Machtkämpfe

Eine antimilitaristische Sicht auf den Krieg in der Ukraine (Teil 2)

Im Januar 2015 flammten die blutigen Kämpfe zwischen ukrainischen Truppen und russlandnahen Separatisten in der Ostukraine wieder verstärkt auf. Mehr als 4000 Menschen wurden in diesem Krieg bisher getötet, Hunderttausende sind auf der Flucht. Dem Protest vieler Angehöriger zum Trotz verkündete die ukrainische Regierung eine Verstärkung ihrer Truppen und eine Teilmobilmachung. Eine Einstellung aller Kampfhandlungen ist nicht in Sicht. Im November 2014 hat der Moskauer Sozialwissenschaftler und Anarchosyndikalist Dr. Vadim Damier in Veranstaltungen in acht deutschen Städten seine alternative Sicht auf den Krieg in der Ukraine dargelegt. Träger der Veranstaltungsreihe waren Connection e.V. und das Bildungswerk der DFG-VK Hessen. Mitveranstalter in Münster war u.a. die Monatszeitung Graswurzelrevolution (1). Wir dokumentieren Vadim Damiers Redemanuskript – redaktionell überarbeitet – in zwei Teilen (2). Teil 1 erschien im Januar 2015 in der Graswurzelrevolution Nr. 395. (GWR-Red.)

 

Fortsetzung aus GWR 395

 

Die hegemonialen Bestrebungen des russischen Staates und Kapitals in der Ukraine waren auch wirtschaftlich motiviert.

Russland war der wichtigste Handelspartner der Ukraine: 2012 betrug der russische Anteil am Export 27% und am Import 32%. Die russischen Direktinvestitionen in der Ukraine betrugen 2013 offiziell knapp 4 Milliarden Dollar (http://voprosik.net/inostrannye-investicii-na-ukrainu/), in Wirklichkeit waren es sogar über 18 Milliarden. Besonders attraktiv waren für die russischen Konzerne die Bereiche Telekommunikation, Banken, Energiewirtschaft und die Schwermetallindustrie (www.intertrends.ru/twenty-ninth/02.htm).

Durch das Territorium der Ukraine führen die Gas-Pipelines von Russland nach Europa.

Die Krim ist für die wirtschaftlichen Interessen Russlands von besonderer Bedeutung. Russische KapitalistInnen machen auf der Krim ihre Geschäfte und haben dort Immobilien. Nach der Eingliederung der Krim in Russland wurden neue lukrative Projekte geplant. So forderte das russische Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung russische Unternehmer Ende Februar 2014 auf, 5 Milliarden US-Dollar in verschiedene Krim-Projekte zu investieren.

Diese befassen sich vor allem mit Infrastrukturentwicklung in den Häfen sowie mit der Erneuerung einer wichtigen Autobahn. Zusätzliche Aufregung brachte die Meldung über angebliche reiche Gas- und Erdölvorkommen im Meer unweit der Krim.

Sowohl Gazprom als auch westliche Firmen wie Exxon, Shell und ENI bekundeten daran Interesse.

Diese Lage macht die Ukraine zu einer Konfliktzone der imperialistischen Widersprüche zwischen Russland und der EU. Im scharfen Gegensatz zu den EU-Assoziationsplänen wollte Moskau den südlichen Nachbarn in ein Bündnis unter seiner Herrschaft einbinden: eine Zollunion. Naheliegenderweise möchte Russland keine antirussische Regierung in Kiew dulden.

Schließlich spielten später, während der Krise um Krim und Ostukraine, auch innenpolitische Motive der Kreml-Administration eine Rolle. Die russische Regierung intensiviert ihre neoliberale Sparpolitik immer mehr, und dies vor dem Hintergrund eines bereits sehr niedrigen Lohnniveaus.

Viele AnalytikerInnen sagten voraus, dass sich die Wirtschaftskrise in Russland im Jahr 2014 verschärfen würde, besonders aufgrund der fallenden Erdölpreise. So war das Entfachen einer nationalistischen und kriegerischen Hysterie ein probates Mittel, den Unmut in der Bevölkerung umzulenken und sie zum patriotischen Schulterschluss mit der Regierung zu bringen. Die westlichen Sanktionen taten ein Übriges, um dieses Ziel zu erreichen. 

Kehren wir zu den Maidan-Ereignissen zurück. Wie lässt sich diese Bewegung charakterisieren?

