"Das dürfte in Europa eigentlich nicht passieren"

Das Problem der Internationalen Beziehungen aus Sicht des Globalen Südens

„Meine Damen und Herren! Dieser 24. Februar ist ein furchtbarer Tag für die Ukraine und ein düsterer Tag für Europa. Mit seinem Angriff auf die Ukraine bricht der russische Präsident Putin abermals eklatant das Völkerrecht. Putin bringt damit Leid und Zerstörung über seine direkten Nachbarn. Er verletzt die Souveränität und die Grenzen der Ukraine. Er gefährdet das Leben von unzähligen Unschuldigen in der Ukraine, dem Brudervolk Russlands. Letztlich stellt er damit auch die Friedensordnung unseres Kontinents infrage.“
(Olaf Scholz, 24. Februar 2022)

„Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents.“
(Olaf Scholz, 27. Februar 2022)

Es kann keinen Zweifel geben, dass Russlands Einfall in die Ukraine das seit dem Zweiten Weltkrieg gepflegte Selbstbildnis Europas als Friedenszone, in Frage gestellt hat. Als Präsident Putin am 24. Februar 2022 die militärische Invasion in der Ukraine sanktionierte, waren die Reaktionen der europäischen Regierungen weitgehend einheitlich: allgemeiner Schock, Unglauben und Entrüstung. Der oben zitierte deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz brachte diese Stimmung zum Ausdruck. Für sie steht die unverfrorene Aggression und das militärische Abenteuer Vladimir Putins im Gegensatz zu den Normen und dem Ethos eines stabilen, prosperierenden und regelbasierten Europas. Folglich drohte die russische Invasion die entscheidenden kulturellen und ideologischen Annahmen und Vorstellungen zu zerreißen, auf denen Europa sein Selbstbild aufgebaut hat. Dennoch ließ sich Europa von der russischen Bedrohung nicht abschrecken, an seinem Selbstverständnis festzuhalten, nach dem es sich nicht nur Russland entgegenstellte, sondern zugleich zwei parallele, freilich konvergierende Projekte hochhielt: Das erste ist die Ausweitung der liberaldemokratischen europäischen Sphäre auf ehemals kommunistische Staaten in Osteuropa. Das zweite betrifft das Recht der North Atlantic Treaty Organization (NATO), ihren Sicherheitsschirm auf jeden Ort in Europa auszudehnen und die Ukraine sowie andere Staaten, die dies wünschen, als Ausdruck ihrer Selbstbestimmung Mitglied werden zu lassen. Von der Gerechtigkeit dieser Positionierung überzeugt, waren die Öffentlichkeit und meinungsbildende Instanzen in Europa überrascht, dass viele Staaten, besonders in Afrika, noch nicht ausreichend davon überzeugt sind, dass die Missbilligung der russischen Invasion logisch dazu führen müsse, sowohl das europäische Selbstbild als friedlich und wohlmeinend, wie auch die Ausweitung der NATO gutzuheißen, ohne dass legitime Fragen aufgeworfen würden. Wir behaupten in diesem Beitrag, dass es moralisch möglich ist, die russische Invasion in der Ukraine zu missbilligen und sich dennoch ein Urteil über die Begründung und die Klugheit der europäischen und transatlantischen Reaktionen darauf vorzubehalten.

Wir pflichten bei, dass es wenig Rechtfertigung für die Invasion Russlands in der Ukraine gibt. Vielmehr ist es Ziel dieses Artikels, den Äußerungen von Angehörigen afrikanischer Eliten – politischer Führungspersönlichkeiten wie Meinungsmacher:innen – genauer nachzugehen, die eine Diskussion über die russische Invasion entlang der übergreifenden Fragestellungen zur existierenden internationalen Ordnung und einer Neustrukturierung des internationalen Systems fordern. Die engen Grenzen der gegenwärtigen Debatte zeigen sich anhand der Auseinandersetzung in Deutschland anlässlich der weitgehenden Enthaltung afrikanischer Staaten bei der Abstimmung über die Resolution der UN-Generalversammlung von März 2022, in der Russland aufgefordert wurde, sich aus der Ukraine zurückzuziehen. Ebenso deutlich zeichnen sie sich in dem Gesetzentwurf für eine Concerning Malign Activities in Africa Act im US-Senat vom 28. April 2022 (Fabricius 2022a) ab. Zusammengenommen machen diese Fälle deutlich, dass sich die entsprechenden Narrative über irregeleitete Afrikaner:innen mit hartnäckigen Annahmen verbinden, nach denen „Europa“ und der „Westen“ im Gegensatz zu Russland und, aus der Sicht mancher auch zum Globalen Süden, Träger der internationalen Normen und der internationalen Moral seien. Das hat für die globalen Debatten über den gegenwärtigen Konflikt zwei miteinander verknüpfte Konsequenzen.

Zum einen wurden auf der Grundlage solcher Abgrenzungen die Forderungen formuliert, sich den europäisch-westlichen Positionen im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine anzuschließen. Zum andern wurden differenzierte Formulierungen einer bündnisfreien Position durch verschiedene afrikanische Diplomat:innen entlegitimiert, die der Vorstellung entgegentraten, Europa und der Westen hätten einen exklusiven Anspruch auf moralische Reife und ethische Überlegenheit gegenüber anderen Regionen und Akteur:innen. Die afrikanischen Ansichten und Positionierungen, wie sie aus formellen Stellungnahmen und dem Abstimmungsverhalten bei den Vereinten Nationen hervorgehen, beruhen auf ebenso nachvollziehbaren historischen, moralischen und ethischen Argumenten, die zur Vorsicht gegenüber der unhinterfragten Übernahme einer einseitigen Sicht auf den Konflikt gemahnen. Sie bestehen insbesondere auf einer genauen Prüfung einer Reihe von Facetten des Konflikts: etwa, dass die Frage der ukrainischen Souveränität und Selbstbestimmung einschließlich des Wunsches nach NATO-Mitgliedschaft zusammen mit Russlands nationalen Sicherheitsinteressen betrachtet wird, die wiederum aus der Bedrohung durch eine Stationierung von Atomwaffen in der Nähe seiner Grenzen im Rahmen der Bündnissysteme und angesichts militärischer Gegnerschaft hervorgehen. Beides steht in paralleler, aber konflikthafter Beziehung zu den Bestrebungen der NATO, ihren Sicherheitsschirm in Europa auch bis an die Grenzen Russlands auszudehnen. Die Unfähigkeit, sich ernsthaft mit der von Afrikaner:innen aufgezeigten Komplexität dieser Probleme zu befassen, wirft Fragen auf hinsichtlich des Elends europäisch-westlicher Konzepte der internationalen Beziehungen. Die auf diesen beruhenden Methoden und Praktiken verstellen innerhalb des aktuellen Konflikts den Weg zu globalen Lösungen.

Die damit einhergehenden Einsprüche und die Suche nach einer internationalen Ordnung jenseits ihrer Verewigung als eindeutig europäisch-westliches Projekt machen diese Vorstellungen entschieden zum Moment einer Bewegung des Globalen Südens, wie auch unser Untertitel unterstreicht. Entsprechend verstehen wir „Globaler Süden“ als einen Begriff, der „den Geist der Programmatik der Dritten Welt“ erfasst, der „noch immer zur Überprüfung der intellektuellen, politischen und moralischen Grundlagen des internationalen Systems anhält“ (Grovogui 2011: 176). Dieser Geist ist räumlich wie zeitlich im (unabgeschlossenen) Projekt der Entkolonisierung sowie der Herausbildung von nationalen und internationalen Ordnungen nach der Unabhängigkeit verortet, die innerhalb der zuvor kolonisierten Einheiten aufgetreten sind. Doch ist die „symbolische Markierung“, die dem Terminus „Globaler Süden“ anhaftet, weder auf diese Orte beschränkt noch gleichmäßig über diese verteilt (ebd.: 176). Hier greifen wir auf die Ansichten ausgewählter afrikanischer Führungspersönlichkeiten, Diplomat:innen und politischer Entscheidungsträger:innen zurück, um exemplarisch zu zeigen, worum es bei einer Sicht aus dem Globalen Süden auf den gegenwärtigen Krieg zwischen Russland und der Ukraine geht. Dabei beanspruchen wir nicht, eine repräsentative Übersicht über das politische Denken zu geben, das innerhalb der geographischen Region aufgetreten ist, die oft mit dem Terminus „Globaler Süden“ verbunden wird, soweit sie im Gegensatz zum „Globalen Norden“ steht. Dennoch handelt es sich bei den folgenden Beispielen nicht nur um provinzielle oder volkstümliche Wiederholungen des Widerstands gegen Unterdrückung. Vielmehr umfassen die universellen Zielsetzungen der Nicht-Aggression, Gleichheit und Gegenseitigkeit, wie sie in den hier untersuchten afrikanischen Vorschlägen und Positionen zur auswärtigen Politik hochgehalten werden, ein alternatives und damit paralleles internationales Projekt des Multilateralismus im Gegensatz zur Expansion der NATO. In der Überzeugung, dass Sensibilität gegenüber diesem Erbe des Globalen Südens als spezifischem intellektuellem und politischem Projekt unerlässlich ist, wollen wir ganzheitlich erfassen, was in dem gegenwärtigen Konflikt sowie den unterschiedlichen internationalen Reaktionen darauf auf dem Spiel steht.

Eine Krise öffnet ein Opportunitätsfenster

Es besteht nahezu allgemein Einigkeit, dass die Aggression Russlands gegen die Ukraine die Chance eröffnet, die Grundlagen der internationalen Beziehungen zu überprüfen. Es wäre nicht das erste Mal, das eine Krise zum Anstoß wird, das internationale System neu zu überdenken. Die gegenwärtige Ordnung ist selbst das Ergebnis der letzten großen Krise, die den Planeten erfasst hatte: des Zweiten Weltkriegs. Die damaligen Protagonisten auf westlicher und sowjetischer Seite erreichten eine Reihe von Abkommen, die zu der Konfiguration der Weltpolitik führten, wie sie bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion und darüber hinaus Bestand hatte. Diese Abkommen sind zuweilen unter den Namen der Städte bekannt, wo sie abgeschlossen wurden – in alphabetischer Reihenfolge: Bretton Woods, Dumbarton Oaks, Genf, Jalta, Nürnberg, Potsdam, San Francisco usw. Diese Foren waren unterschiedlich weit, manche beschränkter, manche offener und genauer. Auf jeden Fall bestand unter den damaligen Mitgliedern der internationalen Gemeinschaft – unter Ausschluss der gewaltigen kolonialen Provinzen Europas – eine nahezu allgemeine Übereinstimmung über die anstehenden Probleme. Diese fanden Ausdruck in der Atlantik-Charta, der UN-Charta, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, den Nürnberger und Tokyoter Prozessen, den Genfer Konventionen usw.

Es besteht heute ebenfalls ein nahezu universeller Konsensus, dass Russland bei seinem Konflikt mit der Ukraine der Aggressor-Staat ist. Doch aus Sicht einiger der ehemaligen kolonialen Provinzen vor allem in Afrika haben Europa und die NATO sich nicht ausreichend und zum Zwecke universeller Beratungen mit der wirklichen Ursache des Krieges und dem Charakter der Probleme des globalen Regierens auseinandergesetzt, die dadurch aufgeworfen werden. Das atlantische Bündnis scheint scharfe Resolutionen gegen Russland und militärische Unterstützung der Ukraine an die Stelle offener und inklusiver Beratungen über die Mittel gesetzt zu haben, mit denen die internationale Politik gegenüber der Aggression, Kriegsführung und den dahin führenden Instrumenten sowie der entsprechenden Moral stabilisiert werden kann. Im Ergebnis hat sich die Debatte über eine mutmaßliche Störung der internationalen Ordnung und einen Bruch in der nationalen Moral in eine Debatte über Rechtschaffenheit verwandelt, in der Europa Russland gegenübergestellt werden muss, um ein exklusives europäisches Projekt und damit verbundene transatlantische Militärdoktrinen zu rechtfertigen.

