Biopolitik als schillernder Begriff
Wer bei Google „Biopolitik“ eingibt, findet über 170.000 Resultate, wobei sozialwissenschaftliche Einträge deutlich dominieren. Was aber soll das eigentlich sein – Biopolitik? Politik des Lebens – ist das nicht jede Politik? In der Tat, wortwörtlich ist mit Biopolitik schlicht die Tatsache benannt, dass gesellschaftliche Institutionen menschliches Leben formen, prägen und verändern. So allgemein sagt der Begriff allerdings nicht viel. Medial eingebürgert hat sich deshalb auch längst, Biopolitik als begriffliche Klammer für alles zu verwenden, was irgendwie mit Biowissenschaften, -technologien und -praktiken zu tun hat – samt der daraus zahlreich resultierenden politischen, rechtlichen und ethischen Probleme. Ob embryonale Stammzellenforschung, therapeutisches Klonen, Organtransplantationen oder Präimplantationsdiagnostik – immer geht es darum, ob, wie und von wem Leben in seiner elementarsten Form gestaltet, gefördert oder verhindert bzw. beendet werden soll. Biopolitik ist damit zwar sicherlich für feministische Wissenschaftskritik besonders interessant, keinesfalls aber ein ausschließliches „Frauenthema“. Und apropos Wissenschaftskritik: Kritisch ist die Rede von Biopolitik nicht per se. Sie kann es aber sein – sofern sie gesellschaftstheoretisch unterfüttert wird.
Biopolitik als Kategorie von Gesellschaftskritik wird nicht zufällig vor allem mit dem Namen Michel Foucault assoziiert. Auch wenn der französische Theoretiker den Begriff nicht erfunden hat – seine Geschichte reicht vielmehr zurück bis in die finsteren Anfänge von Rassen- und Erbhygiene am Anfang des 20. Jahrhunderts –, so hat doch vor allem er ihn für eine herrschaftskritische Verwendungsweise fruchtbar gemacht. Von Biopolitik im Sinne Foucaults zu sprechen impliziert somit eine bestimmte Denkperspektive. Eine Perspektive, in der gesellschaftliche Diskurse und politische Entscheidungen rund um die Definition, die Gefährdung oder auch den „Wert“ des Lebens auf in der westlichen Moderne grundlegende Logiken von Macht verweisen. Ins Blickfeld geraten Bereiche, die in der politischen Theorie ansonsten oft dem Privaten zugeordnet und dem „eigentlichen“ Bereich des Politischen untergeordnet werden: Körper, Gesundheit, Krankheit, Sexualität, Sterben und Tod. Foucault, der übrigens nicht nur von „Biopolitik“, sondern auch und schärfer noch von „Biomacht“ spricht, zeigt auf, dass zwischen dem Aufstieg der modernen Biomedizin, der bis ins 17. Jahrhundert zurückreichenden Geschichte von Bevölkerungspolitik und dem modernen Rassismus in seinen diversen Spielarten ein ebenso systematischer wie monströser Zusammenhang existiert. Vor dem Hintergrund der kapitalistischen Industrialisierung wird die Optimierung des produktiven und reproduktiven Lebens der Staatsbürgerinnen erklärtes Ziel von Politik. In ihrer brutalsten Ausprägung realisiert sich die Biomacht schließlich in den nationalsozialistischen Vernichtungs- und Euthanasieprogrammen. Die Biologisierung der Gesellschaft nach dem (von Foucault so genannten) Prinzip „leben machen, sterben lassen“ beginnt weder, noch endet sie mit den Nazis. Auch in demokratischen Gesellschaften schreibt sie sich – in freilich deutlich gewandelter Form – fort.
Beide Verwendungsweisen des Begriffs Biopolitik – die deskriptive und die kritische – kommen dort zusammen, wo es, wie in dieser Schwerpunktrubrik, um die Analyse spezifischer Lebenstechnologien und ihrer herrschaftsförmigen Effekte geht. Kritik von Biopolitik stellt Fragen – etwa die nach den ungleichen sozialen Verhältnissen, die auf globalen Organ- und Stammzellmärkten existieren. Oder nach den Lebensformen, die durch Techniken der pränatalen Diagnostik indirekt für „unwünschbar“ erklärt werden. Oder auch nach den Schattenseiten der durch das staatlich organisierte Angebot Sterbehilfe vermeintlich selbstbestimmten Verfügung über den eigenen Tod.
Das Stichwort Selbstbestimmung ist in diesem Zusammenhang sehr zentral: Biopolitiken arbeiten heutzutage in aller Regel weniger mit dem Verweis auf die bedrohte Volksgesundheit, als vielmehr mit dem Versprechen auf mehr individuelle Autonomie – in Form gestiegener Wahlmöglichkeiten etwa für werdende Eltern oder schwerkranke Patienten. Genau das wiederum macht die Kritik häufig schwierig: Wer könne schon etwas gegen mehr Selbstbestimmung haben? Tatsächlich ist die Thematik so komplex, dass die politischen Positionen zu Biopolitik, wie entsprechende Bundestagsdebatten eindrücklich belegen, konventionelle Rechts-Links-Zuschreibungen oft unterlaufen. Zur Komplexitätsreduktion werden politisch meistens weitere Prozeduren und Instrumente installiert – genetische Beratungen, Patientenverfügungen, Spenderausweise etc. Regelungsfreie Grauzonen scheinen schwer aushaltbar, doch der Preis für den Zugewinn an Transparenz ist hoch. Mehr Regulierungen bewirken mittelfristig auch mehr Normalisierung. Die individuelle Wahlfreiheit (die übrigens nicht identisch ist mit Selbstbestimmung) mag subjektiv als höher empfunden werden, wenn ich (scheinbar) darüber entscheiden kann, wie ich sterben oder welche Art Kind ich gebären möchte. Kollektiv aber setzt sich – ganz unabhängig von den jeweils individuellen Entscheidungen – zum Beispiel die Annahme durch, dass das eigene Sterben mehr oder weniger „gelungen“ sein kann. Oder dass Menschen mit schweren Krankheiten nicht an diesen, sondern an einem – von anderen egoistisch verschuldeten – „Organmangel“ sterben. Oder dass ein behindertes Kind „eigentlich doch nicht nötig“ gewesen wäre.
Kritik von Biopolitik tut also gerade wegen der damit verbundenen Komplexität immer wieder not – insbesondere dort, wo Heils- und Autonomieversprechen wuchern.
Zum Weiterlesen:
Fantômas. magazin für linke debatte und praxis, Nr2/2002: „Macht. Leben. Widerstand“, Hamburg
Michel Foucault (1991): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Stefanie Graefe (2007): Autonomie am Lebensende? Biopolitik, Ökonomisierung und die Debatte um Sterbehilfe, Frankfurt/M: Campus.