 

Maidan: Keine soziale  Bewegung

 

Es waren rein politische und keine sozialen Proteste. Zuerst ging es um die EU-Assoziation und dann um den Rücktritt der Regierung und des Präsidenten Janukowitsch. Keine sozialen oder sozialwirtschaftlichen Forderungen wurden aufgestellt, und das trotz einer elenden sozialen Lage.

Man redete zwar über Korruption, die zu bekämpfen sei, oder protestierte gegen das repressive Vorgehen der Behörden gegenüber den DemonstrantInnen; das berührte aber nicht im geringsten die wirklichen sozialen Probleme der Mehrheit der Bevölkerung. Wie bereits oben ausgeführt, waren die westlichen Vorbedingungen für die Assoziation darauf ausgelegt, die soziale Lage der einfachen Leute weiter zu verschlechtern.

Das interessierte aber die jungen VertreterInnen der Mittelschichten, die im November 2013 mit dem Protestcamp an Maidanplatz in Kiew begannen, nicht.

Die Aktion bekam die Unterstützung dreier Oppositionsparteien, die ihre AnhängerInnen zur Teilnahme mobilisierten.

Das Protestlager wurde so organisiert, dass sich an seiner Spitze die Vertreter von „Batkiwschtschina“, „UDAR“ und „Swoboda“ („Freiheit“) als Lagerkommandanten abwechselten. Die Aktion war also hierarchisch strukturiert, und wenn später die Lage bisweilen der Kontrolle der oppositionellen ParteiführerInnen entglitt, dann geriet sie unter den Einfluss von Kräften, die noch reaktionärer waren.  

Der Kern der Maidan-TeilnehmerInnen bestand aus einigen tausend Menschen, wobei zu den periodisch organisierten Massenkundgebungen gelegentlich Hunderttausende kamen.

Was die KernteilnehmerInnen angeht, so war, nach den vorliegenden Umfragen und Forschungen, etwa die Hälfte von ihnen aus Kiew, die anderen waren in die Hauptstadt gekommen oder gebracht worden. Dies waren VertreterInnen verschiedener sozialer Schichten, bis hin zu Arbeitslosen aus dem Westen des Landes oder Dorfjugendlichen. IndustriearbeiterInnen gab es wenige. Den Ton gaben die Mittel- und KleineigentümerInnen an. Finanziert wurde das Lager durch die Oligarchen.

Ideologisch kam es zu einer Dominanz des militanten ukrainischen Nationalismus.

Sein Einfluss wuchs erstmals stark an, nachdem der russische Präsident angeboten hatte, der Ukraine milliardenschwere Finanzhilfen zu gewähren.

In Wirklichkeit kaufte er damit die Janukowitsch-Regierung, um sie dazu zu bewegen, die Assoziationsbedingungen der EU abzulehnen. Dies rief in der ukrainischen Opposition eine nationalistische Welle hervor: Sie verstand diesen Schritt als Ausdruck eines politischen Diktats durch Moskau und begann sich selbst als eine Bewegung für die Unabhängigkeit der Ukraine vom  jahrhundertealten imperialen Erzfeind Russland darzustellen. In diesem Kontext erschien die Putin-Regierung als Fortsetzung der Sowjetunion, und es begann ein regelrechter Krieg gegen alles, was man als sowjetisch, kommunistisch oder einfach links verstand.

Parallel dazu wurden im Maidan-Lager offiziell die ukrainischen Nationalisten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs heroisiert, obwohl diese seinerzeit mit den deutschen Nationalsozialisten zusammengearbeitet hatten. Die Porträts von Stepan Bandera, die alten Fahnen der ukrainischen Nationalisten, ihre Kampfrufe und Symbole wurden von der Opposition ganz offiziell übernommen. 

 

Faschistische Einflüsse

 

Dieser rechtsradikale Trend wurde in den nächsten Wochen durch den Verlauf der Ereignisse und der Konfrontation weiter gestärkt. Damit verbunden war eine Änderung der Protesttaktik. Zuerst bestand sie darin, dass die Protestierenden sich rund um die Uhr im Lager befanden und versuchten, den Zugang zu staatlichen Einrichtungen und manchmal auch den Verkehr zu blockieren.

Die Behörden reagierten darauf mit der Entsendung polizeilicher Spezialeinheiten, der „Berkut“, die ziemlich brutal gegen die DemonstrantInnen vorgingen.

