Mit Toyota Pickup oder LKW. Migrations- und Fluchtwege durch die Sahara

in (20.04.2016)

Zwischen 65.000 und 120.000 MigrantInnen und Flüchtlinge aus Westafrika und dem Sahel kommen jährlich in den Maghreb: 70 bis 90 Prozent durchqueren Libyen, 20 bis 30 Prozent Algerien und Marokko1. Doch bevor sie ans Mittelmeer gelangen, müssen sie die Sahara durchqueren. Das Passieren der größten Trockenwüste der Erde ist anstrengend und gefährlich, benötigt spezielle Ausrüstung und logistische Unterstützung. Die von internationalen Policy-making-Instituten als „zentrale mediterrane Route“2 beschriebene Strecke durch die Sahara besteht im Grunde genommen aus zwei unterschiedlichen Wegen mit unterschiedlichen Akteuren und Transportmöglichkeiten. Die Tuareg und die Tubu haben sich zu primären Akteuren im Geschäft mit Grenzüberschreitungen und Sahara-Durchquerungen entwickelt. Beide Routen starten im Niger.

Die Sahara: Barriere, Brücke oder „The second face of the Mediterranean”?3

 

Zur Zeit der kolonialen Eroberung Nord- und Westafrikas und der fast zeitgleich beginnenden wissenschaftlichen Erforschung der Region wurde die Sahara als eine Barriere verstanden, die den subsaharischen Bereich, den Sahel, vom Maghreb trennte. Die kolonialen Eroberer sowie die Forschungsreisenden hatten logistische Probleme im Durchqueren der Sahara, so dass eine Sichtweise als Barriere die logische Schlussfolgerung ergab. Die Dekolonisation und anschließende Nationalstaatenbildung trug dazu bei, den trennenden Aspekt zu fördern indem die Hauptstädte, und damit die Zentren der Macht, an den Rändern der Sahara etabliert wurden. Tripolis, Algier, Nouakchott, Niamey, Bamako oder N´Djamena liegen alle an ihren nördlichen oder südlichen Grenzen und haben ihre Marginalisierung verhärtet. Auch ihre BewohnerInnen, vielfach NomadInnen, wurden und werden als marginale Randgruppen verstanden.

Eine andere Sichtweise definiert die Sahara als eine Brücke; früher durch den Karawanenverkehr durch die Sahara, der vom 1. Jahrhundert n. Chr., als das Dromedar als Reit- und Lasttier Einzug in Nordafrika hielt, bis zu seiner Blütezeit im 18. Jahrhundert eine wesentliche Bedeutung für den Austausch an Menschen, Waren und Ideen zwischen Afrika und Europa darstellte. Heute wird die Sahara auch wieder als Brücke definiert, ausgelöst durch irreguläre Migration und das Ausbreiten terroristischer und djihadistischer Gruppierungen und ihr befürchtetes Überschwappen nach Europa. Lange Zeit wurde ausschließlich das Mittelmeer als Übergangszone für irreguläre MigrantInnen thematisiert, seit den aktuellen Entwicklungen in Europa steigt das politische Bewusstsein, dass die Sahara, ähnlich dem vom französischen Historiker Fernand Braudel entwickelten Ansatz, das "second face of the Mediterranean"4 darstellt. Seine Sicht der mediterranen Welt geht über das Mittelmeer hinaus und inkludiert die Sahara als eine geografische Erweiterung dieser Region.

 

Arlit/Niger im Jänner 2012

Agence de Voyage“ steht auf dem liebevoll handbemalten Schild, das die kleine Lehmhütte mitten in Arlit, der Uranabbaustadt5 im Nordniger, ziert. In der Hütte steht ein alter Schreibtisch, auf dem Listen mit Namen von Passagieren liegen. An der mit dunkelrotem Stoff verkleideten Wand hängen Fotos, die einer touristischen Werbung gleich zeigen, wie die Agentur ihre Passagiere nach Algerien und Libyen befördert: 28 bis 30 Personen sitzen fein säuberlich geschlichtet auf einem Toyota Pickup; jeder von ihnen mit einem Wasserkanister in der Hand.

