Ein Gespräch mit Dietrich Schulze-Marmeling über den Fall Özil, den DFB und Politik im Fußball
prager frühling (pf): Lassen Sie uns zu Beginn einmal den „Fall Özil” rekapitulieren.
Dietrich Schulze-Marmeling: Um den Fall Özil zu verstehen, muss man erstens wissen, dass Mesut Özils Entscheidung für Deutschland zu spielen ein Novum war. Wie andere Spieler mit türkischem Migrationshintergrund war er vom türkischen Fußballverband begehrt. Aber selbst vor zehn Jahren war es noch keineswegs üblich, dass sich Fußballtalente mit türkischem Migrationshintergrund, die hier aufgewachsen sind, dem DFB anschließen. Die Entscheidung fiel ihm nicht leicht, aber - so man seiner Autobiografie glauben schenkt - war er stolz auf die Entscheidung für die deutsche Nationalmannschaft.
Zweitens muss man wissen: Der Rassismus auf den Rängen deutscher Fußballstadien war immer auch und gerade gegen „die Türken” gerichtet. In den 1970ern und 1980ern waren hier „Türken Raus“-Rufe geradezu Normalität. Auch ohne türkische Spieler auf dem Rasen. Auch das macht den Fall Özil besonders. Jetzt spielte ein Spieler mit türkischem Migrationshintergrund in der Nationalmannschaft.
pf: Dazu passt eine Stelle in Ihrem Buch „Der Fall Özil“, die mich besonders berührt hat. Sie beschreiben, wie die Schauspielerin Nermina Kukic mitten in einer Münchener Fußballkneipe weint und jubelt, als mit Mesut Özil 2010 erstmal ein Kind einer „Gastarbeiterfamilie” ein Tor für eine deutsche Nationalmannschaft bei einer WM schießt.
Schulze-Marmeling: Viele Menschen mit Migrationshintergrund hatten die Hoffnung, dass dieses Tor auch zu ihrer Akzeptanz beitragen würde. Sie hatten das Gefühl: Wir sind angekommen, wir sind dabei, wir sind akzeptiert. Das erklärt sicherlich, warum Menschen mit Migrationshintergrund von diesem Tor berührt wurden.
2010 spielte Deutschland gegen die Türkei im Berliner Olympiastadion. Es war ein Spiel von hoher Brisanz. Özil wurde vom stark vertretenen türkischen Anhang permanent ausgepfiffen. Auch Erdoğan war im Stadion. Özil spielte überragend und schoss auch ein Tor beim 3:0-Sieg des DFB-Teams. Dort entstand ein anderes Foto, ein Foto des halbnackten Özils und Bundeskanzlerin Merkel in der Kabine. Es war die erste politische Instrumentalisierung Özils. Merkel wollte zeigen: Das ist unser Mesut, nicht euer Mesut. Özil war durchaus stolz auf dieses Bild. Er hängte es in sein Arbeitszimmer.
Die politische Rechte in Deutschland war empört. Für sie galt nicht: „Das ist unser Mesut.” Nach dem Erdoğan-Foto hatte man den Eindruck, die Rechte sei geradezu erleichtert. Für sie galt es als Beweis dafür, dass Özil und Gündogan keine Deutschen seien und folglich auch nicht in die Nationalmannschaft gehören.
pf: Man könnte also sagen, der „Fall Özil” besteht eigentlich aus zwei Fotos. Eins mit Merkel und eines mit Erdoğan. Aber warum hat das Foto mit dem Türkischen Präsidenten Erdoğan - ein Autokrat ohne Frage - eigentlich im DFB für solche Aufregung gesorgt? Selbstverständlich ist das ja bei diesem Verband nicht, oder?
Schulze-Marmeling: Ja, beide Bilder muss man in einem Zusammenhang sehen.
Das Bild mit Erdoğan und Gündogan entstand im Frühjahr 2018. Die Reaktion des DFB war sicherlich stark durch die Medien und die Stimmung im Land getrieben. Aber dennoch war sie ziemlich verlogen. DFB-Funktionäre haben nämlich üblicherweise wenige Probleme, Autokraten und Korrumpels die Hand zu schütteln.
pf: Was sind denn Korrumpels?
Schulze-Marmeling: …sind für mich extrem korrupte Leute, bei denen die Korruption quasi Teil ihrer DNA ist. In der Politik häufig identisch mit Autokraten.
pf: Korrumpels - davon gibt es ja einige ...