Dies führte zu einer Eskalation der Konfrontation, da der Berkut-Einsatz nicht mächtig genug war, um die DemonstrantInnen völlig zu vertreiben (das wurde auch von den westlichen Staaten verhindert). Nun gingen die Oppositionellen zur Besetzung von Verwaltungsgebäuden über. Das führte zu  heftigen physischen Auseinandersetzungen mit den Polizeikräften, wobei auch Waffen eingesetzt wurden.

Das Protestlager begann sich zu militarisieren. Es wurden Kampfgruppen (so genannte Hundertschaften) organisiert, die den Namen „Selbstverteidigung des Maidan“ erhielten.

Dabei gewannen diejenigen Gruppen die Oberhand, die eine entsprechende Erfahrung oder Ausbildung hatten und diese nun weitergeben konnten.

Insbesondere waren dies Veteranen des sowjetischen Krieges in Afghanistan (diese hatten sich nach dem Zerfall der Sowjetunion teilweise in Mafiastrukturen eingegliedert) und junge Neonazis aus Gruppen, die schon seit den 90er-Jahre aktiv militärische Übungen betreiben. Diese rekrutierten im weiteren Verlauf eine beträchtliche Zahl von Fußballfans. Letztere hatten bereits viel Erfahrung mit Straßenkämpfen und Zusammenstößen. Unter den neofaschistischen Gruppen waren zwei Gruppierungen besonders auffallend und aktiv: der sogenannte „Rechte Sektor“ und die „Sozial-Nationale Versammlung“.

An dieser Stelle möchte ich betonen, dass entgegen allen Behauptungen der russischen Medien und der Anti-Maidan-AktivistInnen diese offenen Neofaschisten im Protestlager zahlenmäßig nie in der Mehrheit waren. Und der Maidan als solcher kann auch nicht als faschistisch bezeichnet werden.

Reaktionär gewiss, aber nicht faschistisch per se. Was aber stimmt: Die Neonazis gewannen eine enorme Stärke und Autorität als Kampftruppen im Straßenkampf mit der Polizei, weil sie darauf vorbereitet waren. Und ihre Hegemonie auf der Straße führte auch zu einer Hegemonie ihres Diskurses.

Zahlenmäßig mochten sie eine Minderheit sein, ihr Einfluss auf die Ereignisse aber war so bedeutend, dass viele ihrer Symbole und Parolen übernommen wurden. Nach dem Sieg auf dem Maidan wurden die Neonazis damit belohnt, dass sie in die Sicherheits- und Ordnungsstrukturen des neuen Regimes eingegliedert wurden.

Die wichtigsten Einheiten der neu gegründeten Nationalgarde, namentlich die Bataillone Asow und Ajdar, bestehen hauptsächlich aus neofaschistischen Freiwilligen, gebrauchen Nazi-Symbole (z.B. die Wolfsangel der ehemaligen SS-Division „Das Reich“) und reden von der Verteidigung der „weißen Arier-Rasse“ und der arischen Ukrainer gegen die russisch-mongolischen „Untermenschen“.

Sie spielten eine zentrale Rolle in den Kämpfen gegen die prorussischen Separatisten und begingen Gräueltaten und Kriegsverbrechen. Das neue Regime tolerierte diese Kräfte, da es, besonders am Anfang, stark von ihrer Unterstützung abhing. Das macht natürlich nicht die gesamte neue Maidan-Regierung faschistisch im eigentlichen Sinne, obwohl einige Vertreter  von Swoboda Ministerposten bekamen und führende Figuren dieser Partei auch weiter rassistische, kriegstreiberische und hasserfüllte Erklärungen abgeben, zu ethnischen Säuberungen aufrufen usw.

 

Zwischen Straßenkampf und außenpolitischen Machtspielen

 

Von diesem Zusammengehen mit den offenen Nazis ließen sich jedoch viele andere Maidan-TeilnehmerInnen sowie die westlichen Regierungen nicht anfechten.

Letztere spielten ihr eigenes politisches Spiel um die Kontrolle der Ukraine. Wie der Kreml übten auch sie starken Druck auf die ukrainische Regierung aus.

Obwohl sie in ihren eigenen Staaten soziale Proteste nicht selten brutal auseinandertreiben – sogar wenn diese viel friedlicher als der Maidan sind –, verboten sie der Janukowitsch-Regierung unter Androhung von Sanktionen härtere Maßnahmen gegen das Protestlager.