Die Argumente sind nicht abwegig, aber irreführend. Seit dem zweiten Weltkrieg haben Europa und andere westliche Mächte kognitive, symbolische, kulturelle und materielle Ressourcen der Förderung des globalen Friedens gewidmet. Diese hatten den Anspruch, Ausdruck der normativen Ordnungen des Rechts, der Ethik und der Moral zu sein; Unterstützung von Demokratie und Menschenrechten; ferner Entwicklungshilfe und Investitionen in die Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen auf der ganzen Welt.

Dieser Eindruck wird durch Vieles bestärkt. In Vorwegnahme des Sieges der Alliierten versprachen F. D. Roosevelt und Winston Churchill lange vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der Atlantik-Charta (1941), dabei zu helfen, eine Welt selbstbestimmter Einheiten zu schaffen, die keine territorialen Erweiterungen gestattet. Im Nachgang zu dieser Erklärung spielten die USA und ihre Alliierten eine wesentliche Rolle beim Entwurf der Charta der Vereinten Nationen; der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte; und der Schaffung des Internationalen Gerichtshofs neben einer Reihe anderer UN-Institutionen, die internationale Verantwortung wahrnahmen wie die UN-Organisation für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation (UNESCO). Wie im Fall der Atlantik-Charta warteten die USA nicht bis zum Ende des Krieges, um die neue Weltordnung vorwegzunehmen. So luden sie etwa 1944 vierundvierzig Staaten zu einem Treffen ein, das zur Schaffung der sogenannten Bretton-Woods-Institutionen führte: des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Internationalen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (Weltbank). Diese Haltung fand ihren Höhepunkt 1948 im Marshall-Plan, einer massiven Investitionshilfe in die wirtschaftliche und politische Infrastruktur Europas. 1949 verkündete Präsident Truman dann sein Point-IV-Programm zur technischen Unterstützung von Entwicklungsländern. Dieses Programm eröffnete eine Ära der Entwicklungshilfe, die Nacheiferung bei fast allen europäischen und westlichen Mächten fand.

All dies verstärkte europäische und westliche Narrative über sich selbst und über Andere. Eines der wichtigsten Charakteristika der europäisch-westlichen Selbst-Erzählung ist das Gefühl des Außerordentlichen. Dieses Gefühl wird durch den Glauben gerechtfertigt, dass Europa kraft seiner Vernunft, Wissenschaft sowie moralischer und materieller Fortschrittlichkeit einzigartig dazu geeignet sei, anderen Führung, Gesetze und Normen vorzugeben. Dabei steht die Vernunft als Produkt kultureller und wissenschaftlicher Errungenschaften an erster Stelle. Darauf folgt, dass Europa durch die bittere eigene Geschichte von Kriegen gezwungen wurde, sich Regime der Ordnung und Normen zu verschreiben, die es zu friedlichem Verhalten zwingen und vorwärtstreiben.

Die Annahmen, die diesen Narrativen zugrunde liegen sind weder neu noch auf wenige beschränkt. Der Blick auf Europa als einen ganz besonderen Raum friedlicher und aufgeklärter Einheiten stellte eines der ideologischen Fundamente für die Neubestimmung der internationalen Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg dar. Diese Annahmen nahmen einen wesentlichen Platz unter den ideologischen und moralischen Voraussetzungen ein, die die Normen und avisierten zulässigen Verhaltensweisen in den internationalen Beziehungen prägte. So bestimmt Artikel 38 des Statuts des Internationalen Gerichtshofs (International Court of Justice o.J.), dass „internationale Konventionen“ und „internationale Gebräuche“, verstanden als „die allgemeinen, von zivilisierten Staaten akzeptierten Prinzipien“ neben „den Lehren der höchstqualifizierten Autor:innen verschiedener Nationalität“ die Richter:innen leiten und die Organisation und Funktionsweise des Gerichts selbst bestimmen sollen. Hinsichtlich der gegenwärtigen internationalen Rechtsprechung und der ihr zugrunde liegenden normativen Aussagen kann es keinen Zweifel über die Ursprünge der Lehrenden und Lehren solcher Prinzipien geben.

Die Vorstellung, dass Europa und der Westen eine notwendige und unverzichtbare Führungsrolle einnehmen sowie Gesetze und Normen für sich selbst und den Rest vorgeben müssten, ist keine isolierte Erscheinung. Sie beruht auf der Unterscheidung zwischen den Zivilisierten und den nahezu oder gänzlich Unzivilisierten: den metaphorischen Lehrer:innen und Schüler:innen sowie symbolisch gesagt zwischen friedlichen und unfriedlichen Akteur:innen. Wenn diese Darstellung auch längst aus dem expliziten öffentlichen Diskurs verschwunden ist, so kommt ihre Logik doch bis auf den heutigen Tag in den informellen Mechanismen zum Ausdruck, welche die Arbeit des UN-Sicherheitsrats bestimmen. Demnach haben die drei westlichen ständigen Mitglieder des Rats die sogenannte P-3 gebildet, der sie die Rolle der „Federführung“ zugewiesen haben. Damit können sie die Verhandlungen, über die auf der Tagungsordnung des Gremiums stehenden Resolutionen und deren Formulierung leiten und so seine Prioritäten festlegen (UN Security Council 2021). Dem liegt die implizite Annahme zugrunde, dass die Hegemonie Europas und des Westens global von normativem Nutzen, wenn nicht ein wünschenswertes universelles Gut sei.

Diese Vorstellung ist auch für die heute bestehende präsumtive Sicherheitsordnung zentral, die durch aufeinanderfolgende Schritte entstanden ist, welche von den Vereinigten Staaten ausgingen. Die NATO erschien formal als Sicherheits- und politisches Organ mit friedlichen Absichten: für die internationale Ordnung Stabilität durch den Schutz und die Ausweitung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu schaffen. Und wirklich bezog der Vertrag, der sie 1949 begründete, Europa von ehemaligen Alliierten bis zu einstigen Achsenmächten, liberale Demokratien ebenso wie einstige Nazis und Faschisten in eine größere demokratische Sphäre ein, die an Rechtsstaatlichkeit gebunden und der Selbstbestimmung verpflichtet sein sollte. Das trifft jedoch nur teilweise zu. Die NATO vertrat auch die Gegenüberstellung von zivilisiert und unzivilisiert entlang der Achsen von Region, Religion und „Rasse“. Noch vor dem Abschluss des Nordatlantikpakts verankerten führende US-Politiker:innen einen zivilisatorischen Diskurs in der Zielrichtung der künftigen Allianz. Wegweisend charakterisierte George Kennan (1947) in seinem Artikel „The Forces of Soviet Conduct“ in Foreign Affairs das Verhalten der Sowjetunion als wesensmäßig einer friedlichen Koexistenz feindlich. Das ergab das Bild einer ansteckenden ideologischen und militärischen Haltung der Sowjetunion, die es einzudämmen gelte, um ihre Ausbreitung über das von sowjetfreundlichen Kommunisten kontrollierte Osteuropa hinaus zu verhindern.

Generationen von westlichen und US-Politiker:innen, Wissenschaftler:innen und Meinungsmacher:innen akzeptierten Kennans Ansichten und Unterstellungen über russische Geschichte, russische politische Kultur und russische imperiale Ziele.[1] Russlands vorgeblich slawischen Erbschaften und Charakterzügen wurde nachgesagt, sie seien in Wesen und Form untrennbar mit der Sowjetmacht verknüpft. Damit setzten sie diese ab vom liberalen, progressiven, aufgeklärten und toleranten „Europa“, aus dem Russland ausgeschlossen blieb.[2] Heute stehen Überlegungen zu Putins „Irrationalität“ und seiner „Sturheit“ in Verbindung mit solchen Narrativen, von denen man annimmt, sie würden durch Putins Mitgliedschaft im sowjetischen Geheimdienst KGB noch verstärkt. Das wird auch deutlich, wenn gesagt wird, Putins Kontrolle über Russland stütze sich auf slawischen Fatalismus, der nur gelegentlich durch die aufkeimende Hoffnung auf „tapfere“ junge Dissident:innen durchbrochen wird.

Aus diesen Gründen haben Europa und der Westen lange Zeit russische Dissident:innen gefördert, die sich an europäischen Projekten für Staat, Gesellschaft und Wirtschaft orientierten. Die westliche Politik, eine aufgeklärte russische Opposition dem russischen Staat und seiner Führung entgegenzustellen, verstärkte sich nach dem Helsinki-Abkommen von 1975. Dieses Abkommen regte die Entstehung zivilgesellschaftlicher Organisationen wie der Helsinki-Gruppen an, denen es allein darum ging, die staatlich bestimmte Orthodoxie in Politik, Gesellschaft und Kultur in Frage zu stellen. Geopolitisch bestätigte das Helsinki-Abkommen den politischen Dreiklang, der zur aktuellen Lage führte: 1) Russland dadurch einzudämmen, dass man es salopp gesprochen zuhause klein und aus dem europäischen Projekt heraushielt; 2) Bewegungen und Parteien der russischen Opposition in den Bereichen von Medien, Finanzen und Ideologie zu unterstützen; 3) wenn nötig, sich an militärischen, politischen und kulturellen Konfrontationen zu beteiligen. Dementsprechend schwankten die westlichen Einstellungen und politischen Initiativen gegenüber Russland zwischen Annäherung, Indifferenz und Konfrontation. Daher kann der nahezu einhellige Konsens im Westen nicht überraschen, dass Putin weder kulturell noch temperamentsmäßig geneigt ist, seinen lang gehegten Wunsch „wegzuverhandeln“, das zaristische Russische Reich wiederherzustellen. Diese Annahmen werden politisch in die Rechtfertigung für die NATO übersetzt, ihren nuklearen Schutzschirm an die Grenze Russlands mit der Ukraine vorzuschieben. Diese scheinbar gutwillige Sicht instrumentalisiert das Prinzip der Selbstbestimmung der Ukraine als guten Vorwand, um mit dem Ziel der NATO-Erweiterung voranzukommen.

Nichts von alledem ist ironisch, sarkastisch oder als Verteidigung Putins gemeint. Es sind jedoch zwei Klarstellungen über die Schwierigkeiten notwendig, einen allgemeinen Konsens nicht allein über die russische Aggression, sondern auch über geeignete Gegenmaßnahmen zu erziehen. Die Politiker:innen haben es nur vermocht, Sanktionen gegen Russland zu verhängen und Waffen an die Ukraine zu liefern. Darüber hinaus sind die europäischen und westlichen Reaktionen durch politische Erinnerung oder Geschichte bestimmt, sowie wahrgenommene nationale Interessen und die Besorgnis, destabilisierende und unhaltbare Präzedenzfälle zu schaffen. Für einen Großteil Europas liefert der Kalte Krieg den Kontext, in dem die russische Politik von heute bewertet wird. Hier spiegelt sich der oben bereits benannte Punkt: Eine Mehrheit der Politiker:innen in Europa und dem Westen wollen einen Gegensatz zwischen einem rechtschaffenen Europa und einem kriegslüsternen Russland aufrechterhalten. Damit hängt die Erzählung zusammen, dass Putin konstitutiv unfähig sei, Logik oder die Lehren der Geschichte zu beachten, zu denen das universelle Streben der Völker und Nationen nach Selbstbestimmung gehört.