Schulze-Marmeling: Ja, nur ein Beispiel, um die Doppelmoral zu verdeutlichen: Der Ehrenspielführer der DFB-Elf, Lothar Matthäus, hat sich mit Putin, Orban und dem tschetschenischen Tyrannen Ramsan Kadyrow getroffen – mit letzterem hat er sogar gemeinsam gekickt, eine zutiefst peinliche Propagandaveranstaltung, bei welcher „der Lodda“ den kleinen dicken Mann, der an diesem Abend als einziger Akteur eine lange Jogginghose trug, mit Torvorlagen bediente. Wie Özil behauptet Matthäus: Mit Politik habe das nichts zu tun, man habe ausschließlich über Fußball gesprochen. Aber im Gegensatz zu Matthäus werden solche Treffen bei Özil und Gündogan nicht geduldet. Auf Grund ihres „Migrationshintergrundes“ wird bei ihnen gleich die Loyalität zum deutschen Staat in Frage gestellt.
pf: Aber war denn die Kritik an seinem und Gündogans Foto mit Erdoğan, der ja Menschenrechte mit Füßen tritt, nicht auch berechtigt? Gerade im Vorfeld der Wahlen in der Türkei?
Schulze-Marmeling: Absolut. Die Kritik war und ist berechtigt. Meine erste Reaktion auf dieses Foto war: Ich kann zwar nicht ausschließen, dass die beiden Sympathien für Erdoğan hegen, aber sich auf so eine Art und Weise von Erdoğan instrumentalisieren zu lassen, sowas Beklopptes kann es doch gar nicht geben. Aber insgesamt ließ sich beobachten, dass es sehr unterschiedliche Reaktionen gab. Auch das Lager der Kritiker war alles andere als homogen. Was hat beispielsweise ein Deniz Naki, ein ehemaliger St. Pauli-Profi und Deutsch-Kurde, der vom türkischen Verband wegen „Diskriminierung und ideologischer Propaganda“ lebenslang gesperrt wurde, mit Rechtsextremisten wie Jürgen Elsässer oder Björn Höcke oder auch nur dem gemeinen AfD-Wähler zu tun? Nichts, rein gar nichts.
pf: Kannst du die verschiedenen Positionen näher erläutern?
Schulze-Marmeling: Leute wie Deniz Naki haben komplettes Unverständnis geäußert. Absolut nachvollziehbar. Die nationalistische migrantische Community, die politisch den Grauen Wölfen und der AKP nahe stehen, hatte natürlich keine Kritik an dem Foto. Und dann gab es viele „Deutsch-Türken“, im Prinzip ein völlig falscher Begriff, den ich hier nur der Einfachheit halber strapaziere, die in politischer Opposition zu Erdoğan stehen und das Foto kritisierten, sich aber mit Özil und Gündogan gegen den Rassismus, den sich die beiden Fußballer nun ausgesetzt sahen, solidarisierten. Denn einen solchen hatten sie auch schon erfahren. Eher linke Deutsche ohne Migrationshintergrund reagierten ähnlich. Und dann gab es natürlich noch die rassistische Fraktion. Das waren Deutsche ohne Migrationshintergrund, die mit Autokraten eigentlich keine Probleme hat, aber mit Türken …Diese Leute haben unter Berufung auf das Fotos in Frage gestellt, ob Özil und Gündogan überhaupt deutsch sind. Insbesondere gegen diese Stimmung, die auch im Länderspiel vor der WM gegen Saudi-Arabien in Leverkusen auf den Rängen deutlich wurde, hätte der DFB klar Stellung beziehen müssen.
pf: Sie bezeichnen die Erwiderung des DFB und seines Präsidenten Grindel auf die Rücktrittserklärung von Özil als armselig. Ist das kein zu hartes Urteil?