Vor der Hütte sitzt Aghali; bekleidet mit einem orangen bazin, einem gestärkten Gewand aus Damast, und einem schwarzen tagelmust, der Kopfbedeckung der Tuareg-Männer. Aghali arbeitet als Verantwortlicher, wenn der Chef der Agentur seine Dependance in Tahua besucht. Zudem ist er kamosho, ein „Passagier-Auftreiber“, und arbeitet als guide, der die Passagiere zu Fuß führt.

Vor dem Libyen-Krieg, erklärt Aghali, sind die Autos bis Djanet gefahren und haben die Passagiere in den Gärten vor der Oase abgesetzt. Im Zuge des Krieges wurden jedoch die Kontrollen der algerischen und nigrischen Sicherheitskräfte verschärft. Seitdem traut sich kaum mehr ein Chauffeur mit seiner illegalen Fracht bis nach Djanet, sondern entlässt seine Passagiere bis zu 70 Kilometer vor dem Ort, mitten in der Sahara. Dadurch ist ein neuer Berufszweig entstanden; jener des guides, ein lokalkundiger Führer, der die Passagiere zu Fuß nach Djanet und oft gleich weiter über das Tafellelet-Gebirge nach Libyen bringt.

Rhissa, einer der Chauffeure, kommt vorbei, holt sich seine Passagierliste ab und beklagt sich über die zunehmende Gefährlichkeit durch vermehrte Kontrollen der Militärs auf der Strecke. Auf meine Frage, warum er dennoch als Chauffeur arbeitet, antwortet er mir: "Was sollen wir denn sonst tun!? Wir alle haben Familie, unsere Kinder haben Hunger, wovon sollen wir leben? Von Luft? Im Niger gibt es keine Arbeit. Der Staat tut nichts, um uns zu helfen. Entweder werden wir alle Rebellen oder Banditen, oder wir packen unsere Toyotas mit Passagieren und Benzin voll. Iban eshughl – keine Arbeit, das ist unser Problem!6

Am Nachmittag treffe ich Aghali in einer kleinen Seitenstraße am Rande von Arlit wieder. Aufsteigen, aufsteigen!“ ruft er und schlichtet 30 Passagiere auf der Ladefläche eines Toyota-Pickups. Es sind alles junge Männer, die sich zwischen Gepäck und zwei Fässern Treibstoff drängen. Jene, die die 3-Tages-Reise durch die Sahara schon mehrmals angetreten sind, schützen ihr Gesicht vor dem Staub, der Hitze des Tages und der Kälte der Nacht mit einem tagelmust und sind im Vergleich zu den anderen relativ gut ausgerüstet. An diesem Tag kommen die meisten aus dem Süden Nigers und wollen nach Algerien oder Libyen, um dort Arbeit zu finden. Doch auch Männer aus Ghana, Nigeria, Gambia und dem Senegal sind dabei. Sie wollen nicht, dass ich sie fotografiere. Aghali jedoch herrscht sie an, dass sei sein Unternehmen, und ich könne fotografieren, was ich wolle. Außerdem, so meint er, „soll Europa doch sehen, welche Strapazen wir auf uns nehmen müssen!

 

Agadez/Niger im Februar 2013

 

Es ist Montag vormittag. Ich stehe mit Mohamed, einem kamosho, an der sogenannten barriere, einem Militärcheckpoint an einer der östlichen Ausfahrtspisten aus Agadez. Vor uns stehen Dutzende LKW und ebenso viele Toyota Hilux, alle ohne Nummerntafel. Dazwischen drängen sich Hunderte Passagiere, Händler, die mit ihren Bauchläden letzte Geschäfte machen möchten, und Schafe und Ziegen, die auch auf LKW verladen werden und ebenfalls über Dirkou nach Libyen gefahren werden.

Jeden Montag versammeln sich die Fahrzeuge an der barriere, müssen pro Kopf und Ladung einen bestimmten Preis an Kommissariat und Gendarmerie bezahlen, und schon wird aus dem illegalen Geschäft ein legaler Transport, der noch dazu von nigrischen Militärs begleitet wird.

