Absurde Zeiten

Editorial aus Graswurzelrevolution Nr. 443, November 2019

Liebe Leserinnen und Leser,

wir leben in absurden Zeiten.

 

1.) Angriffskrieg gegen Rojava

 

Am 9. Oktober 2019 startete die nach den USA zweitgrößte Armee der NATO einen brutalen Angriffskrieg gegen die Kurd*innen im Norden Syriens (siehe „Rheinmetall entwaffnen!“-Schwerpunkt auf Seite 3 ff. und Rojava-Artikel auf Seite 8). Der türkische Autokrat erklärte offen, dass er eine „Sicherheitszone“ im Norden Syriens erobern, die dort lebenden Kurd*innen vertreiben und stattdessen syrische Flüchtlinge aus der Türkei in dem „gesäuberten“ Gebiet zwangsansiedeln will. Und was macht die deutsche Verteidigungsministerin? Verurteilt sie diese ethnische Säuberung? Stoppt sie alle deutschen Waffenlieferungen und Wirtschaftshilfen für den Aggressor? Bietet sie den vor den deutschen Leopard-Panzern fliehenden Menschen Asyl an? Fordert sie, dass der Massenmörder Recep Tayyip Erdoğan für seinen Völkerrechtsbruch vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag gestellt wird? Nein, sie toleriert die Kriegsverbrechen und bietet allen Ernstes an, dass Bundeswehrsoldaten zusammen mit der türkischen Invasionsarmee eine „Sicherheitszone“ in dem bis vor Kurzem noch von Kurd*innen selbstverwalteten und demokratisch organsierten Rojava (Westkurdistan) aufbauen. Sind die bestialischen Taten, die die türkische Armee und ihre islamistischen Hilfstruppen begehen, akzeptabel? Und die Bundeswehr soll sich an dieser türkischen Kriegs- und Zwangsumsiedlungspolitik beteiligen? Absurd!

Als antimilitaristische Zeitung werden wir in den nächsten Ausgaben mehr über die Situation in Rojava berichten. Wir solidarisieren uns mit allen Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern und fordern einen Stopp aller Waffenlieferungen.

 

2.) Prozess gegen GWR-Mitherausgeberin Cécile

 

Während Politiker*innen von Merkel bis Obama plötzlich Klimaschüzer*innen sein wollen und Greta Thunberg loben, wird Klimaprotest kriminalisiert und eine andere Klimaaktivistin schikaniert: GWR-Mitherausgeberin Cécile Lecomte. Die ehemalige französische Klettermeisterin hat mit ihren spektakulären Kletteraktionen u.a. gegen Castortransporte diese gewaltfreie Aktionsform in Westeuropa populär gemacht. Sie ist aufgrund ihrer Aktionen und ihres Buches „Kommen sie da runter!“ (1) in den sozialen Bewegungen beliebt. Der Lüneburger Polizeipräsident hat sie dagegen in einem NDR-Interview als „verrückt“ bezeichnet und vor einem Castortransport „vorbeugend“ inhaftieren lassen. Auch für einen Staatsanwalt am Lingener Amtsgericht ist Cécile offenbar ein personifiziertes Feindbild. Den Eindruck konnte gewinnen, wer am 8. Oktober am Prozess gegen Cécile in Lingen teilnahm. Die Staatsanwaltschaft wirft der aufgrund ihrer Krankheit heute auf den Rollstuhl angewiesenen Aktivistin vor, sie habe sich während einer Demo gegen die Brennelementefabrik am 19. Januar 2019 in Lingen „mit Ihrem elektrischen Rollstuhl vor den Funkstreifenwagen“ gestellt und ihre Bremse angezogen. Das sei laut Polizei ein „gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr und Nötigung“ und laut Staatsanwalt „Widerstand“. Dazu Cécile: „Es handelt sich um einen konstruierten Vorwurf, der Atomkraftgegner*innen einschüchtern soll. Die Anklage nehme ich als Diskriminierung wahr. Denn die Menschen, die um mich standen, wurden nicht angeklagt. Nur ich, weil ich da mit meinem Rollstuhl saß – an der gleichen Stelle wie die anderen Demonstrant*innen.“ Es ist absurd, dass es gegen die Schwerbehinderte, die keinen Beamten berührt hat, überhaupt zu einem Prozess gekommen ist. (2) Das laute „Pfui!“, mit dem eine Prozessbeobachterin auf die Anträge von Staatsanwaltschaft und Richter reagierte, bringt es auf den Punkt. Das Verfahren muss sofort eingestellt werden!