Schulze-Marmeling: Nein. Die Grindel-Erklärung hat suggeriert, dass Özil den gesamten DFB bis hin zum ehrenamtlichen Helfer in der untersten Liga als rassistisch attackiert hätte. Das hat Özil aber in seiner Erklärung nicht getan. Özil hat ausschließlich Grindel in die Nähe des Rassismus gerückt. Sicher war das übertrieben, aber die Reaktion des DFB war völlig unsouverän. Özil ging es nicht um den DFB, nicht um Löw, nicht um Bierhoff. Es ging ihm alleine um Grindel. Und der hat so getan, als ginge es nicht um ihn, sondern um die gesamte Fußballfamilie … auf dass sich diese mit ihm solidarisiere. Grindels Vorteil: Kaum jemand hatte Özils Erklärung wirklich gelesen – sie war ja auch ziemlich lang. In Bremen hatte ich darüber einen kleinen Disput mit Willi Lemke, der ebenfalls so tat, als habe Özil sämtliche Ehrenamtlichen im deutschen Fußball an den Pranger gestellt. Lemke beklagte sich darüber, dass Özil seine Erklärung in englischer Sprache veröffentlichte. Aber Özil ist ein Global Player, der eine globale Fan-Community bedient. Auf Instagram hat er über 70 Mio. Follower, viele von ihnen leben in der muslimischen Welt. Und mit der Wahl der englischen Sprache entging er der Identitäts-Falle. Ganz abgesehen davon, dass er in London lebt und spielt.
pf: Warum ging es Özil ausgerechnet um den DFB-Präsidenten?
Schulze-Marmeling: Grindel und der DFB spekulierten zunächst darauf, dass sich die Aufregung um das Foto wieder legen würden. Ein guter Auftakt in Russland, vielleicht sogar mit einem Tor von Özil und alles sei vergessen, so die Hoffnung. Nach der verkorksten WM verlangt Grindel dann von Özil ein politisches Statement, was ausgesprochen ungewöhnlich war. Erstmals in der Post-1945-Geschichte des DFB wurde ein Nationalspieler aufgefordert, sich politisch zu erklären. Von einem Verband, der bislang darauf bestand, dass Spieler politisch ihre Klappe halten sollen. Was die Vereine von ihren Spielern ja ebenfalls erwarten. Schlimm war aber vor allem, wie Grindel seine Forderung nach einem Özil-Statement begründete: nämlich mit einem „veränderten Resonanzboden für das Thema Integration“. Er benutzte also die rassistische Stimmung im Land als Druckmittel.
By the way: Grindel forderte Özil zu einem Statement gegen ein Staatsoberhaupt auf, dessen Herrschaft die Bundesregierung mit Waffen und Geld stabilisiert. Im Schatten der Özil-Debatte ließ die Bundesregierung die Sanktionen gegen die Türkei auslaufen.
pf: Nicht zu vergessen, dass die Debatte um Özil ja auch noch in der aufgeheizten Stimmung rund um die Migrationspolitik stattfand ...
Schulze-Marmeling: Allerdings. Das alles fand vor dem Hintergrund des Streits zwischen CDU und CSU um die Asylpolitik statt. Wir hatten eine Debatte, die die gesamte migrantische Community in Unsicherheit versetzte. Das bisherige Verständnis von Integration reichte nicht mehr. Bis dahin galt: Erstens verhalte dich ordentlich, zweitens spreche die Sprache und drittens zahle Steuern. Nun aber sollte aus Integration Assimilation werden. Erst später hat Grindel eingestanden, dass er versäumt habe, während des WM-Turniers in Russland klar Stellung gegen die rassistischen Schmähungen zu beziehen, denen sich Özil und Gündogan ausgesetzt sahen.
pf: Eine zu späte Erkenntnis. Aber der DFB rühmt sich für seine gesellschaftliche Rolle bei der Integration der hier lebenden nicht Bio-Deutschen. Wie beurteilen Sie die Integrationsarbeit des DFB ?
Schulze-Marmeling: Fußball ist ein Ort, bei dem viele Menschen mit Migrationshintergrund aktiv sind. Die Kampagnen gegen Rassismus sind durchaus positiv zu bewerten. Ebenso die Vergabe des Julius-Hirsch-Preises. Da hat sich im DFB durchaus viel bewegt in den letzten Jahren und Jahrzehnten, auch wenn es natürlich auch Vereine gibt, die diese Kampagnen nicht mittragen. Es ist ja mitnichten so, dass die gesamte Fußballfamilie von anti-rassistischer Gesinnung ist. In Gegenden mit einem hohen Anteil von AfD-Wählern wird sich das auch auf die Vereine auswirken. Natürlich gibt es auch den rassistischen Ehrenamtlichen, Trainer etc. Auch in dieser Beziehung fand ich Grindels Erklärung ziemlich gewagt.