Die Strecke ist seit dem Libyen-Krieg heiß umkämpft. Zwischen Tubu und Tuareg, den vormals zentralen Akteuren im Geschäft mit der Grenze, ist ein Konkurrenzkampf ausgebrochen, der zudem von Banditen und Alkohol- und Kokainschmugglern geschürt wurde. Deshalb gibt es seit 2012 den sogenannten combat, eine offizielle Militärbegleitung, um Waren und Passagiere auf dem Weg nach Dirkou zu schützen.

Ich frage Mohamed nach den Fahrpreisen nach Libyen. „Mit den LKW zahlst du 80.000 CFA7 bis Gatrun oder 90.000 CFA bis Sebha. Die Toyota Hilux sind teurer: 130.000 CFA pro Person, dafür bist du aber in 3 Tagen in Libyen, während die LKW schon mal zehn Tage brauchen können. Auf der Strecke gibt es aber viele Checkpoints, und sie alle verlangen zusätzliches Geld von den Passagieren. Nigrer zahlen nur 500 CFA, aber von Ibambaran und Igoritan8 werden 3.000, 4.000 oder 5.000 CFA verlangt. Manchmal sogar 10.000 CFA. Wenn sie nicht bezahlen können, werden sie verprügelt oder eingesperrt. Das geht so weiter in Libyen. Dort sitzen seit dem Krieg die Tubu an der Grenze und kontrollieren die gesamte Strecke bis nach Sebha. Dort geht’s noch viel schlimmer zu.

Vor einem LKW, auf den gerade die Passagiere aufsteigen, stehen drei Freunde von Mohamed, die er mir vorstellt: Siliman, der Chauffeur, Ahmad, der apprentis, ein junger Lehrling, der für Reparaturen am LKW zuständig ist und Fahrtechnik und Strecke erlernt, und ein zweiter junger Mann, der als „bonne chose“ vorgestellt wird. Er kümmert sich um die Verpflegung des Fahrers unterwegs, kocht das Essen und macht Tee. Wie fast alle Akteure, die auf dieser Strecke arbeiten, sind sie Tubu, die zwischen Libyen und dem Niger leben und arbeiten. Mohamed ist einer der wenigen Tuareg hier. Er ist jedoch mit einer libyschen Tubu verheiratet und konnte so in das Netzwerk ihrer Verwandten einsteigen.

Obwohl die libysche Grenze zu Niger seit 17.12.20129 offiziell geschlossen ist, funktioniert der Verkehr zwischen Agadez und Sebha nach wie vor. Die Tubu konnten im Vakuum in Libyen nach Qadhdhafi den Osten des Landes für sich beanspruchen und erfuhren ein finanzielles sowie territoriales empowerment. Sie organisieren seitdem einen Großteil des Transportes von MigrantInnen und Flüchtlingen zwischen Agadez und Sebha und kontrollieren die libysch-nigrische Grenze. Die Tubu begaben sich damit in Konkurrenz zu den Tuareg und stellten deren einstige Monopolstellung in Frage, was nicht ohne gewalttätige Zwischenfälle von Statten ging10.

 

Afrod und transa, zwei unterschiedliche Transportsysteme durch die Sahara

 

Die als „zentrale mediterrane Route“ (im Unterschied zur westlichen Route, die durch Marokko führt) bekannte Strecke besteht aus zwei unterschiedlichen Wegen mit unterschiedlichen Akteuren und verschiedenen Fahrzeugen. Lokal werden sie als afrod und transa bezeichnet.

 

1) Arlit – Tamanrasset/Djanet – Ghat/Ubari

Diese Strecke wird lokal als afrod bezeichnet, mit Toyota-Pickups befahren und fast ausschließlich von Tuareg betrieben. Afrod leitet sich vom französischen la fraude/Schmuggel ab, hat sich beginnend in den 1960er Jahren etabliert und war ursprünglich eine Strecke, auf der zunächst mit Kamelen, und ab den 1980er Jahren mit Toyotas (Toyota-Station genannt), subventionierte Grundnahrungsmittel (u. a. Trockenmilchpulver, Tomaten in der Dose, Speiseöl, Zucker, Nudeln, Reis) von Algerien und Libyen in den verarmten nigrischen Norden transportiert wurden. Diese second economies untergruben jedoch nicht die staatlichen Ökonomien, sondern trugen dazu bei, das Warenangebot in Niger zu sichern.

