Wem gehört die Krim?

Der russisch-ukrainische Konflikt soll von den Brüchen zwischen Regierenden und Regierten ablenken

„Wieder mal beim Stehlen erwischt, setzt man auf den Patriotismus.“ Dieser Satz stammt angeblich von dem bekannten russischen Satiriker Michail Saltykow-Schtschedrin (1826-1889). Oder auch nicht: Manche sagen, das Zitat werde ihm fälschlicherweise zugeschrieben.

Wie dem auch sei – der Ausspruch ist heute in der kritischen Öffentlichkeit Russlands ziemlich populär. Und er beschreibt am treffendsten das, was eigentlich hinter dem Vorfall in der Meerenge von Kertsch steht.

Wem gehört die Krim? In wessen Gewässern ereignete sich der Konflikt zwischen den russischen und ukrainischen Kriegsschiffen? Gab es eine Vorwarnung oder gab es keine? Konnte man die Schiffe ohne Schießerei stoppen oder nicht? Das alles sind Fragen und Themen für Rechtsexperten, Militärtaktiker oder auch politische Spekulanten. Uns, die „einfachen Leute“, interessieren die Hintergründe und die Risiken des aktuellen Anstiegs des Militarismus in der Region.

Mehr denn je spiegelt die neueste Zuspitzung der russisch-ukrainischen Beziehungskrise die Zunahme der innenpolitischen Probleme der Regime in Kiew und Moskau. Die neoliberale und antisoziale Politik der herrschenden Eliten beider Länder stößt auf wachsende Ablehnung in der Bevölkerung. In der Ukraine hat die Regierung des Präsidenten Poroschenko vor kurzem die Gaspreise drastisch erhöht. Das war auch eine der Forderungen des Internationalen Währungsfonds (IWF).

Als in der Folge zahlreichen Haushalten die Heizung abgedreht wurde, brachen im November in einigen Städten heftige Straßenproteste aus. In der Stadt Kriwoj Rog stürmten die Menschen das Gebäude des Gaskonzerns und schalteten die Heizung selbst wieder ein. Andernorts gab es Straßenblockaden. Dabei ist der ukrainische Präsident Poroschenko heute bei der Bevölkerung total unbeliebt: In seiner Regierungszeit hat die Armut in der Ukraine dramatisch zugenommen. Und im nächsten Jahr stehen die Präsidentschaftswahlen an.

In Russland sieht die Situation nicht viel besser aus. Nach den Wahlen im Frühjahr 2018 intensivierte die Regierung von Präsident Putin die neoliberalen Angriffe gegen die Bevölkerung (vgl. GWR 434). Die Rentenreform ließ seine frühere Popularität und die seiner Regierungspartei in beispiellosem Maß schwinden. Die alten patriotischen Motive, z.B. die Krim-Euphorie oder das Gerede über „Russland, das sich von den Knien erhebt“, funktionieren immer schlechter.

 

Die Herrschenden brauchen dringend eine neue Ablenkung

 

In solchen Situationen riskierte man in der Geschichte nicht selten einen „kleinen siegreichen Krieg“, und auch in der Gegenwart wird gern über solche Spielchen nachgedacht. Im heutigen Europa sind sie aber zu gefährlich. Wenigstens die offene Kriegstreiberei hat ihre Grenzen. Eine militaristische Hysterie bleibt trotzdem eine erprobte und effektive politische Waffe. Die unbeliebten Politiker versuchen mit allen Mitteln, sich als starke Männer zu präsentieren, die ihren geopolitischen Gegnern keine Zugeständnisse machen. Und das Aufblasen einer Gefahr von außen soll immer auch die Mobilisierung der Bevölkerung für eine nationale Idee ermöglichen. Damit sollen die wachsenden Brüche zwischen der Regierung und den Regierten kaschiert werden.

Zwei Fragen bleiben dabei offen. Erstens: Wie lange noch werden die Menschen in Russland und in der Ukraine in solche Fallen tappen? Und zweitens: Wie hoch ist das Risiko eines unabsichtlichen Kontrollverlusts und einer Eskalation der militärischen Hysterie in einen richtigen Krieg?

Beide Fragen sind in der heutigen Welt des kapitalistischen Militarismus leider kaum zu beantworten.

 

Vadim Damier, Moskau

 

Dr. hist. habil. Vadim Damier arbeitet als Sozial- und Politikwissenschaftler in der Russländischen Akademie der Wissenschaften in Moskau und forscht zur Geschichte der sozialen Bewegungen. Er ist aktiv in der anarcho-syndikalistischen Föderation der Arbeitenden in Erziehung, Wissenschaft und Technik (KRAS) und hat in der GWR 434 vom November 2018 Putins neoliberale „Sparpolitik“ analysiert.


 

Kommentar aus: Graswurzelrevolution Nr. 435, Januar 2018, www.graswurzel.net