Mali: Neues Spiel mit alten Karten

Akteure und ihre Interessen

in (22.10.2013)

Mali hat einen neuen Präsidenten, Tuareg-Rebellen üben sich in Zurückhaltung, und die islamistischen Extremisten oder Djihadisten sind dank der französischen Operation Serval aus Mali vertrieben worden. Dass sie nun die Nachbarstaaten infiltrieren und sich neu formieren, steht in politischen Kreisen offensichtlich nicht zur Debatte. Der am 11. August neu gewählte Präsident, der 68 Jahre alte Ibrahim Boubakar Keita, kurz IBK genannt, will dem Land Frieden und Sicherheit bringen und die Korruption bekämpfen. Ein hehres Ziel für das seit 20 Jahren in der Regierung ansässige "alte Krokodil", wie ihn die Wochenzeitung Jeune Afrique nennt.


IBK, der von 1994 bis 2000 Premierminister war, muss mit den Tuareg des Nordens einen Friedensvertrag aushandeln, etwaig aufflackernde islamistische Terroristen im Griff haben, und grundlegende soziale und ökonomische Reformen angehen. Er darf dabei mir rund 3 Milliarden Dollar Unterstützung aus dem Westen rechnen. Ein neues Spiel mit alten Karten, indem aus Sicht Süd-Malis die Tuareg das große Problem darstellen.

Doch was ist mit den anderen ethnisch oder religiös motivierten Gruppen die ebenfalls Separationsforderungen durchsetzen oder islamisches Recht installieren wollten? Welche Position nehmen terroristische Djihadisten ein, die von der französischen Militärintervention nicht zerschlagen, sondern nur verteilt worden sind? Wie werden sich der Ruf nach Freiheit, islamistische Forderungen, terroristische Aktivitäten und Drogengeschäfte in einem neuen Mali vereinen lassen? Und welche Rolle spielen internationale und neokoloniale Interessen im Kampf um die Ressourcen Malis?

In diesem Beitrag möchte ich aus aktuellem Anlass die Ereignisse in Mali, die zur Eskalation eines seit Jahrzehnten schwelenden Konfliktes geführt haben, und ihre vielfältigen Akteure darstellen und analysieren. Denn die weitere Entwicklung in Mali wird maßgeblich und nachhaltig die Situation in ganz Westafrika prägen.

 

Der Beginn der Krise

 

Die offensichtliche Eskalierung in Mali begann im Januar 2012, als eine Gruppe bewaffneter Tuareg das malische Militär aus dem Norden vertrieb. Die Rebellen wurden eines Massakers an über 80 Militärs im kleinen Ort Aguelhoc bezichtigt. Daraufhin verweigerte die schlecht ausgerüstete malische Armee ihren Dienst, und (der in den USA ausgebildete) Hauptmann Amadou Sanogo putschte gegen den seit 2002 amtierenden Präsidenten Amadou Toumani Touré, ATT genannt. Wenige Tage später proklamierten Tuareg, die sich in der MNLA (Mouvement Nationale pour la Liberation d´Azawad) formierten, die Unabhängigkeit von Mali und riefen den Staat Azawad aus. Damit eskalierte zwar die Situation in Mali. Das stellte aber nicht den Beginn der Krise dar; diese begann wesentlich früher.

Die eigentliche Krise begann in der Kolonialzeit. Die Franzosen dominierten in ihrer 77 Jahre lang bestehenden Kolonie den Süden Malis, zwangen die Bevölkerung zu exportbedingtem Baumwoll- und Erdnussanbau und vernachlässigten den aus damaliger Sicht unrentablen Norden. Schon im 19. Jahrhundert wurde bei den Tuareg die Idee auf Unabhängigkeit geboren, die sie am Ende der französischen Kolonialherrschaft jedoch aufgeben mussten. Der neu geborene Staat Mali beharrte darauf, den Norden innerhalb seines Territoriums zu belassen, unter anderem weil schon damals immense Bodenschätze auf diesem Gebiet vermutet wurden.