In weiterer Folge kam der Schmuggel von billigerem Treibstoff aus Algerien hinzu. Im Nordniger z. Bsp. gibt es außer in Arlit und Agadez keine einzige staatliche Tankstelle. Um jedoch die Wasserpumpen in den Gartenanlagen zu versorgen und LKW-Transporte mit Gemüse in die Oasen zu garantieren, braucht es Treibstoff, der nur durch Schmuggel erwerbbar ist.

In den 1980er und 1990er Jahren, beginnend mit den großen Dürren im Sahel (vor allem die "große" Dürre von 1984 - 86) und der dadurch ausgelösten ersten Tuareg-Rebellion in Niger (1990–1996), bekam afrod eine weitere Dimension. Familien wurden aufgrund der Dürre und der Übergriffe der Militärs gezwungen, in die Nachbarstaaten zu emigrieren. In der Folge diente afrod nicht nur jungen Männern, um nach Algerien und Libyen zu gelangen, um dort zu arbeiten, sondern Frauen und Kinder fuhren mit, um mit ihren transnational verteilten Familien Kontakt halten zu können. So baute sich langsam eine Struktur auf, die auch subsaharischen Migrantinnen und Flüchtlingen auf ihrem Weg nach Nordafrika und teils weiter nach Europa zu dienen begann. 28 bis 30, manchmal sogar 32 Passagiere werden pro Toyota-Pickup transportiert, und die rund 1.000 Kilometer lange Strecke dauert im Normalfall drei Tage.11

 

2) Agadez – Dirkou – Gatrun – Sebha

Diese Route wird transa genannt, leitet sich vom Wort „trans“ oder „transit“ ab und beruht auf dem Transport mit großen LKW. 100 bis 120 Passagiere und Waren aller Art finden auf jedem truck Platz. Die Akteure sind Araber, Tubu, Hausa und nur sehr wenige Tuareg. Die Entwicklung dieser Strecke begann ebenfalls in den 1980 mit den Dürreperioden im Sahel; in den 1990ern führten verschiedene ökonomische und politische Faktoren zu einem zunehmenden Migrationsbedarf von Westafrika in die Maghreb-Staaten.

Das System der transa ist relativ gut erforscht,12 seit es zur Hauptroute von subsaharischen MigrantInnen Richtung Europa geworden ist. Transa ist eine halboffizielle Strecke entlang mehrerer Militärcheckpoints, die eine Art transit duty verlangen und daraufhin Passagiere auch ohne gültige Papiere passieren lassen, da sich die Personen innerhalb der CEDEAO/ECOWAS (Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft) bewegen. Im Niger ist es – solange das Fahrzeug und seine Passagiere registriert werden – somit legal, einen Toyota oder LKW mit sans-papiers vollzuladen und bis an die Grenzen von Algerien oder Libyen zu bringen. Über die Grenze ändert sich das: Legaler Transport wird zu illegaler Migration.

 

Zweifelhafte EU-Strategien: legale Rahmenbedingungen und lokale Auswirkungen

 

Die Sahara und insbesondere Libyen waren schon immer ein Raum der Verbindung und des Durchgangs von Menschen, Waren und Ideen: in früheren Zeiten Händler und Forschungsreisende, heute Flüchtlinge und MigrantInnen. Die Routen durch die libysche Sahara werden bis heute für Strategien von Kleinhandel und Schmuggel genutzt. Zwar haben die kolonialen Grenzen und die veränderten Transportmöglichkeiten den Trans-Sahara-Handel in den späten 1800er Jahren beendet, die Verbindung zur tripolitanischen Küste hielt sich jedoch bis in beginnende 20. Jahrhundert, da es einfach der schnellste Weg war, um ans Mittelmeer zu gelangen13.