So wurde der Maidan-Platz weder eingekesselt noch geräumt, die Armee nicht eingesetzt, die von Oppositionellen besetzten Gebäude nicht gestürmt usw., obwohl jede westliche Regierung in einer solchen Situation zu derartigen Maßnahmen greifen würde. Die Konfrontation bekam einen dauerhaften und ortsfesten Charakter, was dem Lager die Zeit gab, eigene Kampfgruppen zu organisieren und zu trainieren.

In Kiew lief alles auf die lokale Konfrontation zwischen den Kampftrupps der „Selbstverteidigung des Maidan“ und der Neonazis einerseits und der „Berkut“-Polizei andererseits hinaus, während in den westlichen Gebieten des Landes AnhängerInnen der Oppositionsparteien Verwaltungsgebäude besetzten. Einige westliche PolitikerInnen mischten sich ganz offen in den politischen Konflikt in der Ukraine ein, wie z.B. Catherine Ashton, Carl Bildt, Guido Westerwelle, John McCain, Jaroslaw Kaczynski oder Jerzy Buzek, die auf dem Maidan-Platz vor den DemonstrantInnen ihre Unterstützungsreden hielten. Man stelle sich nur vor, welches Geschrei der Auftritt eines führenden ausländischen Politikers vor den Indignados an der Madrider Puerta del Sol oder auf einer Demonstration von „Occupy Wall Street“ hervorgerufen hätte! Unter diesem Druck erklärte sich Janukowitsch zu Verhandlungen mit der Opposition bereit, und Ende Februar 2014 wurde durch Vermittlung westlicher VertreterInnen ein Abkommen über Neuwahlen erreicht. Dieses wurde aber durch die Maidan-Kampftrupps gebrochen und am 22. Februar ein gewaltsamer Staatsstreich organisiert. Die Residenz des Präsidenten und das Parlament wurden erstürmt, die „Berkut“-Truppen kapitulierten und Janukowitsch floh. Das Parlament, an dessen Arbeit nunmehr nur noch etwa 330 der 450 Abgeordneten teilnahmen, ratifizierte den Machtwechsel.

Die neue, aus PolitikerInnen der Opposition bestehende Regierung wurde auch vom Maidan gebilligt. Zu ihren ersten Maßnahmen zählten die Beschlüsse, das unter Janukowitsch verabschiedete Gesetz über die Rechte der Minderheitensprachen außer Kraft zu setzen und eine Assoziation mit der EU zu akzeptieren.

 

Der Anti-Maidan

 

Nun begann der zweite Teil der ukrainischen Tragödie. Janukowitsch floh in die östlichen Gebiete des Landes, wo seine Partei politisch einflussreich war. Er konnte sich aber mit den politischen Bossen der Region nicht auf ein gemeinsames Vorgehen verständigen. Im weiteren Verlauf kapitulierten diese Bosse vor der neuen Maidan-Macht.

Trotzdem begann in verschieden Regionen im Süden und Osten der Ukraine eine so genannte Anti-Maidan-Bewegung.  

Diese Bewegung war ebenso heterogen wie der Maidan selbst. An ihr beteiligten sich VertreterInnen verschiedener sozialer Schichten, die Initiative und die Leitung lag aber bei Leuten aus der lokalen Mittel- und Kleinbourgeoisie, aus der lokalen Polizei und teilweise auch dem kriminellen Milieu sowie aus den lokalen russisch-nationalistischen Parteien.

Die führenden Personen auf der Krim waren z.B. die Unternehmer Aksjonow und Tschalyj, in Donezk waren es ein gewisser Gubarew, ehemaliges Mitglied der neofaschistischen Partei „Russische Nationale Einheit“, der Unternehmer Puschilin und der russische Nationalist Purgin, in Lugansk der Berufsmilitär Bolotow, der Unternehmer Nikitin sowie einer der Führer der Organisation der Polizei- und Armeeveteranen, Sachartschenko.