Und trotzdem: Der DFB hat sich gewandelt und Themen wie Rassismus und Homophobie geöffnet. Aber dies ist im Wesentlichen durch die Fans durchgesetzt worden - die übrigens auch einen wichtigen Beitrag für die Erinnerungskultur geleistet haben. Die Aufarbeitung der NS-Geschichte, die Beschäftigung mit dem Schicksal jüdischer Bürger in den Vereinen vor den 1933 – diese Dinge wurden in der Regel von den Fans angestoßen. Siehe Bayern-München und seine Ultra-Gruppe „Schickeria“. Aber es hat auch etwas damit zu tun, dass die politische Linke in Deutschland ihre Fußball-Abstinenz irgendwann in den 1990er-Jahren aufgegeben hat.
pf: Reden wir weiter über den DFB. Dass hier unterschiedliche Maßstäbe an Özil und Gündogan angesetzt wurden, ist offensichtlich. Aber warum verwundert dies beim DFB und seinem Präsidenten nicht?
Schulze-Marmeling: Ich hatte manchmal den Eindruck, dass der DFB gar nicht so richtig wusste, was er von sich gab und von sich geben sollte. Er schien mit der ganzen Situation überfordert. Grindel musste sich entscheiden: Bin ich jetzt noch immer der CDU-Rechtsaußen, oder bin ich der Präsident eines Verbands, bei dem die demographische Entwicklung an die Türen der Vereinsheime klopft, wie er es mal formuliert hat. Und dann gab es noch eine sehr interessante Passage in der Antwort des DFB auf die Erklärung von Özil. Dort hieß es: Der DFB erwartet von seinen Nationalspielern ein Bekenntnis zu Menschenrechten, Pressefreiheit und demokratischen Grundrechten. Das ist gut. Aber ob der DFB weiß, dass diese Ansprüche dann auch für ihn selbst gelten?
pf: Zum Beispiel für die WM 2022 in Katar …
Schulze-Marmeling: Ja. Den Fußballern wurde bisher immer gesagt, ihr sollt euch politisch nicht äußern. Beziehungsweise nur dann, wenn wir das von euch fordern und euch den Text vorgeben. Beispielsweise anlässlich von Anti-Rassismus-Kampagnen. Wie der Fall Özil dokumentiert, geht es ja nicht nur um Demokratie und Menschenrechte in unserem Land, sondern auch in anderen Ländern. Im Vorfeld der WM 2022 in Katar dürfen wir also den ganz großen Auftritt erwarten, den manche bei der WM in Russland vermissten. Also: Keine Fotos mit katarischen Regierungsoffiziellen. Die Mannschaft gibt geschlossen ein Statement ab, in dem sie die Verletzung der Menschenrechte und den Mangel an Demokratie in Katar anprangert. Natürlich wird auch der Antisemitismus des Regimes, das Sportler aus Israel nicht einreisen lässt, nicht unerwähnt bleiben. Ehrenspielführer Lothar Matthäus muss sich zu seinen Treffen mit Orban, Putin und Kadyrow erklären. „Das hatte nichts mit Politik zu tun, wir haben nur über Fußball geredet“, reicht da nicht mehr. Mit solchen Worten hatte auch Özil versucht, das Foto mit Erdoğan zu entpolitisieren – dies wurde nicht akzeptiert. Franz Beckenbauer hätte nach dieser Logik aus dem DFB ausgeschlossen werden müssen, da er die Menschenrechtsverletzungen in Katar nicht nur nicht verurteilte – er zog die Berichte der Menschenrechtsorganisationen auch noch ins Lächerliche. Die DFB-Zentrale, das Herrmann-Neuberger-Haus in Frankfurt, wird umbenannt (Vorschlag: Walther-Bensemann-Haus), da Ex-Präsident Hermann Neuberger 1978 eine Militärdiktatur guthieß, die – im Sinne einer sauberen WM – tausende von Menschen verschleppte und ermordete. Mit Wolfgang Niersbach, Präsident des DFB von 2012 bis 2015, wird der Verband ebenfalls ein Hühnchen rupfen müssen: Der war nämlich als Pressesprecher des DFB auch schon mal antisemitisch unterwegs. Als der DFB am 20. April 1994, Hitlers Geburtstag, gegen England spielen wollte, vermutete Niersbach hinter der kritischen Presseberichterstattung in den USA eine jüdische Verschwörung: „80% der amerikanischen Presse ist in jüdischer Hand“, behauptete Niersbach nassforsch. Der Pressemann untermauerte seine Behauptung von der Macht der Juden mit einem Beispiel aus der „Washington Post“: Diese habe doch zum 50. Jahrestag des Zweiten Weltkriegs eine Serie gebracht, „da haben die Deutschen jeden Tag was um die Ohren bekommen.“
pf: Die angebliche strikte Trennung von Fußball und Politik ist aber doch sowieso ein gewagtes Konstrukt. Zeigen die Beispiele nicht eher, welche politische Schlagseite der DFB hat?
