschreiben?“ Ich habe nicht geantwortet. Die eigentliche Antwort war: Ich wusste, dass die Polizei Afghanen bittet, zur Polizeistation zu kommen, nur um Papiere zu unterschreiben, aber dann hatte sie sie verhaftet und gezwungen, nach Afghanistan zurückzukehren. Ich wollte nicht nach Afghanistan zurückkehren. Nach dem Prozess brachten sie mich nach London. Ich verbrachte zwei Nächte im Keller des Flughafens in einem Zimmer speziell für Rückkehrer. Von dort aus bin ich dann nach Afghanistan abgeschoben worden.
Am Flughafen gab es ein kurzes Interview und auf den uns zugestellten Dokumenten wurde ein freiwilliger Rückführungstitel eingefügt. Obwohl ich in meinem Interview protestiert habe, dass ich nicht nach Afghanistan zurückkehren will, war es erfolglos. Ein afghanischer Junge hat auch protestiert und war sehr laut, auch erfolglos. Das Interview war nur eine Show, niemand war da, um uns wirklich zuzuhören. Wir waren gezwungen, die Dokumente als freiwillige Rückkehrer zu unterschreiben. Dann wurde uns versprochen, 1.800 englische Pfund von der englischen Regierung zu erhalten, sobald wir am Flughafen von Kabul ankamen, aber wir erhielten nichts. Meine erste Reise kostete mich 8.500 Dollar, die ich von meiner Familie und meinen Freunden ausgeliehen hatte. Als ich nach Afghanistan zurückkam, arbeitete ich hart und musste die Kredite zurückzahlen. Meine Familie kehrte auch nach Afghanistan zurück, weil sich das Leben der Afghanen im Iran ebenfalls verschlechterte. Unsere Grundstücke wurden vollständig von den Taliban beschlagnahmt, und mein Cousin hatte wegen Widerstand gegen die Taliban sein Leben verloren.
Die zweite Reise nach Europa: 2008-2012
Die zweite Reise war nicht einfach und begann Mitte 2008 von Kabul aus. Der Schleuser versprach, unsere Reise über die Türkei in die Schweiz für 9.000 Dollar zu organisieren. Wir waren zwei afghanische Reisende und brauchten 11 Tagen um nach Teheran zu kommen. Zwei Tage warteten wir auf unseren gefälschten Reisepässe. Dann überquerten wir als Iraner mit einem Visum die türkische Grenze. Nach drei Monaten hat uns der Schlepper von Istanbul in eine Hafenstadt gebracht. Ein afghanischer Schlepper gab uns ein Motorboot, womit wir zur griechischen Insel Lesbos fuhren. In der gleichen Nacht gingen wir 12 Stunden zu Fuß in die Stadt. Dort verbrachten wir eine Woche im Haus eines afghanischen Schleppers. Unter seiner Anleitung kauften wir Tickets und fuhren mit einem Boot nach Athen. Niemand fragte nach unserem Ausweis. Wir suchten einen Monat lang nach einem Schlepper und fanden schließlich jemanden, der versprach, uns falsche Dokumente zu machen, damit wir nach Italien fahren konnten. Wir zahlten ihm 500 Euro, aber dann war er verschwunden. Da wir nicht genug Geld hatten, beschlossen wir, als blinde Passagiere auf einer Fähre zu reisen. Wir versteckten uns 18 Stunden in einem gekühlten LKW zwischen Mandarinenkisten. Wir dachten, wir würden erfrieren. Es war ein Wunder, dass wir überlebt haben. Als das Schiff im Hafen von Ancona ankam, warteten wir darauf, dass der LKW die Fähre verlässt. Nach der Losfahrt warteten wir noch eine Stunde, und fingen dann an zu schreien. Aber der Fahrer