An den Demonstrationen gegen den Staatsstreich in Kiew nahmen auch AnhängerInnen neostalinistischer und leninistischer Parteien und Gruppen teil. Ideologisch gab man sich zunächst antifaschistisch, indem man den Coup in Kiew als eine faschistische Machtergreifung bezeichnete. Solche Argumente werden nach wie vor benutzt, die Oberhand gewann aber nach wenigen Tagen bis Wochen der russische Nationalismus, den man dem ukrainischen Nationalismus entgegensetzte. Er gab sich als Antwort auf eine jahrelange Kampagne der ukrainischen NationalistInnen aus, welche die BewohnerInnen der östlichen Regionen als irgendwie „nicht echte“ Ukrainer, als Ukrainer zweiter Klasse abqualifiziert habe. Am deutlichsten wurde dieser russische Nationalismus in der Maiverfassung der separatistischen Donezk-Republik formuliert. Die Region wurde dort als ein Teil der „russischen Welt“ im ethnischen Sinne des Wortes definiert; der neue Staat stütze sich auf die traditionellen Werte der „russischen Zivilisation“ und des Christentums der orthodoxen Kirche.

„Die Ukraine will uns töten, weil wir Russen und orthodoxe Christen sind“, erklärte Puschilin, einer der Separatistenführer. Der damalige Militärchef des Donezker Anti-Maidan, Strelkow, ist bekennender russischer Monarchist und  Bewunderer der Zarenarmee und der weißen Generäle des russischen Bürgerkriegs. Im weiteren Verlauf kamen auch NeofaschistInnen und RadikalnationalistInnen aus Russland, um sich der Anti-Maidan-Bewegung anzuschließen.

 

Maidan und Anti-Maidan: Gleichermaßen reaktionär

 

Das alles macht die Anti-Maidan-Bewegung nicht insgesamt faschistisch, wie es z.B. die liberale Opposition in Russland oft behauptet. Sie ist aber, ähnlich wie der Maidan selbst, eine Bewegung, in der Neofaschismus nicht nur toleriert wird, sondern eine wichtige Rolle spielt. Der überwiegend ukrainisch-nationalistische Maidan und der überwiegend russisch-nationalistische Anti-Maidan sind gleichermaßen reaktionär.

Die Aktionsmethoden des Anti-Maidan waren im Prinzip denen des Maidan ähnlich: zuerst Kundgebungen, Demonstrationen und Protestcamps, dann Blockaden und schließlich die Besetzung der Verwaltungsgebäude. Als die neue Macht sowie die Maidan-AnhängerInnen mit Repressionen, Verhaftungen und gewaltsamen Auflösungen reagierten, begannen sich die AktivistInnen zu militarisieren, und ihre Parolen radikalisierten sich: von Forderungen nach einer Föderalisierung der Ukraine, die von der Kiewer Regierung prompt und kategorisch abgelehnt wurden, hin zur separatistischen Lostrennung von der Ukraine und einer möglichen Vereinigung mit Russland.

 

Die Rolle Russlands

 

An diesem Punkt mischte sich der Kreml ein. Das Putin-Regime nutzte die chaotische Situation in der Ukraine, um seine eigenen hegemonialen Pläne zu verwirklichen. In Moskau wählte man nicht etwa die Option, eine mögliche gesamtukrainische Gegenregierung zu fördern, sondern die Annexion der Krim. Das hat Gründe. Das Putin-Regime riskiert lieber eine massive und dauerhafte Feindschaft mit Kiew und die permanente Auseinandersetzung mit künftigen revanchistischen Bestrebungen, als auf die Krim zu verzichten.

Die Angliederung der Krim gestaltet sich jedoch alles andere als einfach. Außenpolitisch führte sie zu enormen Komplikationen in den Beziehungen mit dem Westen, der einen solchen Schlag gegen seine Pläne nicht so leicht hinnehmen wollte und darauf mit verschiedenen Sanktionen reagierte. Auch innenpolitisch ist die Annexion der Krim problematisch, da sie viel Geld verschlingt – und das  vor dem Hintergrund einer beginnenden Wirtschaftskrise.

Somit ist klar, dass der Kreml an weiteren Annexionen, z.B. von Donezk und Lugansk, eigentlich kein Interesse haben kann: Für einen so kostspieligen Schritt fehlt einfach das Geld. Was die Moskauer Führung stattdessen versucht, ist, die im Mai proklamierten separatistischen Republiken in Donezk und Lugansk mit verschiedenen Mitteln zu unterstützen, um entweder die ukrainische Situation instabil zu halten und dadurch den NATO-Beitritt der Ukraine zu verhindern oder aber eine Friedensregelung durchzusetzen, die ihren Interessen in irgendeiner Form gerecht wird. Kurz: Man will den SeparatistInnen helfen, aber nicht zu sehr. Dabei versäumt man keine Chance, den Einfluss der russischen Konzerne in der Donbass-Region zu festigen.