Nach der Unabhängigkeit 1960 dauerte es daher nur ein paar Jahre, bis die erste Tuareg-Revolte (1963-64) ausbrach. Sie rebellierten ein weiteres Mal zwischen 1990 und 1996, ein drittes Mal 2006 und ein viertes Mal 2008. Die Forderungen der Tuareg waren stets dieselben: Politische Dezentralisierung und eine soziale und ökonomische Entwicklung ihrer Region. Doch die Vergeltungsschläge der malischen Armee gegen Tuareg-ZivilistInnen hinterließen eine tief traumatisierte Gesellschaft und ein ethnisch gespaltenes Land. Nachdem diverse Friedensabkommen unter der Vermittlung Algeriens keinerlei Verbesserungen für den benachteiligten Norden brachten, wurde letztes Jahr von der MNLA schlussendlich die Separation vom malischen Staat gefordert.

 

Das "Tuareg-Problem"

 

Als Auslöser der Krise in Mali wird stets das "Tuareg-Problem" genannt. Die Tuareg1 zählen zu den Berber-SprecherInnen und sind ursprünglich nomadische ViehzüchterInnen, die infolge der kolonialen Grenzziehung auf Mali, Niger, Burkina Faso, Algerien und Libyen verteilt leben.

In den letzten Jahrzehnten hat sich das Leben der traditionell viehzüchtenden NomadInnen jedoch radikal verändert. In Algerien und in Libyen ist Nomadismus durch Sesshaftigkeitsbestrebungen der Regierungen fast zur Gänze verschwunden, und in Mali und Niger, wo Nomaden einst die stärkste Gruppe darstellten, ist ein großer Rückgang zu verzeichnen. Ausschlaggebend dafür sind ökologische Krisen in der Sahara und im Sahel. Seit den 1980er Jahren verzeichnet der Sahel wiederkehrende Dürre. Gegen eine Phase der Trockenheit sind NomadInnen gewappnet und haben Strategien entwickelt. Wenn aber Dürren in immer kürzeren Abständen wiederkehren, dann können sich Menschen und Tiere nicht mehr erholen. Nachdem die afrikanischen Staaten nichts unternahmen, um die verarmten NomadInnen zu versorgen, brachen in Mali und Niger mehrere Rebellionen aus.

 

MNLA, Freiheit für Azawad

 

Die Kämpfer der MNLA sind Rebellen mit nationalistischer laizistischer Ideologie, die sich von jeglicher religiöser Prägung distanzieren. Sie selbst betonen, dass sie keine ethnisch motivierte Gruppe sind, sondern alle BewohnerInnen Azawads, also auch Araber, Songhai und Peul (Fulbe), repräsentieren. Die Rebellen kommen jedoch fast ausschließlich aus tribalen Gruppen der Tuareg.

Der MNLA geht es um politische Ziele. Sie wollen Selbstbestimmung für ihre Region Azawad, die von 1963 bis 1986 ein militärisches Sperrgebiet von Mali war. Aufgrund ihrer jahrzehntelangen Integration in die libysche Armee verfügen sie über gutes militärisches Knowhow und infolge des Libyen-Krieges und der porösen und durchlässigen Grenzen über ein großes Kontingent an Waffen. Und hier rächt sich der (vor allem von Frankreich) vorangetriebene Krieg gegen Libyen mit dem Ziel, Mu´ammar al-Qaddafi zu stürzen. Zum einen war al-Qaddafi ein Stabilisator der Region, auch wenn er mit meist dubiosen Methoden und finanziellen Lockmitteln nur seine eigenen Interessen vertrat. Er war der Mediator und Vermittler der Tuareg2. Zum anderen sind die Sahara und der Sahel nun mit hochmodernen Waffen überschwemmt, die nicht nur den Tuareg dienen, sondern auch in die Hände von Banditen und terroristischen Islamisten gerieten, was eine völlig neue Qualität der Kriminalität in der Sahara und im Sahel hervorbrachte.

Wesentlich ist, dass die Tuareg der MNLA zum ersten Mal in der Geschichte ihrer Rebellionen eine reelle Chance auf militärischer Ebene hatten. Doch die Deklaration von Azawads Unabhängigkeit fand weder nationales noch internationales Gehör. Es mag daran liegen, dass sich die MNLA daraufhin mit der neu entstandenen radikalen Tuareg-Gruppe Ansar ad-Din vereinte, um militärisch und politisch stärker zu werden. Ansar ad-Din jedoch torpedierte die rein nationalistischen Forderungen der MNLA, proklamierte Shariatsgesetz für den gesamten Norden, und brachte die Tuareg in Verbindung mit extremistischen Islamisten.