Dennoch haben sich die Politiker:innen schwer getan, kohärente Schlussfolgerungen für ihre Politik zu ziehen, was gelegentlich Verwirrung gestiftet hat. So beschwor Frankreichs Präsident Emmanuel Macron einmal seine NATO-Kolleg:innen, sie sollten nicht der Versuchung erliegen, Putin zu demütigen, und verwies auf die vermeintliche Demütigung Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg. Ähnlich gab es Inkonsistenzen in den ehemaligen sowjetischen Provinzen Osteuropas im Unterschied zu den zentral- und westeuropäischen Staaten über den Zeitplan und das Ausmaß der Integration der Ukraine in die NATO. Wie in Westeuropa wurden die Diskussionen durch rezente Erinnerungen an sowjetische Eingriffe und Besatzungen befeuert. In den entsprechenden Erzählungen ist die Sowjetunion oft von Russland nicht zu unterscheiden. Dennoch bestand kein allgemeiner Konsens darüber, wie angesichts der russischen Aggression vorzugehen sei. Nicht alle teilten die polnische Überzeugung, dass Frieden nur durch stärkere militärische Bündnisse zwischen der Ukraine und der Europäischen Union sowie die sofortige Gewährung der NATO-Mitgliedschaft für die Ukraine zu erreichen sei. Vor allem Staaten des Balkans und slawische Staaten zögern, russische Anliegen einfach abzulehnen. So hat etwa Bulgarien vor dem absoluten Ansatz gewarnt, dass Russland bedingungslos seine Niederlage eingestehen und sich hinter seine Grenzen zurückziehen müsse. Kurz, selbst übereinstimmende Erinnerung führt nicht zu politischer Konvergenz.

Nicht überraschend hat sich Russland gegen die Vorstellung gewandt, das Recht der Ukraine auf Selbstbestimmung negiere seine eigenen Sicherheitsinteressen und es dürfe demnach diese Interessen nicht zur Geltung bringen. Russland liegt in diesem Punkt nicht gänzlich falsch. Die Annahme, dass Selbstbestimmung und Sicherheitsregime den Anforderungen einer friedlichen Koexistenz entsprechen müssen, ist weder neu noch bewegt sie sich außerhalb internationaler Rechtsnormen. Die USA gingen 1962 während der Kuba-Krise um die Stationierung von Raketen auf der Insel bis an die Schwelle eines Krieges, um ihre Sicherheitsinteressen zu wahren. Die Konfrontation zwischen den beiden Nuklearmächten beruhte darauf, dass Präsident John F. Kennedy die Aufstellung sowjetischer Raketen auf Kuba nicht akzeptieren konnte. Er verstand das Verbot sowjetischer Raketen auf Kuba als Überlebensfrage und daher als seine primäre Pflicht als Oberkommandierender der US-Streitkräfte. Er argumentierte damals, dass kein Land es einer denkbar oder real gegnerischen Macht erlauben würde oder dürfe, potenziell schädliche Waffensysteme in Schlagdistanz zu seinen Grenzen aufzufahren. Genauso argumentieren heute russische Politiker:innen, dass es moralisch inkonsequent sei, Russland denselben Rechtsanspruch auf die Abwendung einer Bedrohung zu verweigern, die unumkehrbar werden könnte. Aus dieser Perspektive bleibt Russland nur die Wahl, das, was es als die unausweichliche Konsequenz aus der militärischen Präsenz der NATO in der Ukraine versteht, nicht hinzunehmen.

In weiterem Widerspruch gegen Europas Selbst-Erzählung verweist Russland häufig auf die westliche Feindseligkeit und Einmischung in seine Politik, einschließlich von Versuchen, seine Souveränität zu untergraben. So unterstützen im Russischen Bürgerkrieg (1918-1922) Frankreich, das Vereinigte Königreich, die Vereinigten Staaten und selbst Japan die Weiße Armee auf unterschiedliche Weise und an unterschiedlichen Orten, etwa in der Ukraine oder auf der Krim, gegen die revolutionären Bolschewiken. Die neuere Erinnerung bezieht sich vor allem auf die deutsche Aggression im Zweiten Weltkrieg, als die Sowjetunion Millionen Menschenleben im Kampf gegen die Nazis verlor. Es geht hier weder darum, ob die Weiße Armee oder die Bolschewiken im Recht waren, noch darum, ob die Besetzung Polens durch die Sowjetunion oder Nazideutschland gerechtfertigt werden kann. Es geht nur darum, die Tatsache zu unterstreichen, dass Russland Erinnerung an von Europa ausgehende Antagonismen und Feindseligkeiten hat, die man nicht in einem Augenblick wegwischen kann, in welchem über internationale Moral auf der Grundlage eines Kontrastes gerichtet wird, der zwischen einem „unschuldigen und progressiven“ Europa und einem „kriegslüsternen und rückwärts gewandten“ Russland bestehen soll. Derartige Narrative gehen von einer Logik der Bipolarität aus und verstärken sie. Gleichzeitig verhindert eine solche Logik Möglichkeiten, die Ungleichheiten und damit zusammenhängende Praktiken neu zu durchdenken, die die gegenwärtige internationale Ordnung bestimmen.

Widerstreitende Erinnerungsformen in Europa

Das vom Westen erstrebte Sicherheitsregime erscheint aus der Sicht anderer Weltgegenden einschließlich Afrikas als nicht so offenkundig freundlich. In den einstigen kolonialen Außengebieten Europas weicht die Erinnerung an die Realität von Sicherheit erheblich ab von dem Bild, das westliche Politker:innen, Medien und andere verbreiten. Man neigt in Afrika und anderswo daher eher zu einer skeptischen Sicht auf die Wahrheitsregime, die sowohl Aussagen als auch Rechtfertigungen für die unterstellte Notwendigkeit und Unausweichlichkeit der Ausdehnung Europas und der damit verbundenen Osterweiterung der NATO liefern. Diese Fragen berühren nicht das Urteil, dass die russische Aggression und der Einmarsch in die Ukraine das Völkerrecht verletzen. Aus diesem Grund erscheint es in Regionen außerhalb des Westens als völlig konsequent, wenn auch bedroht von möglicher Vergeltung durch letzteren, Russland für die Verletzung des Völkerrechts zu verurteilen und sich dennoch von einigen der darauffolgenden Reaktionen zu distanzieren, die der Westen vorschlägt.

Die entsprechenden Positionen wurden in der gegenwärtigen Krise durchwegs klar zum Ausdruck gebracht. Sie wurden vom kenianischen Botschafter gleich nach Beginn der Invasion in der Ukraine formuliert (Kimani 2023). Im UN-Sicherheitsrat sagte der afrikanische Diplomat Martin Kimani deutlich, dass Russland die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine verletzt habe, was beides den Gründungsprinzipien sowohl der UN als auch der Afrikanischen Union zuwiderlaufe (ebd.). Unter ausdrücklichem Bezug auf die afrikanische Erfahrung mit Imperialismus, Kolonialismus und deren Ende bemerkte er, Russland hege eine gefährliche Nostalgie für vergangene Größe, anstatt sich nach vorne auf eine andere Form von Größe zu orientieren, bei der es um ethnischen, „rassischen“ und religiösen Pluralismus und um Einvernehmen zur Förderung des Wohls der gesamten Menschheit gehe.

Kimanis Verweis auf die koloniale Vergangenheit Afrikas war überlegt, zielbewusst und nicht allein an Russland gerichtet. Denn mit dem Ende der Kolonialimperien entschieden die afrikanischen Staaten, sich der Herrschaft und dem Irredentismus der kolonialmetropolen London, Paris, Lissabon usw., zu entziehen. Mit Bezug auf diese Geschichte verurteilte Kimani „entschieden die in den letzten Jahrzehnten aufgetretene Tendenz, dass mächtige Staaten einschließlich Mitglieder des Sicherheitsrats bedenkenlos internationales Recht verletzen“ (ebd.). Er beklagte weiter, dass der Multilateralismus „heute angegriffen (wurde), so wie er in jüngerer Zeit schon von anderen mächtigen Staaten angegriffen wurde“ (ebd.). Er schloss mit dem Aufruf,

„sich hinter den Generalsekretär zu stellen mit der Bitte, uns alle auf die Standards zu verpflichten, die den Multilateralismus absichern können. Wir fordern ihn zugleich auf, seine guten Dienste einzusetzen, um den beteiligten Parteien dabei zu helfen, die Lage mit friedlichen Mitteln beizulegen.“ (ebd.)

Diese Rede wurde im Westen und in Afrika unterschiedlich aufgenommen. Für die Europäer:innen und den Westen generell unterstützte die Rede ihre eigene Position und ließ sie sowohl als vernünftig als auch als logisch erscheinen. In Afrika und anderswo behandelte Botschafter Kimani eine weitergehende Frage des Völkerrechts: die Tendenz der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats und früheren Kolonialmächte, sich selbst über das Gesetz zu stellen. Es scheint, als seien sich der Westen und Afrika darüber einig, was auf dem Spiel steht, aber handelten oder urteilten auf der Grundlage unterschiedlicher Erinnerungen und unterschiedlicher Fakten. Für den Westen erforderten die Tatsachen der Prinzipien Sanktionen und militärische Konfrontation. Afrikaner:innen sind abgesehen von der Furcht vor diplomatischer Vergeltung nach wie vor nicht überzeugt, dass die Ausweitung eines Militärbündnisses und die Drohung mit Sanktionen der richtige Ansatz sind. Sie ziehen Diplomatie und eine gerechte Übereinkunft auf der Grundlage von Parametern vor, die für Europa anscheinend wenig bedeutsam sind.

Diese fundamentale Frage der Rechtsstaatlichkeit steht nicht nur für Europas Andere im Vordergrund, selbst wenn diese nicht-demokratisch, illiberal, autoritär und unsympathisch sind. Es ist eine Frage des Prinzips, dass sich alle an die vertraglich festgelegten Vorgaben internationaler governance halten. In der Ukraine geht es heute um drei dieser Vorgaben. Sie haben in Kontexten, die nichts mit Russland zu tun haben, eine Rolle gespielt und tun dies teilweise noch immer, und sie wurden dort ignoriert oder noch schlimmer behandelt. Da ist zum einen das Prinzip der territorialen Vergrößerung, erstmals ausgeführt in der Atlantik-Charta (1941), die bestimmt, dass keine territoriale Veränderung gegen den Willen eines selbstbestimmten Volkes erfolgen kann und darf. Ein weiteres ist das Prinzip des internationalen Rechts, das bestimmt, dass nicht nur alle für ihre Handlungen zur Verantwortung gezogen werden, sondern auch, dass sie gleichbehandelt werden sollen. Das dritte Prinzip, auf das sich Botschafter Kimani bezieht, ist das der gleichberechtigten Beteiligung an der Entscheidungsfindung, also Multilateralismus.

Es gibt in Afrika Fälle, die noch heute vor Gericht verhandelt werden und die den Tatbestand der Verletzung dieser Prinzipien durch die drei westlichen ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats erfüllen. Im ersten Fall geht es um territoriale Vergrößerung. Dies betrifft Großbritannien und den Erwerb der Chagos-Inseln durch die USA. Es begann mit einem Order in Council, einem königlichen Vorrecht, nach dem die:der britische Monarch:in ohne Autorisierung durch das Parlament, nur auf Empfehlung des Privy Council handeln kann.

„Das wichtigste Ziel beim Erwerb dieser Inseln … bestand darin, sicherzustellen, dass die Regierung Ihrer Majestät die vollständigen Besitzrechte an und die Kontrolle über diese Inseln hatte, so dass sie ohne Behinderung oder politische Aufregung zum Bau von Verteidigungsanlagen genutzt werden konnten, und so dass, wenn eine bestimmte Insel für den Bau von britischen oder US-Verteidigungsanlagen benötigt wurde, Großbritannien oder die Vereinigten Staaten in der Lage wären, sie von der gegenwärtigen Bevölkerung zu räumen.“ (Bancoult, R v Secretary of State for Foreign & Commonweal Office 2000)

Der Vertrag, der sich aus diesem Befehl ergab, wurde 1966 in aller Form unterzeichnet und 1967 registriert (United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland and United States of America 1966).

Aufgrund dieser Vereinbarung behandelten das Vereinigte Königreich und die USA die ganze Bevölkerung der fraglichen Insel, als ob sie keinerlei Rechte hätte (Twyman-Goshal 2022; Vine 2006 & 2011). Zwischen 1965 und 1973 verschifften Großbritannien und die USA die Bevölkerungen von Chagos sowie einige aus Peros und Salomon nach Mauritius und auf die Seychellen, anfangs ohne Entschädigung (Human Rights Watch 2023). Nach vielen Jahren zahlte das Vereinigte Königreich über die Regierung von Mauritius eine kleine Entschädigung, aber der Betrag war zu geringfügig, um die Bedürfnisse der zumeist verelendeten Chagossianer:innen zu befriedigen. Zudem weigerte sich das Vereinigte Königreich jahrzehntelang, über Reparationen auch nur zu sprechen. Die USA als Nutznießer der Vertreibung weigerten sich ihrerseits, gegenüber den Chagossianer:innen irgendwelche Verpflichtungen anzuerkennen (ebd.).