So waren die beiden anfänglichen Ministerpräsidenten der separatistischen Republiken aus Moskau entsandte Technokraten mit besten Beziehungen zur russischen Wirtschaft: Der Donezker Borodaj ist eng mit dem Telekommunikationskonzern Telekom verbunden, der Lugansker Baschirow mit den Energiekonzernen.

Die Angliederung der Krim ermunterte die oppositionellen, pro-russischen und föderalistischen Kräfte in den östlichen und südlichen Regionen der Ukraine. Sie intensivierten ihre Aktivitäten. Die neuen Herrscher in Kiew hingegen dachten nicht daran, ihre Macht zu teilen. Folglich weigerten sie sich, einen Kompromiss mit der Opposition zu suchen und föderalistische Reformen durchzuführen. Mitte April erklärten sie den Beginn der so genannten „Antiterror-Operation“ im Osten und schickten militärische Straftruppen, um die Opposition gewaltsam zu unterdrücken, das heißt das zu tun, was Janukowitsch eben nicht riskiert hatte. In der Folge radikalisierten und militarisierten sich die Proteste, die separatistischen Parolen gewannen an Boden und die russischen Hilfeleistungen an die Separatisten nahmen zu.

Zwar lehnte die russische Regierung die Bitte der Separatisten, die östlichen Gebiete an Russland anzuschließen, ab; dennoch leistete sie vielfältige Unterstützung: von der Entsendung angeblicher und wirklicher Freiwilliger und Spezialisten bis hin zu mutmaßlichen Waffenlieferungen. Russland sah sich sogar dem Vorwurf ausgesetzt, reguläre Truppen in die Ukraine geschickt zu haben, was aber von der Moskauer Regierung wiederholt bestritten wurde.

Andererseits erklärte die neue ukrainische Regierung nunmehr offen, sie strebe ein Bündnis mit der NATO an. Sie bekommt vom Westen umfangreiche Finanzhilfen, Waffen und Beratung.

 

Stellvertreterkrieg der Großmächte

 

Eine Zeit lang gab es im Frühjahr die Befürchtung, der Konflikt könne sich ausweiten und zu einer offenen Konfrontation zwischen Russland und der NATO entwickeln. Bald stellte sich aber heraus, dass keine Seite zu einem solchen größeren Krieg bereit war. Was stattdessen geschah, erinnert stark an vergangene Zeiten der Blockkonfrontation. Russland und die NATO führten eine Art Stellvertreterkrieg mittels ihrer Satelliten – den Donezker und Lugansker Separatisten einerseits und der auf territoriale Einheit pochenden Kiewer Regierung andererseits.

Auf die Einzelheiten der Kampfhandlungen möchte ich an dieser Stelle nicht eingehen. Sie waren grausam – Wohnviertel wurden unter Artilleriebeschuss genommen, Kassettenbomben wurden eingesetzt, es gab 4000 Tote und fast eine Million Flüchtlinge und Vertriebene.

Es kam zu Hinrichtungen von ZivilistInnen und Gefangenen. Die Infrastruktur wurde mancherorts völlig zerstört.

Viele Menschen mussten monatelang ohne Löhne, Renten und manchmal auch ohne Lebensmittel auskommen. Der Machthunger beider Seiten machte einen Kompromiss unmöglich und besteht unvermindert fort.

Auch wenn die Kampfhandlungen zurzeit glücklicherweise eingestellt sind, weiß niemand, ob und wann sie wieder aufflammen werden. Beide Seiten drohen mit einer späteren Wiederaufnahme der Kampfhandlungen, beide Seiten bekommen weiterhin Waffenlieferungen und eine friedliche Lösung ist nach wie vor nicht in Sicht.

Die Zuspitzung der Rivalitäten zwischen den imperialistischen Mächten, die sich in der ukrainischen Krise widerspiegelt, lässt für die nahe Zukunft nichts Besseres erwarten. Unabhängig von ihrem unmittelbaren Ergebnis zeigt diese Krise, dass der Kampf um die Neuverteilung der Welt ununterbrochen weiterläuft. Die ukrainische Regierung hat den blockfreien Status des Landes gekündigt und strebt eine Mitgliedschaft in der NATO an. Und der Kreml antwortet auf die Verschlechterung der Beziehungen zum Westen mit dem Ausbau der vielfältigen Zusammenarbeit mit China, was auch zur Stärkung einer militärpolitischen Kooperation in Rahmen des Shanghai-Abkommens führen wird. Die Formierung neuer rivalisierender Militärblöcke schreitet voran.