 

Seit zwei Jahrzehnten ist Libyen der primäre Ausgangspunkt für subsaharische Flüchtlinge und MigrantInnen auf ihrem Weg nach Europa. Seit 2004 kooperiert die Europäische Union mit Libyen (Across Sahara I, II, SaharaMed14, TRIM15, AVRR16, TAIEX17, etc.), um gegen die irreguläre Migration vorzugehen. Die EU finanziert Grenzüberwachungen, Rückführung von MigrantInnen, leistet technische Hilfestellung, organisiert Trainings gegen Menschenschmuggel und befürwortete die Errichtung von Abschiebelagern18. Laut dem Global Detention Project19 sollen im Jahr 2014 fünfzehn (von insgesamt 26) Anlagen noch in Betrieb gewesen sein. Auch Abschiebekampagnen, auf Arabisch hamla genannt, wurden ab 2004 in Libyen durchgeführt, dienten aber nicht dazu, MigrantInnen abzuhalten. Oftmals waren diese Kampagnen im Vorfeld bekannt, so dass sich Personen ohne Papiere verbergen konnten, oder aber die libyschen Arbeitgeber und Unternehmer schützten ihre afrikanischen ArbeiterInnen, da sie von ihrer Arbeitskraft abhängig waren.

Für die EU hat die Zusammenarbeit mit Libyen gut funktioniert, obwohl die Maßnahmen nicht erfolgreich waren, denn die Mittelmeerüberschreitungen hielten unvermindert an, u. a. durch Korruption und Bestechung auf hoher politischer Ebene, und obwohl sich Libyen massiver Menschrechtsverletzungen und brutaler unmenschlicher Behandlung von Flüchtlingen/MigrantInnen schuldig machte.

Illegale Transportstrategien konnten sich in Libyen ungehindert entwickeln. Die Verbindung zwischen Ghat im Südwesten nach Sebha und weiter nach Norden zum Beispiel wurde lokal als „at-tubbu – die Röhre“ bezeichnet. Es handelte sich um eine gut organisierte Verbindung von malischen und nigrischen Tuareg und libyschen Arabern, bei der die Menschenhändler nicht die Straßen, sondern Pisten benutzten, militärische Checkpoints umgingen oder sie bestochen haben.

In der Tat war Libyen weder hilfreich noch effektiv bei der Verhinderung irregulärer Migration in die EU. Nach dem lokalen Motto „fi Libya kull shay mumkin – in Libyen ist alles möglich erleichterten ineffiziente Kontrollen, unfähige und unwillige Beamte, sich ändernde Richtlinien der nationalen Politik, der chaotische libysche Verwaltungsapparat und al-Qadhdhafis wechselnde Besonderheiten die Entwicklung von Strategien der Umgehung und Hinterziehung. Doch die Abhängigkeit von Libyens Öl und seine entscheidende Rolle als Barriere gegen unerwünschte MigrantInnen waren die Gründe für die europäischen Doppelstandards im Umgang mit Libyen20. Al-Qadhdhafi instrumentalisiert diesen Umstand, profitierte von europäischen Subventionen und stärkte damit seine politische Position. Das ehemalige „enfant terrible“ eines „Schurkenstaates“ wurde zu einem voll akzeptierten Mitglied der internationalen Politik.

Der 2011 ausgebrochene Bürgerkrieg in Libyen hat die Migrationsbewegungen an die libysche Küste Libyens nicht wesentlich reduziert. Die brutale Gewalt rivalisierender Gruppen und die allgemeine Unsicherheit machen die Durchquerung Libyens zwar sehr gefährlich, aber dennoch ist diese Route immer noch attraktiver als jene durch Algerien.

 

Repressive Maßnahmen Algeriens

 

Das EU-Algerische Assoziierungsabkommen, unterzeichnet im Jahr 2002 und 2005 in Kraft getreten, erarbeitete Punkte zur Zusammenarbeit, Kontrolle und Prävention irregulärer Migration. Die Grenzkontrollen Algeriens und seine fixen und mobilen Checkpoints im Land gewähren eine starke Überwachung, und die Strafen für Menschenhändler und irreguläre MigrantInnen sind hoch. Offiziell wird unrechtmäßiger Aufenthalt im Land mit 2 bis 6 Monaten Gefängnis geahndet, direkte oder indirekte Hilfestellungen von illegalen MigrantInnen mit 3 bis 5 Jahren und Menschenhändler werden mit 3 bis 10 Jahren, bei nicht näher beschriebenen „erschwerenden Umständen“ mit bis zu 20 Jahren Gefängnis bestraft21.