Jahrelang versuchten die Chagossianer:innen, aufgrund britischer und internationaler Gesetzgebung Recht zu bekommen. Sie wurden zumeist von der Regierung von Mauritius vertreten, die die Souveränität über die Inseln beansprucht. Wie britische Rechtsdokumente belegen, erkennt die Regierung inzwischen an, dass vor 60 Jahren in Chagos etwas „Beschämendes und Falsches“ geschehen ist (International Court of Justice 2019: 124). Für Afrikaner:innen und besonders für Mauritier:innen stellt die Chagos-Episode einen Fall der Re-Kolonisierung dar, weil die ursprüngliche Vereinbarung mit der Forderung nach Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich zusammenfiel, die dann auch gewährt wurde. Das Unrecht wird noch verschlimmert, weil die Chagossianer:innen vorwiegend Nachkommen von versklavten Menschen sind, die vom afrikanischen Kontinent und von Madagaskar gewaltsam auf diese Inseln gebracht wurden.

Noch heute setzen sich die Rufe nach Gerechtigkeit für die Chagossianer:innen fort, da deren Wunsch, in ihre Heimat zurückzukehren, unerfüllt blieb. Das wird vom Vereinigten Königreich sogar aktiv behindert. Jetzt „sagt Human Rights Watch, dass die Handlungsweise des Vereinigten Königreichs und der USA ein Verbrechen gegen die Menschheit darstellt“ (Human Rights Watch 2023). Und der Internationale Gerichtshof meinte in einer Entscheidung über eine Petition an die UN-Generalversammlung im Februar 2019, dass die Abtrennung der Chagos-Inseln von Mauritius durch Großbritannien und ihre Konstituierung als Kolonie unrechtmäßig waren. Daher forderte das Gericht Großbritannien auf, seine Kolonialverwaltung innerhalb von sechs Monaten abzuziehen, jedoch ohne Erfolg. Selbst Forderungen nach einer einfachen Entschuldigung durch das Vereinigte Königreich oder die USA wurden mit Stillschweigen übergangen.

Diese noch nicht abgeschlossene Angelegenheit ist nicht der einzige Streitpunkt zwischen einem afrikanischen Land und einem der P-3-Länder. Es gibt auch drängende Fragen nach Gerechtigkeit, die die kolonialen und postkolonialen Beziehungen zwischen Nachkriegs-Frankreich und afrikanischen Veteranen des Zweiten Weltkrieges geprägt haben, welche unter der französischen Fahne dienten. Gefördert durch das Wehrpflichtgesetz von 1919 und die formellen institutionellen Bestimmungen der französischen Armee bis 1939 schlossen sich geschätzt 200.000 bis 500.000 Soldaten aus den früheren französischen Kolonien den Truppen unter Marschall Philippe Pétain und General Charles de Gaulle an. Wie Gregory Mann (2006) verdeutlicht hat, „öffnete der Militärdienst eine Bresche in den Barrieren zwischen Bürger:innen und Untertanen“, die so sorgfältig konzipiert waren, um die „manichäische Welt“ der Kolonie aufrechtzuerhalten, welche Siedler von Eingeborenen trennte (Fanon 2001: 31). Diese Öffnung diente als politische Bühne, auf der die afrikanischen Kriegsveteranen nach dem Krieg ihre Ansprüche auf gleiche Rentenzahlungen, Entlassungsgeld sowie uneingeschränktes Aufenthaltsrecht und französische Staatsbürgerschaft erhoben. Doch diese Forderungen blieben während des größten Teils der Nachkriegszeit weitgehend unerfüllt.

Bereits 1940 führte dies zu einer Reihe von Protesten und Konfrontationen in verschiedenen Militärlagern auf dem europäischen wie dem afrikanischen Kontinent (Echenberg 1991: 100; Mann 2006: 115). Die Rebellion von Thiaroye 1944 im heutigen Senegal bezeichnet einen der gewaltsamsten Konflikte. Wie in ähnlichen Fällen lag ihr die Forderung von afrikanischen Veteranen des Zweiten Weltkriegs zugrunde, die gleichen Rentenzahlungen zu erhalten wie ihre früheren französischen Kameraden. Diese Forderung war inakzeptabel für die französischen Beamten, die die schwarzen tirailleurs deren weißen Gegenübern als nicht gleichwertig betrachteten. Die Bezeichnung tirailleurs (unausgebildete Schützen) stand im Gegensatz zum tireur d‘élite (ausgebildeter Scharfschütze). Allein die Diskrepanz dieser Bezeichnungen lässt darauf schließen, dass die afrikanischen Soldaten im Krieg als Kanonenfutter dienten, um ihren französischen Kameraden Rückendeckung zu bieten.[3]

Am 5. November 1944, als klar war, dass der Krieg zu Ende ging, gingen über 1.600 ehemalige Tirailleurs Sénégalais, wie sie zusammenfassend genannt wurden, „mit dem Ziel Senegal in Morlaix in der Bretagne an Bord eines britischen Schiffs, der Circassia. Sie sollten dort im Lager Thiaroye vor ihrer Rückkehr nach Hause demobilisiert werden“ (Afrocultureblog 2023). Die Afrikaner erwarteten, dass sie bei ihrer Ankunft ein Viertel des Geldes ausbezahlt erhielten, das ihnen bei der Entlassung aus der Armee zustand. Dieses Geld, das sie beim Betreten des Schiffes erhalten sollten, wurde nicht bezahlt. Dies folgte auf eine Reihe weiterer Beschwerden, etwa über Finanzvorschriften, die es den Kriegsgefangenen nicht gestatteten, den verdienten Lohn in der Währung ihrer Wahl (Metropolitan-Francs oder AOF-Francs) zu behalten (Echenberg 1991: 101; Mann 2006: 116f). Viele Veteranen weigerten sich daher, das Lager Thiaroye zu verlassen und ohne ihr Geld in ihre Heimatorte im Senegal oder in anderen Kolonien zurückzukehren. Die Franzosen beschlossen, die Angelegenheit zu lösen, indem sie am Morgen des 1. Dezember 1944 das Feuer auf sie eröffneten. In dem Gefecht kamen nach amtlichen französischen Berichten über 400 afrikanische Veteranen und 35 französische Scharfschützen ums Leben. In Afrika glauben viele, dass die Anzahl der getöteten, afrikanischen Veteranen höher war (Paquette 2020).

Wenn man das Massaker von Thiaroye als einen gewalttätigen Versuch versteht, den französischen Souveränitätsanspruch auf Westafrika wiederherzustellen und zu unterstreichen (Mabon 2002: 93), so blieb es nicht das einzige Ereignis, bei dem die Fortsetzung der französischen Kolonialherrschaft durch die zweideutige Positionalität und ungleiche Behandlung der kolonialen Soldaten deutlich gemacht wurde. 1960 fror (cristallisé) Artikel 71 des Finanzgesetzes der Fünften Republik die Rentenzahlungen an Veteranen aus bestimmten französischen Kolonien in Nord- und Westafrika ein, sollten diese die Unabhängigkeit erlangen. Der Artikel wird noch bedeutsamer im übergreifenden Kontext der damaligen französischen Kolonialpolitik. Das gilt vor allem mit Blick auf das Referendum, das Charles de Gaulle 1958 abhalten ließ, um Territorien innerhalb von l‘Afrique-Occidentale Française (AOF) Wege zu eröffnen, über den Grad ihrer Unabhängigkeit von Frankreich zu entscheiden. Vor diesem Hintergrund stellt Artikel 71 nicht nur eine Politik der finanziellen Entschädigung dar, die eine Sprache zweideutiger nationaler Zugehörigkeit und veränderlicher staatlicher Verantwortlichkeiten benutzte, um die Fortsetzung einer ungleichen Verteilung von Renten unter französischen Veteranen aus früheren Kolonien einerseits und der Metropole andererseits zu rechtfertigen. Vielmehr diente Artikel 71 als materielles Druckmittel, um Afrikaner:innen zu zwingen, sich in eine hegemoniale europäisch-westliche internationale Ordnung der Nachkriegs- und postkolonialen Ära einzureihen.

Wie Mann zu Recht sagt, ist diese Dynamik „kein Überrest einer vergangenen imperialen Ära, sondern ein Gründungselement einer aktiven und sich fortentwickelnden politischen Vorstellung, die zwischen Westafrika und Frankreich sowohl geteilt wird als auch umstritten ist“ (Mann 2006: 3). Mehrere Ereignisse der letzten beiden Jahrzehnte unterstreichen die andauernde Bedeutung dieser Geschichte für Frankreichs gegenwärtige Innenpolitik und die auswärtigen Beziehungen. Erst im Januar 2023 kam ein langwieriger Rechtsstreit einer Gruppe überlebender Kriegsveteranen endlich zu einem Abschluss, als ein französisches Gericht den Klägern die vollen Rentenansprüche zusprach, obwohl sie außerhalb Frankreichs in ihren Heimatländern wohnen. Zuvor hatte die politische Unabhängigkeit, welche die Mehrzahl der französischen Kolonien in Afrika während der 1960er Jahre erreichte, die Kriegsveteranen aus diesen Ländern im Hinblick auf die Rentenzahlungen auf den Status von „Ausländern“ beschränkt. Bis zu einem Gerichtsbeschluss von 2001 hatte dies nicht nur dazu geführt, dass ihnen geringere Leistungen zuerkannt wurden. Selbst nach der entsprechenden Gesetzesänderung mussten französische Kriegsveteranen aus den einstigen Kolonien für mindestens sechs Monate in Frankreich wohnen, um ein Recht auf die volle Rente zu bekommen (Urvoy 2023).

Die hier exemplarisch dargestellte ungerechte Behandlung der afrikanischen Veteranen des Zweiten Weltkriegs ist nicht ohne Bedeutung. Das Massaker von Thiaroye bleibt für zahllose Afrikaner:innen ein Akt des Verrats; ein Akt, der nicht weniger ungeheuerlich ist als die französischen Massaker von Setif und Guelma am 8. Mai 1945, dem Tag des Sieges in Europa oder V-E Day. Es gibt noch mehr zu sagen zu diesem Gefühl des Verratenseins, das sowohl auf das Fehlen von Transparenz wie auf die Missachtung der Wahrheit verweist. Es brauchte nach dem Krieg über 70 Jahre, bevor die ganze Wahrheit über Thiaroye ans Licht kam und Frankreich den Überlebenden ihre Rechte zurückgab. Dabei hat Frankreich nicht nur Verwirrung hinsichtlich der Berichte über das Ausmaß des Mordens gestiftet; bis vor kurzem hat es auch nicht eingestanden, dass einige der Opfer zu den Tausenden von Afrikanern gehörten, die die Nazis auf französischem Boden in der Vichy-Zone einsperrten, sowie zu jenen in den als „Frontstalags“ bezeichneten Gefangenenlagern (Afrocultureblog 2023). Es wurde auch bekannt, dass etwa tausend der massakrierten Afrikaner es zuvor geschafft hatten, diesen Nazi-Einrichtungen zu entkommen, und sich der französischen Résistance angeschlossen hatten (ebd.).