 

Widerstand gegen den Krieg

 

Leider kann man nicht sagen, dass es in Russland oder der Ukraine heute eine echte, wirksame Antikriegsbewegung gäbe. In beiden Ländern stärkte der Konflikt vor allem nationalistische und patriotische Stimmungen. Was die Opposition angeht, so spiegelt ihre Position eher taktisch-opportunistische als prinzipielle Erwägungen wider.

So stehen z.B. diejenigen politischen Kräfte und AktivistInnen in Russland, die von Anfang an mit den Maidan-Protesten im Nachbarland sympathisierten, typischerweise auch weiter an der Seite der Kiewer Regierung. Putins Feinde sind für sie Verbündete, auch wenn sie nicht weniger reaktionär sind als Putin. Manche wollen im Maidan und in der Strafoperation im Osten der Ukraine eine nationale ukrainische Befreiungsbewegung gegen den russischen Imperialismus sehen.

So ist es nicht verwunderlich, dass die von den liberalen Oppositionsparteien organisierten Demonstrationen in Russland eher pro-ukrainisch als gegen den Krieg gerichtet oder antimilitaristisch waren. Andererseits sympathisieren viele Maidan-GegnerInnen mehr oder weniger mit den prorussischen SeparatistInnen im Osten.

Wirklich positive Elemente eines realen Protests gegen den Krieg in der Ukraine lassen sich jedoch an anderer Stelle beobachten: So gab es Desertionen sowie Kundgebungen, Demonstrationen und Protestlager gegen die Mobilisierung von Truppen, die dann ins Kampfgebiet geschickt wurden. Die ukrainische Regierung rief drei Mobilisierungswellen aus, und auch zum Bau von Befestigungen wurde die Bevölkerung einiger Regionen massenhaft herangezogen. Die realen Zahlen der Kriegsdienstverweigerung sind ziemlich hoch. So erklärten z.B. die Behörden im Gebiet Odessa, dass rund ein Drittel der Wehrpflichtigen die Einberufung verweigert habe und dass in den anderen Gebieten die Situation noch schlimmer sei (www.aitrus.info/node/3928).

In mehreren Städten und Dörfern der Ukraine rebelliert die lokale Bevölkerung gegen die Einberufung, da sie nicht will, dass ihre Kinder oder Nachbarn in den Krieg geschickt werden. Die Menschen belagerten Verwaltungsgebäude, blockierten den Verkehr, griffen manchmal die Behörden physisch an. Hier und da waren Parolen zu hören: „Sollen doch die Oligarchen in den Krieg ziehen“ und „Das ist nicht unser Krieg!“. Es gab Proteste von Angehörigen derjenigen Soldaten, deren Dienstzeit schon abgelaufen war, die aber trotzdem von den Behörden nicht demobilisiert wurden.

Oft mussten dann die lokalen Behörden nachgeben und entweder die Mobilisierung in der betreffenden Region stoppen oder den EinwohnerInnen zusichern, dass niemand ins Kriegsgebiet geschickt werde. Es kommt aber auch zu Repressionen. So hat die ukrainische Militärstaatsanwaltschaft offiziell Ermittlungsverfahren gegen mehr als 3000 Deserteure eingeleitet (http://zn.ua/UKRAINE/v-otnoshenii-bolee-3-tysyach-ukrainskih-voennyh-otkryty-dela-za-dezertirstvo-155312_.html).

Aus den separatistischen Gebieten gibt es leider keine Informationen über das Ausmaß der Verweigerung.

Es ist aber bekannt, dass die Bevölkerung auch dort zum Befestigungsbau und manchmal auch in die Milizen mobilisiert oder sogar entführt wurde und dass die Drohung ausgesprochen wurde, diejenigen, die sich widersetzen sollten, zu töten.

 

Gegen alle Nationalismen!

 

All dies zeigt deutlich, dass keine der Seiten in diesem Bürgerkrieg unsere Sympathie verdient. Die Politik und das Vorgehen beider Regierungen, der Kiewer und der separatistischen, sind abscheulich.

Beide Regime sind reaktionär und autoritär, trotz aller demokratischen und elektoralen Legitimationen. In der Ukraine, soweit sie sich unter der Kontrolle Kiews befindet, gehört die Macht weiterhin der Oligarchie.