In der Realität werden die drastischen Strafen Algeriens jedoch individuell behandelt. Moussa, ein nigrischer Targi22, der lange Zeit zwischen Libyen und Niger pendelte, wurde im Frühling 2008 an der grünen Grenze zwischen Libyen und Algerien (Tin Alkoum) von einer Militärpatrouille aufgegriffen und, da er keine Papiere bei sich trug, inhaftiert. Er erzählt:

Wir hatten die Grenze schon zu Fuß passiert, sind von den Hunden nicht bemerkt worden und gingen ein paar Meter auf der Piste Richtung Djanet, als uns zwei afras (Anm.: die Militärfahrzeuge Algeriens, allesamt Nissan Patrol, werden lokal so genannt) entgegenkamen. Chance auf Flucht hatten wir keine. Wir waren zu fünft, drei Tuareg, zwei Hausa. Im Gefängnis in Djanet nahmen sie uns alle Wertsachen ab, meinen Schlafsack durfte ich behalten. Wir drei Tuareg kamen in einen offenen Hof zu anderen Tuareg und mussten uns nur nachts in ein versperrtes Zimmer zurückziehen. Der Hof war nur von einer hohen Mauer umgeben, über die sogar manche eine Flucht versuchten und schafften. Den Militärs war das anscheinend egal. Sie überprüften nicht, wie viele Personen wir täglich waren. Ich habe mich nicht getraut, denn das Gefängnis liegt weit ab von Djanet, und ich hätte den Weg dahin nicht gefunden.

Die beiden Hausa kamen zu den anderen Afrikanern. Die waren Tag und Nacht in einen Raum gesperrt. Nach ein paar Tagen gab es unseren Prozess, dafür wurden wir nach Djanet ins Gericht gefahren. Es war sehr korrekt. Wir bekamen auch alle unsere Wertsachen zurück. Unser Vergehen, illegale Einreise ohne Papiere, sei in Algerien nicht erlaubt, aber sie würden uns vergeben und nicht mit Gefängnis bestrafen, sondern in den Niger zurückschieben. Für mich war das nicht so schlimm, denn ich wollte sowieso dahin zurück.

Nach insgesamt ungefähr einer Woche wurden wir mit einem LKW in ein Gefängnis nach Tamanrasset überstellt. Dort ging es anders zu. Wir waren mit ein paar hundert Menschen in einem großen Raum eingesperrt. Vorn war ein Gitter, dort war das Klo, eine Tonne, aus der der Urin auslief. Wenn du dir keinen Platz hinten an der Wand sichern konntest, musstest du neben der Tonne liegen. Es war ekelhaft. Jeden Tag gab es eine Packung Milchpulver für jeweils 5 Personen, dazu ein Stange Brot pro Person. Abends bekamen wir eine wässrige Linsensuppe. Linsen kann ich bis heute keine mehr essen. Die Militärs meinten, wir sollen uns nicht beklagen, die EU bezahle unser Essen.

Nach zwei Tagen wurden wir nachts auf zwei LWK verladen. Der eine fuhr nach Bordj Moktar (Grenze zu Mali), der andere nach Assamakka (Grenze zu Niger). Als Proviant schmissen sie uns Brot auf die Ladefläche. Gegen Mittag kamen wir in Assamakka an, wurden abgeladen, der LWK drehte um und fuhr zurück. In Assamakka warteten bereits ein paar Toyota-Pickups, die, wenn du genügend Geld hast, dich sofort wieder nach Tamanrasset oder Djanet zurückbringen. Viele von den abgeschobenen Passagieren drehten sofort wieder um. Ich bekam ein Auto nach Arlit und fuhr zu meiner Mutter.“

Irregulären MigrantInnen drohen auch in Algerien nur selten längere Gefängnisstrafen. Hart vorgegangen wird jedoch gegen die Akteure im Grenzgeschäft. Tuareg, die sich als Chauffeure zwischen Niger und Libyen betätigen und Passagiere transportieren, werden mit harten Strafen sanktioniert. Haftstrafen von dre, fünf oder gar zehn Jahren sind normal, das Fahrzeug wird eingezogen und kann nur durch eine hohe Kaution wieder freigekauft werden. Dennoch lassen sich viele davon nicht abschrecken, da es eine der wenigen ökonomischen Nischen für sie ist und die Nachfrage an Transporten nach Norden groß ist.