Obwohl die Tuareg von malischen Autoritäten und lokalen Medien noch immer mit islamistischen Djihadisten und Terroristen zu einem undurchschaubaren Amalgam verbunden werden, haben sie es dennoch geschafft, von Mali als legitime Verhandlungspartner angenommen zu werden. Am 18. Juni unterzeichneten Repräsentanten der als säkular bezeichneten Tuareg-Rebellen der MNLA einen vorläufigen Waffenstillstand, um die Wahlen durchführen zu können. Das mag nicht ganz freiwillig von statten gegangen sein, aber das Interesse, Wahlen in dermaßen kurzer Zeit durchzuführen, war vor allem in Frankreich groß.

 

Ansar ad-Din und die Separation von MIA

 

Der Führer von Ansar ad-Din (Unterstützer des Glaubens), Iyad ag Aghali, ist eine undurchsichtige Person. Er war einer der großen Führer der Tuareg-Rebellion in den 1990ern, lokaler Vermittler in zahlreichen Entführungsfällen (u. a. 2003, als 32 europäische TouristInnen in Algerien entführt wurden), Diplomat im malischen Konsulat in Saudi-Arabien, und ist schließlich militanter Islamist mit engsten Verbindungen zu islamistischen Terroristen geworden. Dazu soll er, wie alle Anführer der islamistischen Extremisten, enge Verbindungen zum algerischen Geheimdienst, dem DRS (Département Renseignement et Sécurité), pflegen. Kritische Stimmen sehen in Iyad ag Aghali sogar eine Marionette des Geheimdienstes, die darauf abzielte, die MNLA nachhaltig zu schwächen. Algerien hätte kein Interesse an einer starken Tuareg-Opposition - ganz im Gegenteil -, denn es befürchtet ein Erstarken seiner eigenen Tuareg im Süden und vor allem der Kabylei-Berber, die sich sehr für die Forderungen der MNLA begeistern.

Im Januar 2012 spaltete sich MIA (Mouvement Islamique Azawad) aufgrund des unterschiedlichen religiösen Diskurses von Ansar ad-Din ab. Während Ansar ad-Din die radikale Ansicht vertritt, dass für den Djihad, den heiligen Krieg, jedes Mittel recht sei (auch Köpfe abhacken), vertritt MIA eine moderate gemäßigte Linie, legitimiert nicht alles uneingeschränkt, um den Djihad zu verfolgen, und sieht sich traditionellen Normen und Werten verpflichtet.

Diese Spaltung ist insofern interessant und wichtig, da ihr Anführer Alghabass ag Intalla als einer der Unterzeichner des Waffenstillstandes zwischen MNLA und dem malischen Staat vom 18. Juni 2013 auftritt. Das bedeutet, dass es eine Übereinkunft zwischen MNLA und MIA gibt, und sich beide zusammen um Azawad bemühen. Das mag ein kluger taktischer Zug sein, denn für viele Azawad-BewohnerInnen spielt die religiöse Komponente eine wichtige Rolle. Die rund um Kidal ansässigen Ifoghas-Tuareg definieren sich als Nachfolger des Propheten Muhammad und sehen sich in religiösen Formierungen besser vertreten als in laizistischen.

 

AQMI und MUJAO: Die Legitimation des "Kampfes gegen den Terror"

 

Kommen wir zu den Big Playern in diesem Spiel: AQMI (al-Qaeda du Maghreb Islamique), deren Splittergruppe MUJAO (Mouvement pour l´unicité et le Jihad en Afrique de l´Ouest) und ihrer Verwobenheit mit algerischen und US-amerikanischen Geheimdiensten.

AQMI stammt ursprünglich von bewaffneten islamistischen Gruppen ab, die als GIA (Groupe Islamique Armée) bezeichnet wurden und im algerischen Bürgerkrieg in den 1990ern gegen die Zivilbevölkerung wüteten. Ein Teil von ihnen formierte sich anschließend in der GSPC (Groupe Salafiste pour la Prédication et le Combat), die sich für die ersten Entführungen in der algerischen Sahara 2003 verantwortlich zeigte und damit den Beginn des Krieges gegen den Terror einleitete.

Diese Entführungen waren vom algerischen Geheimdienst inszeniert, um die Region als eine potentielle Zone des Terrorismus zu brandmarken und den USA einen Grund für ihre geplante Militarisierung der Region zu geben3 (siehe dazu die Artikel von Andy Morgan und Jeremy Keenan in dieser Ausgabe). Dabei ließen sich US-amerikanische und algerische Interessen gut vereinen. Die USA benötigten eine ideologische Basis für die Militarisierung Afrikas, um sich die Kontrolle der Ressourcen zu sichern, um im Wettlauf gegen europäische und vor allem chinesische Konkurrenten gewinnen zu können.