Schulze-Marmeling: Der DFB ist immer auch ein politischer Verband gewesen. In der Spitze hat es dort immer eine Dominanz von erzkonservativen Politikern gegeben. Und natürlich befördert ein Projekt wie die Nationalmannschaft immer auch Nationalismus. Wobei man sehen muss, dass das nicht immer nur vom Verband ausgeht. Die mediale Umgebung tut hier ihr übriges. Denken wir nur an die Schwedenhetze der Medien nach dem Ausscheiden der Nationalmannschaft bei der WM 1958. Das hat natürlich damit zu tun, dass sich bei den großen Turnieren Nationen gegenüberstehen. Etwas gezähmt wurde diese Entwicklung dadurch, dass auch die Nationalmannschaften multikultureller geworden sind.
pf: Und mit Fußball wird auch Politik gemacht ...
Schulze-Marmeling: Ja, wir reden ja immer wieder darüber, dass Beckenbauer möglicherweise diesen oder jenen im FiFA-Exekutivkomitee vor der Vergabe der WM 2006 gekauft hat. Worüber aber komischerweise gar nicht gesprochen wird ist, dass auch die damalige rot-grüne Bundesregierung die WM mitgekauft hat.
pf: Bitte?
Die damalige Bundesregierung wollte auf diese Weise die Berliner Republik ins Schaufenster stellen. Wenn man sich anschaut, welche Länder schließlich bei der WM-Vergabe für Deutschland gestimmt haben, dann stellt man fest, dass unter anderem Saudi-Arabien dabei war. Und nach meiner Erinnerung sind dort kurz vor der Abstimmung Waffenlieferungen genehmigt worden. Niemand kann behaupten, dass Fußball nichts mit Politik zu tun habe. Fußball ist immer auch Teil der Außenpolitik gewesen. Das galt für Deutschland 2006 und gilt auch für Katar 2022.
pf: Aber trotzdem hört man immer wieder hört man den Satz „Politik gehört nicht in Stadion” …
Schulze-Marmeling: Diesen Satz habe ich in den 1990er-Jahren öfter gehört. Was die meinten, die das sagten, war: Wir möchten keine Kampagnen gegen Rassismus, Sexismus oder Homophobie im Stadion. Aber diese Kampagnen fanden ja deshalb statt, weil Rassismus, Sexismus und Homophobie – also Politik - in den Stadien anzutreffen waren. Wenn dort jemand ruft: „Türken raus”, dann ist die Politik im Stadion - und zwar in Form von Rassismus.
Aber es hat sich hier dank der vielen Fan-Initiativen viel getan. Noch in den 1970er oder 1980er Jahren hieß es auf den Rängen freie Fahrt für Rassismus. Dass sich das geändert hat, ist auch ein Werk der Fans. Wenn meine Generation beklagt, dass die Jugend von heute sich nicht für Politik interessieren würde und politisch inaktiv sei, muss ich heftig widersprechen. Dann muss ich meinen Freunden etwas sagen, was ich in den 1970ern und 1980ern nie gewagt habe zu sagen – und auch nicht sagen konnte: Geht mal ins Stadion!
pf: Vielen Dank für das Gespräch.
Schulze-Marmeling: Habe ebenfalls zu danken. Und im Übrigen gefällt mir der Name eures Online-Magazins. Mit dem Prager Frühling und dessen Niederschlagung begann meine Sensibilisierung für Politik – auch wenn ich damals erst elf Jahre alt war.
Dietrich Schulze-Marmeling ist glühender Anhänger von Borussia Dortmund und Mitglied der Deutschen Akademie für Fußball-Kultur. Er ist eine der wichtigsten Sachbuchautoren, die sich mit Fußball beschäftigen und hat mehrere Dutzend Bücher über Fußball- und Vereinsgeschichte geschrieben.
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