 

Geplante EU-Maßnahmen zur Bekämpfung irregulärer Migration durch die Sahara

 

Die Sahara war und ist ein Raum der Bewegung von Menschen, Waren und Ideen und als „second face of the Mediterranean“ ein unmittelbarer Nachbar Europas. Die bis dato verfolgten Strategien der EU in Bezug auf Migration durch die Sahara und über das Mittelmeer bezogen sich primär auf eine Bekämpfung der Symptome und wendeten scheinheilige Methoden an, um Migration zu verhindern. Derartige Maßnahmen, egal ob in Libyen, Algerien oder das von EUCAP geplante und finanzierte neue Auffanglager in Agadez/Niger,23 stellen jedoch keine nachhaltigen Lösungen dar, solange sich die EU nicht den ursächlichen Gründen der Migration stellt.

Das Gipfeltreffen in Valetta/Malta24 im November 2015 wäre eine Chance gewesen; es endete jedoch (wieder) mit einem enttäuschenden Ergebnis. Am 11. und 12. November sondierten europäische und afrikanische Staats- und Regierungschefs die Möglichkeiten für eine engere Zusammenarbeit und erörterten die aktuellen Herausforderungen der Migration. Herkunfts-, Transit- und Zielländer für die Migration seien gemeinsam verantwortlich. Der verabschiedete Aktionsplan sieht folgende Ziele vor: Bekämpfung der Ursachen für irreguläre Migration und Vertreibung, Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich der legalen Migration und Mobilität, mehr Schutz für MigrantInnen und AsylbewerberInnen, Verhinderung und Bekämpfung der irregulären Migration, der Schleusung von MigrantInnen und des Menschenhandels und eine Verbesserung der Zusammenarbeit bei der Rückführung und Rückübernahme. Doch die Erklärung und der Aktionsplan sind voll von vagen Aussprüchen und sich wiederholenden Vereinbarungen, die bereits an anderer Stelle unterzeichnet wurden 201525.

Es steht zu befürchten, dass nach Jahrzehnten der fehlgeleiteten Politik, die letztendlich nur Europas Wirtschafts- und machtpolitische Interessen im Visier hatte, sich an den zukünftigen, primär repressiven Maßnahmen nichts ändern wird. Anstatt die neokoloniale Position der EU zu verhärten, wäre eine echte ökonomische Unterstützung der westafrikanischen Staaten angebracht, die u. a. die Macht europäischer und multinationaler Konzerne eindämmt und die lokale Wirtschaft fördert, anstatt den Import europäischer Produkte aufzwingt. Auch die EU-Forderung nach demokratischen Strukturen war bis jetzt ein billiges Lippenbekenntnis, da sich im Endeffekt nur Allianzen mit konformen Machthabern etabliert haben.

 

1Hein de Haas, November 1, 2006: Trans-Saharan Migration to North Africa and the EU: Historical Roots and Current Trends, MPI, Migration Policy Institute

http://www.migrationpolicy.org/article/trans-saharan-migration-north-africa-and-eu-historical-roots-and-current-trends

2Altai Consulting Report, Migration Trends Across the Mediterranea: Connecting the Dots, July 6, 2015

http://www.altaiconsulting.com/library_details/161006

3Judith Scheele, James McDougall: Introduction. Time and Space in the Sahara. In: James McDougall, Judith Scheele (Hg.): Saharan Frontiers. Space and Mobility in Northwest Africa. Bloomington: Indiana Press, 2012, S. 1-21. Ralph Austen: Trans-Saharan Africa in World History. Oxford: University Press, 2010. Hélène Claudot-Hawad: A nomadic fight against immobility: The Tuareg in the Modern State. In: Dawn Chatty (Hg.) Nomadic Societies in the Middle East and North Africa. Entering the 21st century. Brill: London, 2006, 654-681.