Zum letzten der hier zu nennenden Misstöne zwischen Afrikaner:innen und dem Westen kam es 2001 bei der Welt-Konferenz gegen Rassismus, rassische Diskriminierung, Xenophobie und damit zusammenhängende Intoleranz in Durban. Dieses Mal diente der gemeinsame Auftritt von Australien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Kanada und den Vereinigten Staaten der Sprengung eines multilateralen Forums einfach, weil für sie ein ungünstiges Ergebnis absehbar war. Im Kern ging es bei dem Streit um den Charakter und Status von Gesetzen, die eine Besatzungsmacht von Siedler:innen (in diesem Fall Israel) in einem besetzten, der Siedlung ausgesetzten Land (Palästina) erlassen hatte. Weil das Thema der Konferenz „Rasse“ war, rückte der auf „Rasse“ bezogene Charakter der Besatzung zusammen mit der Frage in den Mittelpunkt, wie man Gesetze bezeichnen soll, die religiöse, ethnische und nationale Identitäten bewahren sollen. Die Länder, die die Konferenz sprengten, erklärten, sie hätten diese wegen der Sprache verlassen, die in Bezug auf Israel benutzt worden sei. In der Tat hatten einige Teilnehmer:innen argumentiert, die israelischen Gesetze in den besetzten Gebieten und die israelischen Siedlungen liefen auf Apartheid hinaus. Die beleidigende Natur dieses Vorwurfs bleibt strittig. Jedoch erschien die Vorstellung, dass dies zu einem Boykott eines multilateralen Forums durch Länder führen würde, die selbst gegen den Boykott Israels sind, paradox, wenn nicht unehrlich. In den Augen der Organisator:innen der Konferenz und zahlloser afrikanischer Beteiligter bestanden die wahren Gründe für den Rückzug in dem Unbehagen angesichts der Vorstellung, dass die Frage der Ausweitung israelischer Siedlungen seit 1967 außerhalb des Rahmens des UN-Sicherheitsrats besprochen werden könnte, wo die Verbündeten Israels, wiederum die P-3, wahrscheinlich jede Verurteilung des israelischen Vorgehens blockieren würden. In jedem Fall erschien vielen die Sprengung einer der wenigen UN-Ereignisse von Bedeutung, die in Afrika rund um Kolonialismus und Kolonisierung organisiert wurden, nicht nur als unsensibel, sondern auch als Beleg dafür, dass Rechtstreue nur denen auferlegt wird, die nicht mit dem Westen verbündet sind.

Viele in Afrika empfanden auch den Vorwurf der Diskriminierung gegen Israel seitens der sich zurückziehenden Länder als nahezu böswillig. Abgesehen von Nichtregierungsorganisationen aus dem Mittleren Osten und ein paar aus Afrika, bezog sich die Frage der Besatzung damals, wie heute durch Botschafter Kimani, auf afrikanische Erinnerungen und Erfahrungen mit Imperialismus und Kolonialismus. Das hat nichts mit Antisemitismus zu tun, wie die Kritiker:innen behaupteten. Wenige dieser Länder waren in der Lage, die afrikanische Position in der Kontinuität mit Traditionen des Kontinents zu würdigen, angefangen mit dem Verbot der Veränderung bestehender postkolonialer Grenzen in der Charta der Organisation für Afrikanische Einheit von 1963. Dasselbe Prinzip leitete afrikanische Staaten, die nach der Besatzung des Sinai, eines afrikanischen Territoriums, nach dem Krieg von 1973 die Beziehungen mit Israel beendeten. Auch damals ließen westliche und israelische Medien die afrikanischen Argumente entweder als feindlich gegen Israel (hauptsächlich in Europa) oder als antisemitisch (vor allem in Israel und USA) erscheinen. Der Kollaps der Durban-Konferenz war nur eine Illustration der Gegnerschaft der P-3 und ihrer Verbündeten gegenüber multilateralen Foren und Diplomatie, wenn mit für sie ungünstigen Ergebnissen zu rechnen ist.

Nicht eine Frage der Gerechtigkeit, sondern der Bündnisse

Der verfehlte Vorwurf, Afrika sei gegenüber der Ukraine heute indifferent, beruht darauf, dass informierte afrikanische Diplomat:innen, Politiker:innen und Intellektuelle von einigen der Behauptungen und Stellungnahmen, die Europa zu diesem Konflikt vorbrachte, wenig überzeugt waren. Vor allem ließen sie sich nicht von den Aussagen, Annahmen und Vermutungen beeindrucken, die den Kern der westlichen Argumentation ausmachen. Daher haben sich viele nicht den darin implizierten Lösungsvorschlägen angeschlossen. Natürlich gibt es in Afrika keine einhellige Meinung zum Ukraine-Konflikt. Bei den negativen oder missbilligenden Bezugnahmen auf „Afrika“ und „afrikanisch“ in den westlichen Medien und diplomatischen Kreisen geht es um spezifische Afrikaner:innen, die nicht bereit waren, sich der Sichtweise anzuschließen, dass der Ukraine-Konflikt einen einzigartigen Fall von Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit und des Prinzips der friedlichen Koexistenz unter den Nationen darstellt. Diese Afrikaner:innen und ihr Afrika haben der Versuchung widerstanden, eine entschieden einseitige Position zu dem Konflikt in der Ukraine zu beziehen, wie sich auch anhand der internen Debatten zwischen den südafrikanischen Parteien des African National Congress (ANC), der ANC-Jugendliga und der Democratic Alliance zeigt.[4]

Die Feinheiten der afrikanischen Positionen haben diplomatische Konsequenzen, die sich auf umfangreichere Diskurse der internationalen Moral und des Völkerrechts auswirken. Im Kontext des gegenwärtigen Konflikts und der internationalen Reaktionen darauf rücken diese im Bereich von politischer Orientierung, von Bündnissen und von Bündnisfreiheit in den Blick. Orientierung, die dem Bündnis sehr ähnlich ist, impliziert gemeinsame Grundwerte innerhalb formeller Beziehungen. Doch bei der hier gemeinten Orientierung ist es anders. Hier bedeutet Orientierung einen moralischen Imperativ oder Druck seitens einer Partei auf eine andere, damit diese sich entlang einer vorgezeichneten oder bereits erklärten Position bewegt, die Übereinstimmung vorgibt. Die Annahme der Übereinstimmung beruht auf der Überlegung, dass das Denken, die zentralen Lebensentscheidungen und die Orientierungen der Parteien konvergent verlaufen. Es ist schon aufgrund des obigen Überblicks klar, dass die Afrikaner:innen sich nicht sicher sind, ob eine Orientierung auf die westlichen Positionen die Sache des Friedens oder der Sicherheit für alle voranbringen kann.

Bündnisse sind formaler und binden stärker als Orientierungen. Sie beruhen gewöhnlich auf Rechtsinstrumenten wie Abkommen. Ein Bündnis schafft die Erwartung gegenseitiger, bedingungsloser Unterstützung, am besten auf der Grundlage von Grundwerten, Interessen und Normen. Bündnisse kann es auch ohne irgendwelche gemeinsame Werte und Normen geben, soweit sie gemeinsame Interessen wahren. Im Krieg zwingen Bündnisse die Beteiligten, die Seite ihrer Bündnispartner zu ergreifen und ihnen (politische) Vorrechte, rechtliche Immunität und moralische Freistellungen zu gewähren, die anderen außerhalb des Bündnisses verweigert werden. Das bedeutet auch, dass Verbündete Außenseitern mit einem anderen Maß an Fairness oder Gerechtigkeit gegenübertreten.

Gewöhnlich versteht man also unter einem Bündnis den Archetyp einer Vereinbarung zwischen zwei oder mehr Staaten zur gegenseitigen Unterstützung, besonders im Kriegsfall. Bündnisse können informell sein. Moderne Bündnisse sind jedoch durch Verträge formalisiert, die sowohl die Bedingungen der Mitgliedschaft als auch die Bedingungen bestimmen, unter denen die Mitglieder einander verpflichtet sind. Daher sind förmliche politische und militärische Bündnisse gleichzeitig inklusiv und exklusiv. In den Inklusions- und Exklusionslinien kommen enge Beziehungen, Empfindlichkeiten und Wünsche zum Ausdruck, die sich häufig als symbolische, materielle und moralische Interessen verstehen lassen. Ihre Arbeitsweise ist ebenfalls in Normen formalisiert, die internationalen Praktiken, internationaler Moral und dem Völkerrecht entsprechen sollen. Diese lassen sich in Rubriken einordnen, die auf eine imperiale Vergangenheit zurückverweisen, auf ein aktuelles Streben nach Hegemonie sowie aus mancher postkolonialen Sicht auf eine antiquierte und destabilisierende Praxis der Feindschaft und des Gleichgewichts der Mächte.

Im Folgenden betrachten wir zu guter Letzt insbesondere Sachverhalte, Ethik und Moral, die mit Bündnissen, Orientierungen und Bündnisfreiheit zu tun haben. Afrikanische Positionen zu diesen Fragen sind erheblich missverstanden und/oder mit ideologischer und politischer Absicht mutwillig falsch dargestellt worden. Eine genaue Lektüre des Zusammenspiels zwischen der Darstellungs-Politik in deutschen Plakaten zu Spendenkampagnen auf der einen und aktuelle öffentliche Debatten in Deutschland über den russisch-ukrainischen Krieg auf der anderen Seite verdeutlichen diese Dynamik beispielhaft. Zusammengenommen verweisen sie sowohl auf ein geopolitisches Verständnis der ethischen und moralischen Bedeutung des Konflikts einerseits als auch auf rassialisierte Fehlannahmen über die Interessen andererseits, die afrikanische Staatsführer:innen hier verfolgen.

Rassialisierte und karikaturhafte Darstellungen verhungernder afrikanischer Bürger:innen, die bildhaft auf diversen Werbeplakaten „ausgebreitet“ sind, um zu Spenden aufzurufen, sind seit langem allgegenwärtig in der deutschen Stadtlandschaft.[5] Im akademischen Diskurs wurde die Bedeutung solcher Bilder für die Herausbildung von Sensibilität gegenüber Afrika in Deutschland inzwischen anerkannt, und auch ihre nur scheinbar banale Erscheinungsweise wurde problematisiert (Bendix 2018: 65-89; Kiesel & Bendix 2010; Philipp & Kiesel 2011). Manche Leser:innen mögen sich daher fragen, ob es notwendig oder sogar gerechtfertigt ist, diese Bilder in noch einer weiteren Analyse ihrer Darstellungs-Politik zu wiederholen. Wir meinen dennoch, dass der gegenwärtige Konflikt diesen Bildern eine neue, metaphorisierte und semiotische Bedeutung verliehen hat, die ein weiteres Hinsehen verdient.

Diese neue Bedeutsamkeit im Lichte des Konflikts zeigt sich in verschiedener Hinsicht. Am simpelsten kann rassialisierte Werbung für Hilfsbereitschaft, die eine diskursive Versicherheitlichung von Hunger unter verschiedenen afrikanischen Gruppen zur Voraussetzung hat, als jüngster Fall eines Mobilisierungsmechanismus gesehen werden, der die Verurteilungen der russischen Militäraktionen in der Ukraine verstärken soll. So gesehen muss diese Werbung im Zusammenhang eines deutschen Diskurses betrachtet werden, der die Schuld an der zunehmenden Weizenknappheit auf dem afrikanischen Kontinent auf Getreide-Embargos, unterbrochene Exportgüterketten und einen globalen Energiemangel als Folge von Russlands Krieg in der Ukraine zurückgeführt hat.[6] Damit erweisen sich die vorherrschenden visuellen und diskursiven Darstellungen von Hunger unter afrikanischen Bürger:innen in der deutschen Hilfe-Werbung als zweifacher rhetorischer Schritt: Zum einen stellen sie einen emotionsgeladenen Appell an das deutsche „Unbewusste der … Entwicklung“ (Kapoor 2020: xiii) dar, der zugleich dazu dient, eine spalterische Anprangerung von Putins Russland als einen amoralischen und skrupellosen, ja irrationalen internationalen Akteur zu generieren. Andererseits dienen sie dazu, einen Regionalkonflikt durch die verschränkte Darstellung zweier dominanter Krisen zu globalisieren, deren alltägliche Wirklichkeit in anderen Teilen der Welt erst vor kurzem wieder in den Vordergrund des europäischen Bewusstseins getreten ist: Unsicherheit aufgrund militärischer Prozesse und unsicheren Zugangs zu Ressourcen.[7] Zusammengenommen dienen diese Strategien dazu, eine stromlinienförmige Sicht auf den Konflikt zu schaffen, der die europäisch-westlichen Vorstellungen von seinen rechtlichen, ethischen und moralischen Folgen bestätigt. Die sich daraus ergebende Aufschichtung des internationalen Systems entlang rassialisierter und geopolitischer Trennungslinien hat einem Verständnis der verschiedenen Konfliktformationen und der Formulierungen friedlicher Lösungsansätze über sehr enge Grenzen hinaus entgegengewirkt.