hielt nicht an. Als er die Tür schließlich öffnete und uns sah, schimpfte er mit uns. Er war wütend und verängstigt. Nach italienischem Recht ist Menschenschmuggel ein schweres Verbrechen. Wir gingen sofort weg. Wir gingen auf die Lichter einer Stadt zu. Da wir die Stadt nicht erreichen konnten, schliefen wir unter einer Brücke. Wir mieden die Hauptstraßen. Als wir in der Stadt ankamen, sahen wir schrecklich aus. Wir gingen in ein Hotel, aßen etwas und baten die Rezeption, ein Taxi für uns zum Bahnhof zu rufen. Dort kauften wir uns Tickets nach Rom. Die Polizei erwischte uns im Zug, nahm unseren Fingerabdruck und ließ uns frei. Wir waren zehn Tage in Rom und haben einige Afghanen kennengelernt. Mit ihrer Hilfe fanden wir den Weg in die Schweiz. Sobald wir in der Schweiz ankamen, wurden wir von der Polizei gefasst, unsere Fingerabdrücke wurden erneut genommen, und wir wurden in ein Lager gebracht. Ich war acht Monate dort, aber als die Behörden meine Fingerabdrücke aus anderen Ländern fanden, lehnten sie meinen Asylantrag ab. Ich wollte die Hoffnung nicht verlieren und reiste nach Frankreich. Von dort wollte ich weiter nach Großbritannien kommen. Aber dann hat Frankreich mich nach Afghanistan abgeschoben, es war mittlerweile das Jahr 2012. Am Flughafen interviewte mich eine Frau und ich betonte, dass ich nicht nach Afghanistan zurückkehren möchte. Aber sie sagte, dass es für mich unmöglich sei, in Frankreich zu bleiben, weil mein Fingerabdruck in drei anderen europäischen Ländern gefunden wurde. IOM (International Organzation for Migration, HS) versprach mir 6.000 Euro, aber ich erhielt nur 600 Euro am Flughafen Kabul. Ich habe auf dieser Reise zu viel Geld verloren und war verschuldet.
Die dritte Reise nach Europa: 2015-2017
Als ich nach Afghanistan zurückkehrte, war die wirtschaftliche Situation meiner Familie sehr schlecht. Mein Vater starb und meine Mutter war schwer krank. Für meine zweite Reise machte ich rund 7.000 Euro Schulden. So viel Geld konnte ich in Afghanistan nie verdienen, deshalb habe ich mich Ende 2015 entschlossen, noch einmal zu reisen. Ich lieh mir etwas Geld von meinen Onkeln. Diesmal reisten viele Familien und Kinder nach Europa. Das Schlimmste war, mit einer afghanischen Familie mit einem sechs Monate alten Baby diesen gefährlichen Weg zu reisen. Der Schlepper erklärte sich bereit, mir ein Visum für die Türkei zu besorgen. Er wusste über meine schlechte wirtschaftliche Situation Bescheid. Er gab mir die Adresse seines Cousins in Istanbul, der dort ein Hotel besaß. Ich habe vier Monate im Hotel gearbeitet, um den Schlepper zu bezahlen. Einer meiner Freunde stellte mich anderen Reisenden vor und sagte ihnen, dass ich den Weg wirklich gut kenne. Deshalb wurde ich diesmal Kapitän des Bootes und brachte die Reisenden aus der Türkei nach Lesbos. Sobald wir in Lesbos ankamen, nahmen uns die Polizisten fest und brachten uns ins Lager. Sie haben auch meinen Fingerabdruck genommen. Nach zwei Monaten im Lager reiste ich nach Athen. Ich verbrachte sechs Monate in Athen und arbeitete schwarz in einem Oliven- und Orangengarten. Ich verdiente so wenig Geld, dass ich manchmal meine Miete nicht bezahlen konnte.