 

4Fernand Braudel: The Mediterranean and the Mediterranean World in the Age of Philipp II. London: Collins, 1972 [1966].

5Im Niger betreibt der französische Kernenergie-Konzern und Weltmarktführer in der Nukleartechnik AREVA die größten Uranminen der Welt: Somaïr (Exploration seit 1971), Cominak (seit 1978) und Imouraren (geplante Eröffnung 2016).

6Das Gespräch mit Aghali und Rhissa (Namen geändert) fand am 1. Jänner 2012 in Arlit statt. Eine ähnliche Passage wurde veröffentlicht in: Ines Kohl: Die Sahara, ein schwelendes Pulverfass? Ein Bericht über wirtschaftliche und politische Machtspiele. In: International II/2012, S. 12 –16. Siehe auch: Ebd., Beautiful Modern Nomads. Bordercrossing Tuareg between Niger, Algeria and Libya. Berlin: Reimer, 2009. Ebd., Terminal Sahara. Sub-Saharan migrants and Tuareg stuck in the desert. In: Stichproben. Wiener Zeitschrift für kritische Afrikastudien 28/2015, S. 55 – 82.

765.000 CFA sind 100 Euro.

8Lokale Tamasheq-Begriffe für Subsaharier.

9Radio France International.

10Stevis, M. (2015) ‘Rich smuggling trade fuels daily migration across Mediterranean’, 20 April 2015, The Wall Street Journal. http://www.wsj.com/articles/rich-smuggling-trade-fuels-deadly-migration-across-mediterranean-1429576356; International State Crime Initiative (2015) Tuareg accuse France of promoting Libya’s latest post-Nato war. http://statecrime.org/state-crime-research/tuareg-accuse-france-promoting-libyas-latest-post-nato-war/

11Eine ausführliche Beschreibung und Definition von afrod siehe: Ines Kohl: Beautiful Modern Nomads: Bordercrossing Tuareg between Niger, Algeria and Libya. Berlin: Reimer, 2009. Ebd., Afrod, le business Touareg avec la frontière. Nouvelles conditions et défis. In: Politique Africaine 2013/132, S. 139 – 159. Ebd., Terminal Sahara. Sub-Saharan migrants and Tuareg stuck in the desert. In: Stichproben. Zeitschrift für kritische Afrikastudien 28/2015, S. 55 - 81. Siehe auch: Julien Brachet: Migrations transsahariennes. Vers un désert cosmopolite et morcelé (Niger). Bellecombe-en-Bauges: Editions du Croquant, 2009. Emmanuel Gregoire: Les migrations oust-africaine en Libye. In: Laurence Marfaing, Steffen Wippel (Hg.): Les relations transsahariennes à l´époque contemporaine.Une espace en constant mutation. Paris: Karthala, 2004, S.173 - 191.

12Siehe Julien Brachet: Migrants, Transporteurs et Agents de l´Etat. Rencontre sur l´axe Agadez – Sebha. In: Autrepart 4/nr. 36, 2005. Ebd., Migrations transsahariennes, 2009. Ebd., From One Stage to the Next: Transit and Transport in (trans) Saharan Migrations. In: Heine De Haas, Mohamed Berriane (Hg.): African Migrations Research: Methodologies and Methods. Trenton/New Jork: Africa World Press, 2012. S. 91 - 113. Ebd., Stuck in the Desert, S. 73 - 88. Ebd., Movements of People and Goods, S. 238 - 256. Fabrizio Gazzi: Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa, München: Kunstmann, 2010. Gregoire, Emmanuel, Les migrations oust-africaine, 2004.

13Olivier Pliez, Le Fezzan, mutation d´une region saharienne, Bulletin IRMC, nr. 67, 3-9.

18Stefan Brocza, Martina Jäger, 2015: EU-finanzierte Internierungslager in Libyen. In Stefan Brocza (ed.): Die Auslagerung des EU-Grenzregimes. Externalisierung und Exterritorialisierung. Promedia: Wien, 145-157.

20Matthew Carr, How Libya kept migrants out of EU – at any costs, The Week, April 5, 2011. http://www.theweek.co.uk/6515/how-libya-kept-migrants-out-of-eu-at-any-cost

22Sgl. mask. von Tuareg