In geopolitischer Hinsicht hat die Überzeugung, dass die russischen Militäraktionen in der Ukraine aus moralischen wie rechtlichen Gründen verurteilt werden müssen, die anfängliche Eindringlichkeit unterfüttert, mit der sich Deutschland neben anderen westlichen Mächten bemühte, Russland im Gefolge seiner militärischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar 2022 in der internationalen Gesellschaft zu isolieren. Diese Strategie wurde sowohl materiell – durch die Verhängung weitreichender Sanktionen – wie auch symbolisch – durch den Ausschluss russischer Athlet:innen von internationalen Sportwettbewerben und oder anderer russischer Teilnehmenden von kulturellen Veranstaltungen – verfolgt. Diese Sanktionen wurden dadurch gerechtfertigt, dass der Konflikt als Verletzung der Souveränitätsrechte der Ukraine verstanden wurde. Nicht ganz ohne Ironie stellten sich die europäisch-westlichen Mächte somit an die Spitze des Kampfes gegen die Schaffung eines russischen „Imperium[s]“ (Scholz 2022b), um das Völkerrecht zu wahren.

Mit dem weiteren Verlauf des Kriegs führte diese Auffassung des Konflikts zu einer andauernden öffentlichen Irritation und Unzufriedenheit über das wahrgenommene Schweigen und die damit verbundene Neutralität afrikanischer staatlicher Führungspersonen hinsichtlich der russischen Militärkampagne in der Ukraine. Aufgrund der Auffassung von imperialistischen Untertönen des Konflikts hatte man angenommen, diese Führungspersonen seien natürliche Verbündete bei den europäisch-westlichen Anstrengungen, das russische Vordringen auf ukrainisches Gebiet aufzuhalten. Diese Debatte wurde erstmals am 2. März 2022 deutlich, als zahlreiche Delegierte aus dem Globalen Süden und besonders aus Afrika bei den UN sich nicht an der Abstimmung über Resolution ES11/1 in der Generalversammlung beteiligten, die Russland dazu aufforderte, seine Truppen aus der Ukraine zurückzuziehen. Als Afrikaner:innen dabei darauf bestanden, die Komplexität der aufgeworfenen Fragen sorgfältiger zu betrachten und die Notwendigkeit diplomatischer Lösungen betonten, verwirrte dies europäische Analyst:innen und verärgerte US-Politiker:innen. Während der folgenden Monate suchte man daher vielerseits nach Erklärungen für den wahrgenommenen Mangel an Unterstützung durch Afrikaner:innen. Erstens hat die Verwirrung über das Fehlen eines vorgeblich natürlichen Bündnisverhaltens westliche Diplomat:innen und Wissenschaftler:innen zu der Vermutung geführt, dass die „Verirrung“ der Afrikaner:innen hinsichtlich der Ukraine auf ein tiefgehendes Missverständnis hinweise, was das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine angehe, ein Recht, das gerade von Afrikaner:innen im Zuge der Entkolonialisierung weiter ausgearbeitet wurde. Vielleicht.

Zweitens rechneten europäisch-westliche Offizielle das „Zögern“ von Afrikaner:innen den bestehenden Verbindungen und dem Einfluss Russlands auf dem Kontinent zu (Fabricius 2022a), obwohl europäischer und westlicher Einfluss und Präsenz in allen afrikanischen Staaten weiterhin mindestens genauso wichtig sind. Gewiss hat der russische Staat in den letzten Jahren seine Präsenz auf dem afrikanischen Kontinent auf eine Art und Weise verstärkt, die Erinnerungen an frühere Bindungen zwischen der Sowjetunion und dem Kontinent sowohl wieder aufruft als auch verzerrt. Das enge Bündnis mit einigen Staaten während der Ära antikolonialer Unabhängigkeitskriege und ihrer Nachwirkungen entstand durch solidarische Beziehungen auf der Grundlage des gemeinsamen antiimperialistischen Versuchs zur Neubestimmung der globalen Ordnung auf wirtschaftlicher, politischer und humanistischer Ebene. Diese Beziehungen lebten jüngst angesichts der steigenden Desillusionierung von der Militärpräsenz der einstigen Kolonialmächte in einigen afrikanischen Staaten wieder auf. Besonders die diplomatischen Beziehungen der Sahel-Staaten Mali und Burkina Faso mit Frankreich und Deutschland haben sich während der letzten Monate deutlich verschlechtert. Gleichzeitig bemühten sich die Übergangsregierungen beider Staaten unter Assimi Goïta bzw. Hauptmann Ibrahim Traoré, um engere Verbindungen zu Delegierten des russischen Staates sowie der privatisierten Söldnergruppe Wagner (Olivier 2021).

Damit in engem Zusammenhang stehen materielle Interessen, die von europäisch-westlichen Diplomat:innnen und Wissenschaftler:innen als dritter Grund dafür angeführt werden, dass Afrikaner:innen wenig Interesse zeigen, sich den westlichen Positionen im russisch-ukrainischen Konflikt anzuschließen. In diesem Kontext ist insbesondere die Sorge über zunehmende Nahrungsmittelunsicherheit in ganz Zentral- und Ostafrika aufgetreten. Neben Unterbrechungen bei den Lieferketten im Energiebereich haben im Zusammenhang mit dem Krieg stehende Hindernisse für Getreideexporte aus Russland und der Ukraine auf den Weltmarkt daher „bestehende Anfälligkeiten verstärkt [und] … Netzwerke von Abhängigkeiten aufgezeigt“ (Rodriguez 2022). Diese Erkenntnis hat manche veranlasst, die Zurückhaltung afrikanischer staatlicher Führungspersönlichkeiten gegenüber einer Verurteilung der Militäraktionen Russlands in der Ukraine auf die Annahme zurückzuführen, dass sie von derartigen diplomatischen Gesten wenig zu gewinnen, aber allzu viel zu verlieren hätten.[8]

Vor diesem Hintergrund lädt eine kombinierte Besorgnis über Unsicherheiten in Afrika sowohl in militärischer Hinsicht als auch in der Nahrungsmittelversorgung gegenwärtig die deutsche Spendenwerbung mit einer neuen semiotischen Bedeutung auf. Letztere ist nun nicht mehr nur auf eine einfache Form der Rassialisierung beschränkt, die aus der Versicherheitlichung des Hungers in afrikanischen Gemeinschaften im Zusammenhang der deutschen Entwicklungspolitik hervorgeht. Vielmehr erweist sich die kombinierte Besorgnis über materielle wie militärische Unsicherheiten in Afrika als hervorstechendes Erklärungsmodell für das wahrgenommene Ausbleiben einer Verurteilung der Militäroffensive Putins in der Ukraine durch afrikanische staatliche Führungspersonen. Diese Vorstellungen sind nicht weniger mit rassialisierten Untertönen belastet. Dennoch gründen sie in Theorien der kritischen Sicherheitsforschung.

Hier ist Ken Booths Konzept von Sicherheit als Mittel der Emanzipation vorherrschend. Booth betont, dass die alltäglichen Unsicherheiten, die marginalisierte Gesellschaftsschichten erleben, sowie die damit unverzichtbare, für das schlichte Überleben erforderliche Arbeit ihr Leben in einer Weise strukturieren, die eine Beteiligung am politischen Diskurs praktisch unmöglich macht. Um mit diesem Problem umzugehen, schlägt Booth den Begriff eines „Überlebens plus“ („survival-plus“) vor. Dies bedeutet die relative Freiheit von sogenannten „lebensbestimmenden Bedrohungen“. Booth bemerkt, dass

„Sicherheit Wahlmöglichkeiten eröffnet. Es handelt sich um einen existenziellen Wert, der es Individuen und Gruppen […] ermöglicht, sich Existenzbedingungen zu schaffen, die eine Chance bieten, ein menschliches Leben jenseits des bloß tierischen zu erarbeiten. Überleben heißt am Leben zu sein, Sicherheit bedeutet zu leben“ (Booth 2007: 107).

Analog zur Grundkategorie in Maslows „Grundbedürfnissen“ erweist sich Sicherheit damit als Hierarchie der Möglichkeiten. So verstanden können Menschen nur in Abwesenheit grundlegender Gefahren über die aller fundamentalste, für ihr Überleben notwendige Arbeit hinausblicken und an einer offenen politischen Debatte teilnehmen. Sicherheit wird so regelrecht zur Voraussetzung, „um hochgehaltene politische und soziale Ziele zu verfolgen“ (ebd.: 102).

Bezogen auf die globale Ebene wird Booths Sicherheitskonzept auf rassialisierte und manichäische Weise in der deutschen Debatte über und mögliche Reaktionen auf den russisch-ukrainischen Krieg aufgenommen. Soweit die entsprechenden Annahmen mit jenen in der aktuellen deutschen Spendenwerbung übereinstimmen, wirken beide Narrative zusammen, um afrikanische Interessen im gegenwärtigen Kontext auf den Bereich des materiellen Überlebens zu beschränken. Das hat zwei miteinander verknüpfte Konsequenzen. Zunächst beobachten wir die Internationalisierung dessen, was Jean-François Bayart (2010) entsprechend einer Redensart aus Kamerun als „Politik des Bauches“ bezeichnet hat, um neopatrimoniale Strukturen politischer Einflussnahme auf transnationaler Ebene zu benennen. So betrachtet verliert die zur Schau gestellte Sorge über Unsicherheiten wegen mangelnder Nahrungsmittel und Ressourcen, die in unverhältnismäßigem Ausmaß Gesellschaften im Globalen Süden betreffen, ihre ethische Berechtigung in aktuellen deutschen Debatten über das angebliche Versäumnis afrikanischer staatlicher Führungspersönlichkeiten, Putins Militäraktionen in der Ukraine zu verurteilen. Vielmehr erweist sich gerade die Versicherheitlichung des Hungers in Gesellschaften Afrikas und anderer Regionen des Globalen Südens als eine Form dessen, was Joseph Nye als soft power bezeichnet. So erweist sich der wiederholt auftretende Diskurs über Getreideknappheit als Folge des Krieges und die damit einhergehenden prekären Lebensbedingungen als ein Mechanismus brutalen Zwangs mit dem Ziel, „das Verhalten [afrikanischer] Staaten zu verändern“ (Nye 1990: 155) und an die Reaktionen auf den russisch-ukrainischen Krieg anzupassen, wie sie von der EU und den NATO-Staaten propagiert werden.

Zweitens wird den afrikanischen Bevölkerungen und ihren Vertreter:innen der Status als strategische Denker:innen, als moralische Akteur:innen und damit als aktiv an der internationalen Politik Beteiligte abgesprochen, wenn die Interessen afrikanischer Staaten lediglich auf den Bereich des materiellen Überlebens beschränkt werden. Derlei Annahmen sind nicht allein die Spezialität der deutschen politischen Debatte. US-Offizielle haben ebenfalls das Widerstreben von Afrikaner:innen, sich den westlichen Positionen anzuschließen, den Folgen erfolgreicher russischer Desinformationspolitik zugeschrieben. Dementsprechend hat das US-Parlament am 28. April 2022 die Countering Malign Russian Activities in Africa Act verabschiedet, die die russische Desinformation durch Identifikation und Bestrafung ihrer Übermittler:innen bekämpfen soll. Im Einzelnen fordert das Gesetz die „zuständigen Komitees des Kongresses“ dazu auf,

„regelmäßig Ausmaß und Reichweite der Aktivitäten der Russischen Föderation in Afrika zu bewerten, die … unter anderem afrikanische Regierungen und ihre Politik sowie öffentliche Meinungen und die Wahlpräferenzen afrikanischer Bevölkerungen und Diasporagruppen einschließlich solcher in den Vereinigten Staaten manipulieren …“ (United States Senate 2022).