Die Maidan-Regierung ernannte in den meisten Gebieten des Landes die reichsten Oligarchen und ihre Vertrauensmänner zu Gouverneuren, und der neue Präsident Poroschenko ist laut „Forbes“ mit einem Vermögen von etwa 1,3 Milliarden US-Dollar die Nummer 6 der ukrainischen Milliardäre.

Die Menschenrechte werden durch die so genannten Antiseparatisten-Gesetze eingeschränkt; VertreterInnen der politischen, gewerkschaftlichen und Medien-Opposition werden brutal terrorisiert – wenn nicht von der Nationalgarde oder Polizei, dann von den militarisierten Banden der Rechtsradikalen. Verhaftungen, Prügelattacken und Morde sind an der Tagesordnung; beim bislang schlimmsten Angriff auf Anti-Maidan-AktivistInnen starben im Mai 2014 in Odessa Dutzende von Menschen.

Die Regierung in Kiew betreibt eine grausame Sparpolitik und drastischen Sozialabbau. Die Wassertarife wurden um 90% erhöht, die Heizkosten um bis zu 98%, die Kosten für Gas um 73% und für Strom um 30%.

Die kommunalen Dienstleistungen für Haushalte wurden um durchschnittlich 40-48% teurer. Im öffentlichen Dienst werden Arbeitsplätze abgebaut. Die Lebensmittelpreise sind um durchschnittlich 20% gestiegen.

Wegen der Inflation verlieren die Löhne und Preise ihren realen Wert: Die Durchschnittsrente lag schon im Sommer bei umgerechnet knapp über 100 Dollar, LehrerInnen bekommen derzeit ein Gehalt von etwa 170 Dollar, ÄrztInnen 160 Dollar (www.aitrus.info/node/3995).

In Rahmen der Schocktherapie wurden bereits im März der Mindestlohn eingefroren und die Mindestrente gekürzt (www.aitrus.info/node/3672).

Aber auch die Politik der Separatisten ist nicht besser. Die wirkliche Macht liegt hier bei den Kriegsherren und ihren Verbündeten in der politischen Klasse. Politische Gegner werden nicht selten terrorisiert, verhaftet oder entführt. Die neuen Strafgesetze sehen die Todesstrafe vor. Die neuen Behörden versprechen, die Sozial- bzw. Eigentumsstruktur nicht zu ändern, das Eigentum der Oligarchie und der Konzerne nicht anzutasten sowie neue private Investitionen zu fördern.

Löhne und Renten werden monatelang nicht bezahlt, Demonstrationen für die Auszahlung der Löhne und Renten werden aufgelöst, wobei es Fälle gab, in denen die Miliz der Separatisten auf die Protestierenden schoss.

Sowohl das Regime in Kiew als auch die Behörden der losgetrennten Republiken sind militaristisch, betreiben heftige nationalistische Propaganda und dienen den Interessen der Herrschenden.

Dies begründet die Position unserer Gruppen: gegen alle Seiten in diesem Konflikt. In Kriegen zwischen Staaten oder Möchtegern-Staaten kann es keine gerechte Seite geben! 

 

Vadim Damier

 

Weitere Infos:  www.connection-ev.org

 

Eine russische Version dieses GWR-Artikels: www.aitrus.info/node/4092

 

Film: Die von der Graswurzelrevolution, der DFG-VK Münster, der FAU Münsterland und der VVN-BdA Münster organisierte Veranstaltung „Krieg in der Ukraine: Machtproben in einem zerrissenen Land. Eine alternative Sicht aus Russland“ mit Vadim Damier am 10.11.2014 in Münster wurde von Cord Steinbach (Filmwerkstatt Münster) gefilmt und online dokumentiert unter: www.youtube.com/watch?v=a1EtE2Z-AsQ&google_comment_id=z13mzzdweqigjtzge04cjpe44x3wyt1zbv40k&google_view_type#gpluscomments

 

Interviews: Krim-Krise und Kriegsgefahr. Zur Situation in der Ukraine und in Russland. Ein Interview von Bernd Drücke mit dem libertären Sozialwissenschaftler Vadim Damier, in: GWR 388, April 2014, www.graswurzel.net/388/krim.php ; „Der Eisberg heißt Nationalismus“. Ein Gespräch mit Vadim Damier, in: Bernd Drücke (Hg.): Anarchismus Hoch 2, Karin Kramer Verlag, Berlin 2014, S. 67 bis 80

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 396, Februar 2015, www.graswurzel.net