Wieder gingen wir zum Hafen von Patras und blieben dort drei Monate. Ich hatte kein Geld mehr. Ich habe mich wieder in einem LKW auf der Fähre nach Italien versteckt. Der Fahrer hat mich gesehen, aber nichts gesagt. Diesmal waren dort Melonen. Es war so kalt wie beim letzten Mal, und ich war kurz davor, wegen der Kälte zu sterben. Aber ich habe überlebt. Als die Fähre in Venedig anhielt, stieg ich aus dem LKW. Von Venedig wollte ich nach Frankreich und von dort nach Großbritannien reisen. Ich wusste, dass meine Fingerabdrücke in vielen Ländern aufgenommen wurden und ich keine Chance habe, dort ein Bleiberecht zu bekommen. Ich wollte nur in Großbritannien schwarz arbeiten, um meine Schulden bezahlen zu können. Ich ging nach Nizza, dann für drei Monate nach Paris, dann in die Hafenstadt Calais. Ich wollte nach England reisen, aber es war sehr schwierig, ohne Papiere zu reisen. Ich habe sechs Monate damit verbracht, es zu versuchen, bis ich von der Polizei verhaftet wurde. Sie sperrten mich eine Woche lang ein und brachten mich dann in ein Lager. Die Geschichte meiner dritten Europareise hat sich in Calais verbreitet. Reporter kamen, um mich zu interviewen und machten Fotos. Sogar die Reporter und die Polizei machten sich über mich lustig, egal wie viel ich ihnen über meine Probleme und die Situation in Afghanistan erzählte. Es brachte nichts. Nach einer Woche wurde ich zum Flughafen in Paris gebracht und nach Afghanistan abgeschoben. In Kabul Flughafen erhielt ich 600 Euro und nicht den versprochenen Betrag.
Ich habe 14 Jahre meiner Jugend verloren und war mit zahlreichen Schwierigkeiten konfrontiert, mich in Europa niederzulassen. Ich wollte die Hoffnung nicht verlieren. Ich sah, wie mein Freund vom Zug überfahren wurde und sein Leben verliert, als er versuchte, ohne Fahrkarte in einen fahrenden Zug einzusteigen. Ich ging weiter voran. Ich habe die Hoffnung nicht verloren. Ich wurde von der Polizei in der Türkei, in Griechenland und in Frankreich geschlagen. Ich wurde von den Behörden in Frankreich verspottet, als sie meine Geschichte hörten. Aber ich hielt durch, manchmal lächelte ich sogar den Leuten zu, die sich über mich lustig machten, und ging weiter. Auf dem Papier war ich freiwillig zurückgekehrt, aber tatsächlich wurde ich dreimal gegen meinen Willen abgeschoben. Das Schlimmste ist, dass ich aufgrund meiner wiederholten Abschiebungen einen Minderwertigkeitskomplex entwickelt habe. Zu Hause werde ich als Versager gesehen, der es nicht schaffen konnte, in Europa seinen Lebensunterhalt zu verdienen, deshalb vermeide ich Familientreffen und gesellschaftliche Veranstaltungen. Meine derzeitige Situation in Afghanistan ist düster, aber ich kann nicht mehr nach Europa reisen. Die afghanischen Regierungen, Hamid Karzai und Ashraf Ghazni, kommen nach Europa und lügen, dass in Afghanistan alles in Ordnung ist. Ghazni lügt, dass er afghanische Jugendliche als Arbeitskräfte in Afghanistan braucht. Es gibt keine Jobs. Es gibt keine Sicherheit. Die Arbeitslosigkeit ist unter Ghazni auf dem Höhepunkt. Die Regierung ist kriminell und kümmert sich nicht um uns Bürger. Die Taliban haben einen stärkeren Einfluss auf die Provinz Ghazni als zuvor, daher kann ich nicht einmal davon träumen, das Land meines Vaters zurückzugewinnen.
Übersetzung aus dem Dari: Parnian Anbari
Bearbeitung: Helen Schwenken
https://doi.org/10.3224/peripherie.v39i3.07