Algeriens Motivation am inszenierten Kampf gegen den Terror mitzuwirken lag in seinem Wunsch der internationalen politischen Re-Etablierung nach dem Bürgerkrieg. Es verfolgte seit den 1980ern einen proamerikanischen Kurs, da es sich davon eine verlässlichere Rückendeckung als von den mit Ambivalenzen behafteten Beziehungen zu Frankreich und Europa versprach. Zudem benötigte Algerien militärische Unterstützung, um seine politischen hegemonialen Ziele in Westafrika zu erreichen und sich gegen al-Qaddafi behaupten zu können. Die USA wiederum brauchten einen Verbündeten in Afrika und fanden in Algerien einen geostrategisch prädestinierten Partner.

Die USA haben seitdem eine Reihe von Operationen zur Bekämpfung des Terrorismus in Westafrika initiiert (PSI, TSCTI, ATA, TIP, IMET, GPOI), die 2007 schließlich in die Gründung von AFRICOM mündeten. Im gleichen Jahr benannte sich die GSPC in AQMI um, und bekam dadurch eine international furchteinflößende Komponente. Auch wenn die Verbindungen zum damaligen Osama bin Laden nur ideologischer Art waren und sie stets eigenständig operierten, so reichte es aus, AQMI als eine internationale Bedrohung wahrzunehmen.

 

Die "politische Ökonomie des Terrorismus"4

 

AQMI verbindet "taktischen Opportunismus und operative Vielschichtigkeit"5 und agiert als ein transnationales kriminelles terroristisches Netzwerk. AQMI geht es vordergründig und medienwirksam um Djihad und die Einführung des Shariatsrechts. Ihr Mix aus rhetorischem salafistischen Radikalismus mit der Zerstörung lokaler Heiligtümer und Bibliotheken, der Durchführung von Straf-Amputationen, verpflichtender Verschleierung der Frauen, Verbot von Musik, etc. ergab eine explosive Mischung, die eine militärische Intervention in der Öffentlichkeit legitimierte. Im Hintergrund operiert AQMI als ein ökonomisches terroristisches Netzwerk, dass seine finanzielle Stärke aus mehreren Quellen bezieht: Kokainschmuggel bzw. informelle Taxen auf diesen, Entführungen von EuropäerInnen, Waffenhandel und finanziellen Zuwendungen von Saudi Arabien und Katar. Und auch die USA scheinen in diesem Zusammenhang auf. Das amerikanische Finanzministerium gab am 15. Februar 2013 bekannt, dass es die Konten von Yahya Abou al-Hammam, einem der großen Emire und Anführer einer Elitegruppe von AQMI, in den USA einfrieren werde und es den Amerikanern verbiete, mit ihm Geschäfte zu machen. Dies berichtete der Indian Express6 und zitiert das US-Ministerium: "weil wir Zeugen sind, wie AQMI die unschuldige Bevölkerung und Entführte unter ihre Kontrolle bringt".

AQMI und MUJAO bekamen regen Zulauf aus der Lokalbevölkerung, weniger aus ideologischer Überzeugung als vielmehr aus finanziellen Gründen. Für viele an der Armutsgrenze dahinvegetierende perspektivlose Jugendliche sind ein paar Hundert Euro im Monat ein großer Anreiz. Seit 2003 konnte AQMI kontinuierlich an Einfluss gewinnen, ohne dass sich Mali oder die Nachbarstaaten jemals ernsthaft gegen sie gestellt hätten. Von Anfang an wurden sie an der Leine des algerischen Geheimdienstes geführt, und das dürfte bis heute gelten, sind sich KennerInnen der Region einig.

 

Kokain, das weiße Gold der Sahara

 

AQMI und MUJAO sind kriminelle Organisationen, die mit Aktivitäten rund um den Kokainschmuggel ein Standbein ihres organisierten Terrorismus abdecken. Der Kokainschmuggel von Südamerika über die Küste Westafrikas, den Norden Malis und weiter über Mauretanien, Marokko oder über Niger, Algerien, Libyen, Ägypten nach Europa nahm von 3 Tonnen im Jahr 2004 auf 47 Tonnen im Jahr 2007 zu, bis er 2008 auf 21 Tonnen sank. Das sind aber immerhin noch 14% des insgesamt nach Europa importierten Kokains. Die Preise sprechen für sich: In Guinea Bisau zum Beispiel kostete im Juni 2010 ein Kilogramm Kokain 7.000 Euro, in Mali bereits 15.000 und 27.000 in Marokko. In Europa wird ein Kilogramm im Großhandel mit bis zu 78.000 Euro gehandelt7.