Zusammengenommen nehmen die politischen Debatten über die vermeintlichen außenpolitischen Positionen von Afrikaner:innen im Hinblick auf den russisch-ukrainischen Konflikt in Deutschland wie in den USA geopolitische und rassialisierte Abgrenzungen innerhalb der internationalen Politik wieder auf. Aufbauend auf der mutmaßlichen Pflicht europäisch-westlicher Staaten, jene des Globalen Südens zu schützen, kommt dies in dem Mangel an Autonomie zum Ausdruck, welche den afrikanischen Bürger:innen und Politiker:innen zugestanden wird. Diese werden vielmehr als anfällig für Manipulation aufgrund materieller Versprechungen dargestellt.

Gewiss hat es auch Gelegenheiten gegeben, bei denen Analyst:innen eingeräumt haben, dass afrikanische Positionen nicht so simpel sind, wie sie oft wahrgenommen werden. So nennt etwa Hannah Ryder (2022) eine Reihe von Gründen für den deutlichen Kontrast zwischen Afrika und anderen Regionen, wenn es um die russische Invasion gegen die Ukraine geht: a) Gegnerschaft gegen Aggression und Besatzung aufgrund der Geschichte des Anti-Kolonialismus; b) Verständnis für russische Sicherheitsinteressen aufgrund langjährigen Misstrauens gegen Militärallianzen und die Verbreitung von Nuklearwaffen; c) eine Bündnisfreiheit, die fälschlich als Parteinahme für Russland aufgefasst wird; d) den Wunsch nach diplomatischer Vermittlung und Dialog. Ryder unterstreicht sorgfältig, dass auch afrikanische Positionen durch Erinnerungen an langjährige internationale Praktiken unter dem Gesichtspunkt von internationaler Moral und Völkerrecht bedingt sind. So bemerkt sie etwa, dass man sich in Äthiopien noch immer an die Unterstützung „russischer Freiwilliger bei der Schlacht von Adana Ende des 19. Jahrhunderts“ erinnert (s. auch Jonas 2011: 310-314). Darüber hinaus bezieht sich Ryder (2022), wenn auch nicht ausdrücklich, auf den Ursprung des Prinzips der „Nicht-Einmischung“ in der antikolonialen Ablehnung von kolonialen Doktrinen der Extraterritorialität, der Treuhandschaft u.ä. Schließlich hält sie fest, dass in Afrika ein starker Glaube an das internationale Rechtsprinzip der Selbstbestimmung besteht, das auf das „historische Unrecht gegen Afrikaner:innen während der Kolonialzeit“ zurückgehe (ebd.).

Dennoch scheint nicht einmal die am weitesten entgegenkommende Sicht auf afrikanische Positionen die Vorstellung eines friedlichen und rechtschaffenen Europa gegenüber einem unnötigerweise kriegslüsternen Russland zu hinterfragen. Damit werden wiederum die beiden bedeutsamsten Beiträge afrikanischer staatlicher Führungspersonen zur gegenwärtigen internationalen Debatte im Zusammenhang mit dem russisch-ukrainischen Krieg verdeckt. Erstens wird eine Kritik der europäisch-westlichen Aufschichtung der internationalen Ordnung abgewehrt, die von einer ganzen Reihe afrikanischer Regierungshäupter vorgetragen wurde. Dies bezieht sich sowohl auf den unmittelbaren Konflikt im Licht der ihm innewohnenden Überreste des Kalten Krieges und den daraus hervorgehenden militärischen und wirtschaftlichen Reaktionen als auch auf das weiter reichende heuchlerische Verhalten bei europäisch-westlichen Operationen in den internationalen Beziehungen in Nachkriegs- und postkolonialen Situationen. Derartige Ansichten brachte besonders die südafrikanische Ministerin für internationale Beziehungen, Naledi Pandor, bei einem Treffen mit dem US-Secretary of State Antony Blinken während dessen Besuch in Südafrika im August 2022 zur Sprache. Auf ihrer gemeinsamen Pressekonferenz am 8. August 2022 hatte Pandor die ungleiche Verteilung von Rechten auf Souveränität, die der gegenwärtige Konflikt aufzeige, kritisiert und auf „das Gefühl herablassender Einschüchterung“ verwiesen, das Beziehungen mit europäischen Partner:innen sowie die Countering Malign Russian Activities in Africa Act der USA fortsetzten (Reuters 2022: min. 23:56-25:08; Club of Mozambique 2022).

Die daraus resultierende Stummstellung solcher Kritiken scheint die Nuanciertheit zu ignorieren, mit der viele afrikanische staatliche Führungspersonen dem aktuellen Konflikt entgegengetreten sind. Zum einen waren ihre Reaktionen – ungeachtet europäisch-westlicher Wahrnehmung – von ausdrücklicher Verurteilung von Putins Militäroperationen in der Ukraine und der eindringlichen Forderung nach einer Rückkehr zu diplomatischen Beziehungen und einem Ende der Gewalt bestimmt. Andererseits wird das Misstrauen gegenüber den europäisch-westlich beherrschten internationalen Organisationen nach wie vor nicht anerkannt. Letzteres basiert nicht zuletzt auf den ungleichen Entscheidungsprozessen, die sich aus den Abgrenzungen von Mitgliedschaft und Führungsmacht sowohl in der NATO als auch im UN-Sicherheitsrat ergeben. Daher sind die Urteile über internationale Moral, zu denen afrikanische Politiker:innen sowohl im Licht früherer Verteilungen der Machtbeziehungen wie deren fortdauernder Bedeutung für den aktuellen Zusammenhang kommen, in der europäisch-westlichen Gesellschaft nicht Gegenstand einer ernsthaften Kenntnisnahme.

Zweitens und damit in Zusammenhang stehend untergräbt eine in europäisch-westlichen Diskursen zu beobachtende Missachtung afrikanischer Politiker:innen als aktiv an den internationalen Beziehungen beteiligte Akteur:innen die Möglichkeit, deren unabhängige und bündnisfreie Stellungnahmen anzuerkennen. Afrikanische Überlegungen sind in Wirklichkeit weit pointierter, als die oben angesprochenen Debatten ahnen lassen. Sie bringen entscheidende historische Erinnerungen und Sachverhalte zur Sprache, in denen moralische, ethische und rechtliche Selbstverständlichkeiten zum Ausdruck kommen, welche in europäischen Argumentationen über den Ukraine-Konflikt häufig ausgelassen werden. So wird etwa in den einstigen kolonialen Provinzen erinnert, dass zu der Geschichte, die zur Mäßigung Europas beigetragen hat, Praktiken der Allianzbildung und der Konflikte gehörten, die vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert und darüber hinaus zu unaufhörlichen Kriegen geführt haben. In dieser Zeit kam es durchweg zu Zusammenstößen zwischen monarchischen Dynastien, imperialen Republiken und den auf sie folgenden liberalen Demokratien in Nachfolge- und Hegemonialkriegen, in denen in modernen Zeiten afrikanische Einheiten als Siegespreis gesetzt wurden. Sicherlich ist die primäre Funktion von Militärbündnissen der gegenseitige politische und militärische Beistand. Aber die Kosten moderner Bündnisse für diejenigen, die sich außerhalb befinden, werden von Afrikaner:innen nicht ignoriert. So unterstützten die NATO-Mitglieder die kolonialen Besitzansprüche des faschistischen Portugals noch lange nach der Ära der Entkolonisierung in den 1960er Jahren einfach aus dem Grund, dass Portugal zu den Gründungsmitgliedern gehörte.

Vor diesem Hintergrund spiegeln gegenwärtige Ausdrucksformen afrikanischer Bündnisfreiheit weder Zweideutigkeit noch Unsicherheit über Sprache, Recht und/oder Moral. Sie entstehen vielmehr aus einem tiefen Verständnis der Geschichte und Erinnerungen an die Funktionen und Auswirkungen politischer und militärischer Allianzen. Die Kluft zwischen Europa bzw. den Europäer:innen und Afrika bzw. den Afrikaner:innen in Bezug auf internationales Recht, Moral, Ethik oder Diplomatie scheint derzeit unüberbrückbar. Zunächst erwartet Europa von allen „friedliebenden Einheiten“, dass sie sich den europäischen Positionen anschließen und die Entscheidungen der Europäer:innen unterstützen, von Sanktionen gegen Russland bis hin zur Lieferung von Militärmaterial an die Ukraine. Europäische Staatsführer:innen und mediale Berichterstatter:innen haben mehr als nur angedeutet, dass die Infragestellung der damit verbundenen politischen Maßnahmen einer Parteinahme für Russland gleichkomme und somit im Widerspruch zum ersten Prinzips des internationalen Nachkriegsregimes stehe: dass das zentrale Fundament des Friedens auf dem Nichtangriffspakt basiert, der im Völkerrecht verankert ist. Das zugrunde liegende Urteil scheint in seiner Konsequenz, dem ersten zu widersprechen. So hat beispielsweise das transatlantische Bündnis der NATO Sicherheitsinteressen, die nur für seine Mitglieder zur Debatte stehen. Mit anderen Worten: Wenn man sich den NATO-Positionen anschließt, muss man erwarten, dass man pauschale Positionen akzeptiert muss, die sich aber auf Interessen beziehen, welche auf dem Ausschluss von Nicht-NATO-Mitgliedern beruhen.

Das hat zu verwirrenden Dilemmata geführt, mit denen schwer umzugehen ist. So bestehen die Mitgliedstaaten der NATO darauf, dass sich Nicht-Mitglieder ihrer Position anschließen, wo doch die NATO nach wie vor hermetisch gegen Nicht-Mitglieder abgeschlossen ist, zu denen auch jene der einstigen kolonialen Provinzen in der Welt gehören. Und wirklich: Die transatlantische Allianz ist noch immer für Werte, Normen und Interessen unzugänglich, die anders als ihre eigenen sind. Das bedeutet, dass NATO-Positionen für eine Debatte vonseiten Anderer nicht offen sind. Somit werden globale Debatten über internationale Moral und Sicherheit im Zusammenhang mit dem aktuellen Krieg in eine geopolitische Aufschichtung von Ethik zurückgeworfen, in der die einzige Lösung in die engen Setzungen der NATO-Ausweitung gegossen ist. Mit anderen Worten wird zwar entschieden zur Verurteilung Russlands aufgerufen, aber die daraus abgeleiteten Reaktionen müssen sich an den Bewegungen Europas orientieren. Das wirft ein einzigartiges Problem im Hinblick auf die Positionen der NATO zur globalen Sicherheit auf. Es stellt sich die Frage, ob globale Sicherheit universelle Partizipation erfordert oder ob sie ein abgeschottetes Privileg des Westens und vor allem der NATO bleibt. Ist es denn wirklich ein Erfordernis internationaler Sicherheit, dass historisch bündnisfreie Staaten so tun, als hätten die Vereinten Nationen nicht jahrzehntelang über Nichtverbreitung und friedliche Koexistenz debattiert? Zwingt die globale Sicherheit Nicht-Mitglieder der Allianz dazu, auf die Überprüfung von Entscheidungen der NATO zu verzichten?