 

3.) Faschist Höcke hetzt gegen „linksextreme“ GWR

 

Einen Tag, nachdem die Ökoaktivistin Cécile unter schikanösen Umständen vor Gericht stand, ermordete ein Nazi in Halle zwei Menschen. Nur weil die Synagogentür den Angriffen des Rechtsterroristen standhielt, wurde ein Massenmord an der jüdischen Gemeinde verhindert. Die geistigen Brandstifter dieser antisemitischen und rassistischen Tat lassen sich u.a. in der AfD finden.

Trotzdem sind Thüringens AfD-Chef Björn Höcke alias Neonazi „Landolf Ladig“ und sein faschistischer „Flügel“ für den Verfassungsschutz nur ein „Verdachtsfall“.

Weil der Thüringer Verfassungsschutzchef Stephan Kramer (SPD) 2018 aus der Graswurzelrevolution Nr. 431 vorlas, um zu begründen, warum Höcke beobachtet werden soll, beraumte die AfD eine Sondersitzung des Thüringer Landtags für den 17. Oktober 2019 ein, um Kramer zu stürzen. Der Antrag wurde abgelehnt. In der „Thüringer Allgemeinen vom 18. Oktober heißt es dazu: „Den einzig humorvollen Beitrag in der letzten Plenardebatte vor der Landtagswahl, von der AfD beantragt, um Verfassungsschutzchef Stephan Kramer (SPD) zu kippen, lieferte eine Juristin. Die SPD-Fachfrau für Innenpolitik, Dorothea Marx, stand am Rednerpult und musste gestern schmunzeln, da sie wusste, was gleich käme. Eine eidesstattliche Erklärung für AfD-Chef Björn Höcke habe sie vorbereitet, sagte Marx. Er müsse nur schriftlich beeiden, niemals unter dem Pseudonym ‚Landolf Ladig‘ Texte in Zeitungen der rechtsextremen NPD veröffentlicht zu haben. ‚Dann wäre das endlich erledigt, ohne dass Sie weiter als Drückeberger dastehen‘, sagte Marx. Höcke (…) unterschrieb abermals nicht. (…) ‚Niemand muss sich zu Unsinn äußern‘, sprang AfD-Spitzenpolitiker Stefan Möller seinem Co-Chef Höcke gestern bei. Derjenige, der die Ladig-gleich-Höcke-Geschichte in die Welt gesetzt habe, sei ein AfD-Hasser und Linksextremist, sagte Möller. (…) Es war der Soziologe Andreas Kemper, der vor einem Jahr in einer als linksextrem eingestuften Publikation zum wiederholten Male darlegte, warum für ihn Höcke identisch mit dem NPD-Autor Landolf Ladig sei. Wenig später machte sich Verfassungsschutzchef Kramer Kempers Thesen zu eigen. In einer Pressekonferenz Anfang September 2018 verkündete Kramer, seine Behörde wolle die AfD Thüringen überprüfen. Es gelte festzustellen, ob die Partei extremistisch sei oder nicht.“ (3)

Der von den AfDern als „AfD-Hasser“ und „Linksextremist“ bezeichnete Autor der Graswurzelrevolution ist übrigens ein sehr kompetenter Soziologe, der auch für die neue GWR wieder einen Artikel geschrieben hat. Und, bibber, zitter, wie heißt eigentlich diese geheimnisvolle, von der AfD als „linksextrem eingestufte Publikation“, deren Namen die „Thüringer Allgemeine“ nicht nennt?

Graswurzelrevolution.

Viel Spaß beim Lesen der neuen Ausgabe wünscht

 

Bernd Drücke (GWR-Koordinationsredakteur)

 

Anmerkungen:

1) https://www.graswurzel.net/gwr/produkt/kommen-sie-da-runter/

2) Weitere Infos auf Céciles Blog: http://blog.eichhoernchen.fr

3) https://www.thueringer-allgemeine.de/politik/hoecke-unterschreibt-nicht-id227395451.html

 

 

Editorial aus: Graswurzelrevolution Nr. 443, November 2019, www.graswurzel.net

 

 

 

BILDTEXT:

Protestaktion zum "Rollstuhlprozess" am 8. Oktober 2019 in Lingen (Niedersachsen). Foto: Bernd Drücke