Nicht nur AQMI und MUJAO sind in den Schmuggel involviert, viele Araber und Tuareg arbeiten als Kuriere oder aber beliefern die Schmuggler mit Treibstoff. Das Business ist gefährlich, aber der Verdienst immens hoch.

Diverse Studien konzentrieren sich auf immer wieder die Verwicklung der Djihadisten in den Drogenschmuggel, vernachlässigen dabei aber die Verbindungen zu staatlichen Offiziellen und politischen Autoritäten, kritisiert die Wochenzeitung Jeune Afrique. Spätestens seit im November 2009 eine Boeing 727 aus Venezuela in der Region von Gao in Mali abstürzte, die zwischen 7 und 11 Tonnen Kokain geladen hatte, wurde klar, dass malische Offizielle tief in den Schmuggel involviert sind. Anstelle jedoch die Vorkommnisse zu untersuchen, versuchte der Ex-Präsident ATT, den Skandal zu unterdrücken. Jeune Afrique8 berichtete von einer aktiven Komplizenschaft zwischen malischen Autoritäten und AQMI, einem Schutz, der den Drogenhändlern von hohen offiziellen Stellen zugestanden wird, und einer malischen Armee, die zwar nicht ideell, aber finanziell von AQMI infiltriert ist.

Gleichzeitig lässt Mali zu, dass ein Amalgam zwischen den Terroristen (AQMI, MUJAO, Ansar ad-Din) und den Gesellschaften des Nordens (Tuareg, MNLA) gemacht wird, um ihre Forderungen zu diskreditieren. Auch Algerien instrumentalisiert das Problem, aus Interesse an nationaler Stabilität und den Ressourcen und um ihre imperialen Bestrebungen in der Region voranzutreiben.

 

Lukrative Entführungen

 

Seit 2003 wurden in der Sahara und im Sahel insgesamt 54 EuropäerInnen entführt. Die Entführungen sind ein taktischer Zug, um Geld und Forderungen zu erpressen, und sind ein Charakteristikum von AQMI. Damit unterscheiden sie sich maßgeblich von al-Qaeda in Afghanistan und Pakistan.

Für alle bislang Freigelassenen wurden pro Person zwischen 1,5 und 3 Millionen Euro bezahlt, auch wenn dies von einzelnen EU-Staaten stets bestritten wurde. Seit bekannt ist, dass weißes Skalp gewinnbringend ist, gibt es lokale Akteure, die EuropäerInnen entführen und lukrativ an AQMI oder MUJAO weiterverkaufen. Die rund ein Dutzend noch entführten Personen (darunter vier seit September 2010 entführte Franzosen aus der französischen Uran-Mine AREVA in Nordniger, für die 100 Millionen Euro gefordert werden) konnten auch durch die französische Intervention nicht frei gebracht werden. Im Gegenteil: die potentielle Entführungsgefahr ist in der Region gestiegen, als Vergeltung gegen die französische Einmischung.

 

Uran, Öl und Gas

 

Wieder und wieder wurde uns von französischer Seite vorgekaut, dass die Intervention in Mali nur zum Ziel hatte, den internationalen Terrorismus zu bekämpfen, die territoriale Integrität Malis zu wahren und das Leben der Zivilbevölkerung zu schützen. Doch hier geht es um ganz anderes: Der Zugang zu Ressourcen, neo-imperiale Interessen und die Wahrung der "kolonial etablierten Ordnung"9 Frankreichs stehen auf dem Spiel.

Öl, Gas, Uran und Phosphate lagern dort, wo die islamistischen Extremisten ihre Basen errichtet hatten. Und es geht nicht nur um die Bodenschätze auf malischem Territorium, sondern auch um die Sicherung jener im benachbarten Niger. Hier exploriert der französische Energiekonzern AREVA seit 40 Jahren Uran und liefert damit (je nach Quelle) zwischen 40% und 70% des französischen Energiebedarfs. Dass der Lokalbevölkerung, primär Tuareg, außer verstrahltem Boden, radioaktivem Staub und kontaminiertem Wasser10 nichts bleibt und jegliche soziale Forderungen sowohl von AREVA als auch vom nigrischen Staat ignoriert werden, braucht an dieser Stelle nicht erwähnt zu werden: Drei erfolglose Tuareg-Rebellionen im Niger zeugen von der Ausbeutung multinationaler Konzerne.