Afrikanische Bündnisfreiheit wirft diese Fragen erfolglos und sehr zum Missfallen der europäischen und westlichen Diplomat:innen, Politiker:innen und anderer auf. Als Reaktion wurde die Aufmerksamkeit weg von substanziellen Rechtsfragen auf normative und moralische Probleme gelenkt, nach denen der aktuelle Konflikt Gut und Böse gegeneinander stellt. Dieser opportunistische Appell ist genau das, wogegen die Blockfreien-Bewegung seit 1961 schützen sollte. Ausgehend von der Bandung-Konferenz 1955 wandte sich die Blockfreien-Bewegung zuvor kolonisierter Einheiten gegen den Faustischen Handel, den die NATO und der Warschauer Pakt als Bedingung für den Zugang zu den universellen Ressourcen von Souveränität, Selbstbestimmung, Frieden und Sicherheit vorschlugen. Diese Ablehnung war nicht einfach eine Gefühlssache. Die Blockfreien-Bewegung fürchtete, die Militärbündnisse des Kalten Krieges würden die spirituellen Werte des Friedens sowie das moralische Prinzip der friedlichen Koexistenz der Jagd nach politischer, wirtschaftlicher, kultureller und militärischer Überlegenheit opfern. Noch 2021, ein Jahr vor der russischen Invasion in die Ukraine, sprach der Repräsentant Zambias bei den Vereinten Nationen über die beständige Verbesserung der Arsenale der Nuklearstaaten und sagte, dass „Sicherheitsmaßnahmen und Gegenmaßnahmen, bei denen es um nukleare und andere Massenvernichtungswaffen geht, sowohl unverantwortlich als auch zerstörerisch waren“ (UN 2021). Sein Kollege aus Äquatorialguinea fügte hinzu, dass am Ende „die Staaten mit Nuklearwaffen kollektiv ihrer Verantwortung nach dem Nichtverbreitungsvertrag und anderen internationalen Verpflichtungen, die sich u.a. auf die Militarisierung des Weltraums beziehen, nicht gerecht geworden sind“ (ebd.). Beide hielten den Rüstungswettlauf, der durch Bündnisse befeuert wird, für eine Quelle der Bedrohungen für die globale Sicherheit und das Leben auf dem Planeten (Landgren 2022).

Bündnisfreiheit bedeutet sicher nicht die Abdankung von der Verantwortung. Lange vor der russischen Invasion in die Ukraine hatten die einst Kolonisierten an der Bündnisfreiheit festgehalten, um zu unterstreichen, dass die globale Sicherheit zu wichtig sei, um sie Militärbündnissen wie der NATO zu überlassen. In diesem Licht fallen globale Sicherheit und besonders Fragen von Krieg und Frieden in den Bereich globaler Angelegenheiten und sollten Gegenstand globaler Prüfung und Überlegung sein – wenn nicht einer globalen Regierungskompetenz (UN o.J.). Kurz, Bündnisfreiheit bedeutet nicht den Abschied von Verantwortung. Ganz im Gegenteil: Sie widersteht der Vermengung partikularer Interessen mit globalen und universellen Anliegen durch emotionale Manipulationen mittels normativer Fragen: etwa, ob man für oder gegen die russische Invasion in die Ukraine ist. Das will sagen, dass es nicht falsch ist, wenn Afrikaner:innen die Rechte der Ukraine, die russischen Sicherheitssorgen und die Ambitionen der NATO als getrennte Fragen behandeln, die nicht verwechselt oder als moralisch und rechtlich untrennbar miteinander vermengt werden sollten. Wie es scheint, beziehen sich für Afrikaner:innen die Erwartungen der friedlichen Koexistenz und die Anforderungen an internationale Gesetzlichkeit und Moral gleichermaßen auf die Ukraine, auf Russland und auf die NATO. Im Lichte solcher Ansichten bedeuten die allgemeinen Überlegungen zur Bündnisfreiheit, wie sie von Martin Kimani exemplarisch zu Beginn des Konfliktes artikuliert wurden, eine emphatische Ablehnung jeglicher Aggression und Besatzung eines jeglichen Landes durch ein anderes.

Die Vorstellung, dass Bündnisfreiheit Russland gegenüber der Ukraine Vorteile biete, ist deshalb bestenfalls grob und irreführend. Eine solche leitet die Untersuchung der Gründe und Ziele der Kriegführenden weg von ihrem eigenen Verständnis und ihren Reaktionen auf die Bedingungen und Erfordernisse der internationalen Koexistenz im Kontext der beiden Länder. In diesem Zusammenhang ist es nicht gänzlich ungehörig zu fragen, ob die Russische Föderation legitime Sicherheitsinteressen hat oder ob die Reaktionen auf die russische Aggression den Zielen der globalen Sicherheit dienen. Eine häufige Zurückweisung solcher Problemstellungen geht von der Vorstellung aus, die Ukraine sollte die Freiheit haben, der NATO als Ausdruck ihres souveränen Willens beizutreten. Doch dies bedeutet, objektive Fragen von Koexistenz, Nuklearwaffen und nationalem Überleben unter die unausgesprochene normative und subjektive Agenda der NATO zu subsumieren: das Streben danach, ein Land, das gemeinsame Grenzen mit Russland hat, in ein Bündnis einzuschließen, das über Nuklearwaffen verfügt.

Schlussfolgerung

Es lässt sich nicht leugnen, dass Afrikaner:innen sowohl zu Russlands Invasion in die Ukraine als auch zum Prinzip und dem Anliegen des europäischen Projekts und der NATO-Expansion in die Ukraine auf Distanz gegangen sind. Das hat Europäer:innen und besonders Amerikaner:innen verwirrt. Das hätte nicht sein müssen, wenn die Verwirrten den Argumentationslinien der Afrikaner:innen zusammen mit den Erinnerungen und Archiven, auf die sich Afrikaner:innen beziehen, Aufmerksamkeit geschenkt hätten. Durchgängig sind afrikanische Positionen nicht konträr zu internationalen Normen oder dem Prinzip eines regelbasierten internationalen Systems. Vielmehr war es ein Fehler Europas und der Westmächte, einen Gegensatz zwischen einerseits einem zivilisierten, liberalen und demokratischen Europa und andererseits einem Afrika zu insinuieren, das noch lernen müsse, worum es bei internationaler Moral, Recht und Sicherheit geht, und welche Rolle diese in den Angelegenheiten der Ukraine spielen. Der Gegensatz, der deutlich werden sollte, besteht darin, dass Afrikaner:innen sich auf Erinnerungen und historische Lektionen beziehen, die nicht Teil des europäisch/westlichen oder auch russischen Alltagsverstandes sind. In dem Maße, wie Frieden und Sicherheit Gesellschaftlichkeit und daher Multilateralismus es erfordern, dürfte sich das Streben nach einer globalen Ordnung und Sicherheit nicht einlösen lassen, ohne dass wir uns mit unserem jeweiligen kollektiven Gedächtnis auseinandersetzen, dass sowohl divergent als auch konvergent sein kann. Das erfordert gegenseitige moralische Sorge und Multilateralismus, nicht die Exekution fehlgeleiteter Urteile und Vorurteile.

 

Übersetzung aus dem US-amerikanischen Englischen: Reinhart Kößler

 

Keywords: global south, International Security Regimes, NATO, non-alignment, Russia-Ukraine conflict

Schlagwörter: Bündnisfrei, Globaler Süden, Internationale Sicherheitsordnung, NATO, Russland-Ukraine-Krieg

 

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Anschrift des Autors:                                         Anschrift der Autorin:
Siba N‘Zatioula Grovogui                                  Sarah Then Bergh
sng52@cornell.edu                                             st874@cornell.edu

https://doi.org/10.3224/peripherie.v43i1.02

Dieser Beitrag wurde im „double-blind peer-review“-Verfahren begutacht

 

 

Anmerkungen

[1]       Fast 40 Jahre später befeuerten derartige Einstellungen Ronald Reagans (1983) Rede über das „Reich des Bösen“.

[2]       Zu einem „Veranderungs“-Diskurs auf der Grundlage veränderlicher, aber einander überlappender rassialisierter Zivilisierungs-Narrative, die sich von den externen Kolonien Europas bis an die innereuropäische Peripherie erstrecken s. z.B. Boatcă 2010; Börözc 2006; Todorova 2005.

[3]       Erfahrungen mit Rassismus durchzogen für afrikanische Soldaten alle Aspekte des Kriegs, wie Berichte von Augenzeugen und Kriegsveteranen zeigen. Diese reichten von rassialisierten Annahmen über die vorgebliche natürliche Körperkraft von Afrikanern und ihren Gehorsam bei Rekrutierungsstrategien über Praktiken der „rassischen“ Trennung innerhalb der Militärlager sowie die Markierung von Afrikanern als Opfer militärischer Massaker wie dem berüchtigten Mord an Afrikanern durch die Wehrmacht in Chasseley am 20. Juni 1940, dem Hunderte zum Opfer fielen, bis hin zu ihrer segregationistischen und entmenschlichenden Behandlung als Kriegsgefangene. Insgesamt hat die Gewalt, der afrikanische Soldaten als Mitglieder der französischen Armee ausgesetzt waren, schätzungsweise einige Hunderttausend das Leben gekostet (Morgenrath & Rössel 2005).

[4]       Wie weiter unten ausführlicher gezeigt wird, dienen südafrikanische Perspektiven auf den Krieg zwischen Russland und der Ukraine in diesem Abschnitt neben anderen als exemplarisch für das übergreifende Argument der Bündnislosigkeit. Südafrikas Position hat hierzu weite Verbreitung gefunden und wurde international, auch im Westen, vielseitig diskutiert. Dementsprechend stützen wir uns bei unserer Analyse auf die offizielle Außenpolitik der südafrikanischen Regierung unter Führung des ANC. Diese hat eine Position der Bündnislosigkeit im Hinblick auf den Krieg zwischen Russland und der Ukraine bezogen. Dies entspricht der früheren, auf Bündnislosigkeit ausgerichteten südafrikanischen Außenpolitik, die etwa an Südafrikas Beendigung seines Atomwaffenprogramms 1989 und seinem Beitritt zum Vertrag über die Nicht-Verbreitung von Kernwaffen 1991 deutlich wird. Dennoch wurde in der südafrikanischen und internationalen Presse die Beständigkeit in Frage gestellt, mit der die Regierung diesen Ansatz im aktuellen Zusammenhang verfolgt. Dabei wird Südafrikas Regierung beschuldigt, in ihrer anfänglichen Verurteilung von Russlands Militäroperationen im Februar 2022 geschwankt zu haben (Hoffman 2022). Diese Ansichten wurden am prominentesten vom Oppositionsführer, John Steenhuisen, während seines sechstägigen Besuchs in der Ukraine im März 2022 vertreten. Ferner gab es in der Öffentlichkeit und den Medien weit verbreitete Kritik nach einem Besuch der ANC-Jugendliga in der Ukraine im September 2022. Die ANC-Jugendliga hatte damals vorgegeben, als „Beobachtermission“ während der Referenden zu agieren, die im September 2022 über die Integration von vier östlichen und südlichen oblasti in die Russische Föderation entscheiden sollten (Fabricius 2022b). Entsprechend derartiger Kritik haben einige gewarnt, solche Aktionen könnten die Beziehungen zu Südafrikas Handelspartnern im Westen gefährden. So zeigte sich etwa Peter Fabricius (2023) vor kurzem besorgt, dass die „immer stärkere Annäherung an Russland“ durch die Regierung ihre Handelsabkommen mit westlichen Staaten gefährden könnte, besonders mit den USA gemäß der African Growth and Opportunity Act (AGOA). Der nächste AGOA-Gipfel soll im September 2023 in Südafrika stattfinden, und ihre Neuverhandlung steht 2025 an.

[5]       Diese Formulierung stammt von Frantz Fanon (1985: 83; 79-102), dessen Analyse des rassialisierten und daher einzigartigen „SCHWARZEN“ als dreifache Person hier absichtlich nachgebildet wird, um die visuelle und rhetorische Prämisse zu illustrieren, aufgrund derer diese Plakate funktionieren.

[6]       Diese Diskussion spielt tatsächlich im breiteren Entwicklungs-Sektor eine große Rolle (z.B. Franziskaner für Menschen in Not o.J.; Mahlkow u.a. o.J.).

[7]       Die Notwendigkeit, diese als verbundene Projekte globaler Sicherheit im Zusammenhang mit Russlands Krieg in der Ukraine zu verstehen, wurde von der deutschen Ministerin für Entwicklung und Wirtschaftliche Zusammenarbeit Svenja Schulze zum Ausdruck gebracht (Küpper 2022; s. auch Rodriguez 2022).

[8]       Derartige Überlegungen wurden erneut im Zusammenhang mit der Resolution der UN-Generalversammlung zum Krieg in der Ukraine vom März 2023 vorgetragen (z.B. Schmid 2023).