Der Nordwesten Nigers, ebenfalls zur Azawad-Region gehörend, birgt weitere Uranvorkommen. Pachtverträge wurden bereits vom vorigen Präsidenten abgeschlossen. Die größten Parzellen gingen an Kanada, Australien, Frankreich und Südafrika, weitere Parzellen an China, Russland, Indien, Saudi-Arabien, USA und Großbritannien. Noch vor wenigen Jahren hätte sich der Abbau nicht gelohnt. Durch den steigenden Uranpreis jedoch werden auch vormals nicht lukrative Vorkommen interessant. Im Niger haben AREVA und der chinesische Konzern CGNPC (China Guandong Nuclear Power Holding Co Ltd) mit dem Aufbau der neuen Uranminen in Imouraren bereits begonnen.

Ähnlich verhält es sich mit Erdöl und Erdgas in Mali. In der Region von Taoudenni, nördlich von Timbuktu, lagern riesige Öl- und Gasvorkommen. Diese wurden auch schon in den 1960ern entdeckt, aber ähnlich wie beim Uran in der Region von Kidal, rentierte sich die aufwendige Exploration beim damaligen Ölpreis nicht. Seit 2004 jedoch nimmt das strategische Interesse an Westafrika permanent zu, und Mali gab 65 Prozent seines Territoriums für Prospektionen frei. Vor allem das algerische Konsortium SIPEX, das zur algerischen Firma SONATRACH gehört, verspricht hohe Investitionen. Noch wurde nicht exploriert, und Kritiker beschuldigen Firmen, ihre privilegierte Position auszunutzen, um mit Bestechungsgeldern Rebellionen anzufachen, um damit Destabilisierung hervorzurufen, wie sie es schon im Niger gemacht hätten11.

 

Die Geister, die man rief …

 

Den islamistischen Terrorismus, den Algerien und die USA 2003 in der Sahara und im Sahel inszenierten, um einen "Krieg gegen den Terror" und die Militarisierung der Region zu legitimieren, hat sich zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung gewandelt. Die gezielte Unterstützung von Terroristen ist ein geostrategisches Planspiel, ebenso wie deren mit medialem Spektakel betriebene Bekämpfung12. Im Interessensgefecht um Ressourcenkontrolle treten neben Frankreich, den USA und dem konkurrierenden China auch Saudi-Arabien und Katar auf die malische Bühne. Beide Staaten sind Verbündete der USA, und beide finanzieren islamistische Terroristen (Katar finanziert MUJAO und Ansar ad-Din). Die Europäische Union ihrerseits unterstützt die neokolonialen Interessen, sei es in Libyen, sei es in Mali. Die USA halten sich offiziell zwar dezent zurück, errichten aber im Nord-Niger eine Drohnenbasis und bilden westafrikanische Militärs aus. Ziel ist es, die Region in Zukunft kontrollieren und überwachen zu können - die logische Fortsetzung von AFRICOM, um "die nationalen Sicherheitsinteressen der USA zu sichern und zu verteidigen", wie im ersten Satz der offiziellen Homepage13 geschrieben steht.

Der Kampf gegen den Terror ist ein rhetorisches Argument, um Mali zu entmündigen, den Anspruch auf Ressourcen geltend zu machen und einigen multinationalen Konzernen das Monopol zuzusprechen14. Dazu musste nur noch eine öffentliche Meinung geschaffen werden, die eine Intervention in Mali legitimierte, im Namen von Demokratie, der konstitutionellen Ordnung, des Schutzes des Kulturerbes und der Bevölkerung.

 

 

"The dying Sahara"15 oder die islamistische Vernetzung

 

Der Krieg gegen den Terror wird militärisch nicht zu gewinnen sein. Zum einen, wie es Assan Ag Midal, ein nigrischer Targi (Sgl. mask. für Tuareg) ausdrückt: « Vous ne pourrez jamais chasser les terroristes sans faire plus des victimes dans les populations et cela risque de donner plus raisons aux terroristes. » - "Man kann niemals Terroristen bekämpfen, ohne Opfer in der Zivilbevölkerung zu riskieren, und damit gewinnen die Terroristen wiederum an Boden". Zum anderen bringt es wenig bis gar nichts, das kämpfende Fußvolk der Islamisten zu vertreiben bzw. zu vernichten, wenn die führenden Köpfe in den Nachbarstaaten Zuflucht finden und von dort aus gezielte Aktionen starten können.

Nachdem die saharisch-sahelischen Grenzen kaum kontrollierbar und daher durchlässig sind, können sich die verbleibenden katibas in alle Richtungen ausdehnen. Jetzt droht eine Vernetzung aller islamistischen Kleingruppen vom Senegal, über Nigeria und den Tschad bis nach Somalia. Das Hauptargument der Rechtfertigung des Krieges in Mali war die potentielle Bedrohung für Europa, um ein Ausbreiten der Terrorismus zu verhindern. Nun breitet er sich erst recht aus. Vor der französischen Intervention war es ein lokales Problem, jetzt aber ist es zu einem transnationalen geworden, das auch Europa betreffen wird.

 

Situation in Niger und Libyen

 

Im Niger wurden im Frühsommer dieses Jahres zwei Suizid-Attacken von MUJAO oder AQMI (die Meldungen diesbezüglich waren sehr uneins) in Arlit und Agadez durchgeführt. In Arlit wurde die Uran-Mine AREVA attackiert, in Agadez wurde ein Militärstützpunkt angegriffen. Die Attacken haben die BewohnerInnen Nordnigers stark verunsichert, da sie die Omnipräsenz der Djihadisten, ihre Unberechenbarkeit und die staatliche Unfähigkeit, sich dagegen zu wehren, verdeutlichen.

In Arlit, dem nigrischen Umschlagplatz für MigrantInnen und Schmuggelwaren aller Art, tummeln sich seit wenigen Monaten die Fahrzeuge jener Kokain-Kuriere, die aus Mali vertrieben wurden, und im malischen Pendant Al-Khalil nicht mehr agieren können. Mehr und mehr "Kel Tjimgharen" - "Leute mit den Bärten", wie die Djihadisten auf Tamasheq genannt werden, haben sich in Arlit angesiedelt. Hier und da hört man im Verborgenen Gelächter über ihre Aufforderungen, dass Männer ihre Hosen nur bis zu den Knöcheln tragen sollen, dass es haram, also verboten sei, die Gräber der Ahnen zu besuchen, dass Frauen dies und jenes nicht tun sollten. Die Bevölkerung ist sich der drohenden Gefahr bewusst und blockt sie (noch) ab. Wogegen man sich nicht abblocken kann, sind die lukrativen Einnahmen aus dem Drogengeschäft. Mehr und mehr junge Tuareg versuchen sich als Kuriere und Lieferanten für Treibstoff. Sie sind meist nur kleine Handlanger und deponieren den aus Algerien billig geschmuggelten Treibstoff an vereinbarten Plätzen, ohne die Auftraggeber jemals zu Gewicht zu bekommen.

Abgesehen vom florierenden Kokainschmuggel ist der transnationale Verkehr zwischen Libyen, Algerien, Niger und Mali jedoch zusammengebrochen. Er lieferte nicht nur der Lokalbevölkerung eine Versorgung mit Grundnahrungsmitteln und Waren, die die Staaten nicht beschaffen können, sondern hielt Familien zusammen, die über die Grenzen hinweg zerstreut leben. Niemand traut sich mehr auf einem Toyota pickup durch die Sahara zu fahren aus Angst fälschlich als Islamisten interpretiert und von Militärs attackiert zu werden.

In Südlibyen, in der Region von Ubari und Murzuq, haben sich Djihadisten aus Mali zurückgezogen. Dort können sich die Gruppen um Mokhtar Ben Mokhtar (AQMI und MUJAO, ihre Grenzen sind fließend) und Iyad ag Aghali (Ansar ad-Din) in aller Ruhe auf ihre weitere Vorgehensweise vorbereiten16. In Libyen herrscht seit dem inszenierten Krieg17 ein Machtvakuum, das es terroristischen Gruppen besonders leicht macht.

Und laut der Opposition im Sudan sind aus Mali vertriebene islamistische Kämpfer auch in Darfur eingedrungen und unterstützen regierungstreue Milizen im Kampf um Rohstoffe18.

 

Traurige Aussichten

 

Dank der französischen Militärintervention, die von der EU und den USA unterstützt wurde, hat sich die gesamte Sahara-Sahel-Region in ein unkontrollierbares Pulverfass gewandelt. Dass es um Re-Kolonialisierung, Imperialismus und den Zugang zu Ressourcen und die Sicherung ihrer Transportwege geht, wollen uns die Politik und ihre treuen mainstream-Medien verheimlichen. Um an Öl, Gas und Uran zu kommen, werden Kriege inszeniert und Terroristen aufgebaut um sie dann mit großem medialen Spektakel bekämpfen zu können. Und uns werden humane, soziale und dem Frieden dienende Gründe zum Kriegführen verkauft!

Malische Tuareg-Flüchtlingsfrauen in einem Camp in Burkina Faso. Sie haben ihr Hab und Gut verloren und besitzen keine Ziegen mehr. Selbst wenn sie nach Mali zurückkehren können, so haben sie keine Lebensgrundlage mehr. (Foto: Karin Czermak, Hope 87)

 

1 Der Name Tuareg (Sgl. fem.: Targia, Sgl. mask.: Targi) ist eine Fremdbezeichnung, die von der Bevölkerung nur in bestimmten Kontexten (wie zum Beispiel im Tourismus) verwendet wird, die jedoch Eingang in den europäischen Sprachgebrauch gefunden hat. Die emischen Termini variieren je nach Region und Dialekt: Imuhagh in Algerien und Libyen, Imushagh in Mali und Imajeghen in Niger. Aufgrund der besseren Verständlichkeit verwende ich hier den Begriff Tuareg. Wichtig ist mir jedoch anzumerken, dass Tuareg schon der Plural ist. Es gibt keine Tuaregs!

2 Kohl, Ines 2011: Gaddafis Instrumentalisierung der Tuareg, in: Fritz Edlinger (Hg.) Libyen. Hintergründe, Analysen, Berichte, Promedia: Wien, 71-86

3 Keenan, Jeremy 2009: The Dark Sahara: America´s War on Terror in Africa, Pluto Press: New York

4 Mohamedou Ould, Mohamed-Mahmoud 2011: Die vielen Gesichter der al-Qaida im islamischen Maghreb, GSPC Policy Paper Nr. 15, http://www.gcsp.ch/Regional-Capacity-Development/Middle-East-North-Africa/Publications/GCSP-Publications/Policy-Papers/The-Many-Faces-of-Al-Qaeda-in-the-Islamic-Maghreb

5 Ibid.

6 http://www.indianexpress.com/news/us-govt-targets-finances-of-yahya-abu-alhamman-leader-of-al-qaeda-in-mali/1074741

7 UNDOC (United nations Office on Drug and Crime), The Transatlantic Cocaine Market, Research Paper, April 2011

8 10.8.2011, http://www.jeuneafrique.com/Article/ARTJAWEB20110810085636/algerie-france-canada-developpementmali-att-lance-sa-strategie-anti-aqmi-de-developpement-du-nord.html

9 Ruf, Werner 2013: Mali im Fadenkreuz der Geopolitik, AG Friedensforschung, 16. Februar, http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Mali/ruf.html

10 Siehe Greenpeace Report 2010, Left in the dusk, http://www.greenpeace.org/international/en/publications/reports/Left-in-the-dust/

11 James, Jean-Pierre 2010: Pétrol au Mali: Du rêve au cauchemar, Le Quotidien de Bamako, 31. März,

http://www.bamanet.net/index.php/actualite/autres-presses/8187-petrole-au-mali--du-reve-au-cauchemar-.html

12 Werner Ruf 2013.

13 http://www.africom.mil/what-we-do

14 Fanon-Mendes France, Mireille 2012: Mali: Les dessous impérialistes d´un intervention france-américaine, 7. November, http://blogs.mediapart.fr/edition/les-invites-de-mediapart/article/071112/mali-les-dessous-imperialistes-dune-interventio

15 Nach dem gleichnamigen erscheinenden Buch von Jeremy Keenan, 2013.

16 http://www.schattenblick.de/infopool/politik/ausland/panah988.html

17 Siehe dazu Joachim Guillard, Der Krieg gegen Libyen und die Rekolonialisierung Afrikas, Mai 2011, http://www.hintergrund.de/201105021526/politik/welt/der-krieg-gegen-libyen-und-die-rekolonialisierung-afrikas.html 

18 http://www.nzz.ch/aktuell/international/uebersicht/die-verschlungenen-wege-der-islamisten-1.18029346