Der heilende Wert des Sozialen

Das unternehmerische Selbst in der Erschöpfungskrise

Anna K. ist verzweifelt. Sie weiß nicht mehr weiter. Nichts will ihr mehr gelingen. Die Arbeit ist ihr schon lange über den Kopf gewachsen. Der Chef nicht mehr zu ertragen. Der Ehemann vor Jahren ..

...gelaufen. Auch mit den Kindern - nichts als Probleme. Anna K., erfolgreiche Internistin, ist "eine attraktive Frau: fünfzig, brünetter Typ, offene Haare, modisch gekleidet", erklärt Prof. Dr. B. Doch der Psychiater weiß auch: Der äußere Schein trügt. Anna K. ist krank. Sieist "ausgebrannt". Ein Schicksal, das sie mit vielen teilt. (1) Brennt die Leistungsgesellschaft aus?" fragen die Autoren der Studie Die Burnout Epidemie. (2) Die Frage ist berechtigt. Immerhin hat sich der Anteil psychischer Erkrankungen an der Summe aller Krankheitstage in Deutschland seit 1990 verdoppelt. Jede vierte Krankschreibung geht inzwischen auf Depression, Stress, Burnout oder verwandte Leiden zurück, nur Tumorpatienten bleiben noch länger krank als die seelisch Erschöpften. Krankenkassen rechnen Kosten vor und entwickeln Präventionsprogramme. "Seelisch bedingte Gesundheitsstörungen", weiß die BKK, belasten nicht nur das Gesundheitswesen, sondern auch "die Unternehmen und die Volkswirtschaft durch indirekte Kosten". Mehr als die Hälfte aller Ausgaben für Therapie, Rehabilitation und Pflege, nämlich rund 122 Milliarden Euro jährlich, entfallen inzwischen "auf psychische und Verhaltensstörungen". (3) Internet-Fragebögen geben Auskunft über das eigene Burnout-Risiko. Gefährdet ist demnach, für wen die Arbeit wichtiger als das Privatleben ist, wer zu wenig Anerkennung bekommt, zuviel Verantwortung trägt, schlecht delegieren kann, zur Überidentifikation mit seiner Arbeit neigt, idealistisch und perfektionistisch ist und sich von sich selbst und den "eigenen Wünschen weit entfernt" hat. (4)

Change as Challenge

Burnout, Erschöpfung, Depression und Stress sind zugleich Spitzenthemen der inzwischen kaum noch überblickbaren Lebenshilfe-Ratgeberlandschaft. Seit den 1970er Jahren ist die Veröffentlichungskurve rasant gestiegen, was nicht unbedingt heißt, dass mehr Menschen unter Burnout leiden, wohl aber, dass mehr Menschen darüber schreiben und lesen. Auch die hohe Zahl der Krankschreibungen kann, muss aber nicht ein quantitatives Mehr an Leid belegen, sondern vielleicht nur, dass unter dem Namen Burnout sprechbar geworden ist, was in anderen Zeiten "die Nerven" waren oder sich erst in Magengeschwür, Migräne oder Hexenschuss materialisieren musste, um ernst genommen zu werden. Formulieren wir es also vorsichtig: Offenkundig gibt es eine nicht unerhebliche Zahl an Menschen, die alltäglich ihre Arbeitskraft verkaufen, dies üblicherweise aber nicht so nennen, sondern nach Jahren des "Engagements", der "Initiative", "Herausforderung", "Verwirklichung" oder schlicht "Pflichterfüllung" eines Tages feststellen, dass sie die an sie gestellten Anforderungen immer weniger erfüllen können, obwohl sie sie doch erfüllen wollen, und in der Folge dieses Nichtkönnens und Dochwollensin einen recht unglücklichen Zustand geraten, in dem Lebensfreude und Leistungsbereitschaft gegen Null tendieren. Und um dieses Phänomen rankt sich ein gesellschaftlicher Diskurs der Sorge, der sich nicht zuletzt aus ökonomischen Motiven speist. Das ausgebrannte, das "erschöpfte Selbst" (5) ist allerdings nicht einfach nur ein Kostenfaktor. Sondern auch Symptom einer Krise. In der Praxis weniger funktionsfähig als gedacht zeigt sich hier der allzeit leistungsbereite, ökonomisch und eigenverantwortlich handelnde "Unternehmer seiner selbst". Dabei war und ist dies die Meisterleistung neoliberaler Ideologie: dem Zeitgeist das Modell des unternehmerischen Selbst so tief eingebrannt zu haben, das seine Anwendbarkeit sozusagen grenzenlos erscheint. Doch die Aufforderung zur ständigen selbstbestimmten Selbstvermarktung fällt bei den vielen Burnout-Gefährdeten zwangsläufig ins Leere, handelt es sich doch um Menschen, denen das Folgende, vorübergehend oder dauerhaft, abhanden gekommen ist: "Ein fester Glaube an die eigenen Ziele, die Gestaltbarkeit der Umwelt und die eigene Bewältigungskompetenz, ein aktiver Umgang mit Problemen, schließlich die Fähigkeit, unvorhergesehene Veränderungen in den Lebensplan zu integrieren (change as challenge)." (6) Interessant und ein wenig paradox ist nun: Dieser Glaube ist ebenso Leitprinzip des idealtypischen Allzeitunternehmers wie er, jedenfalls der Beratungsliteratur zufolge, Schutz vor Burnout bietet. Offenbar jedoch nur mit begrenztem Erfolg, wie sich mit Blick auf die steigenden Krankenzahlen feststellen lässt: Das Unternehmersubjekt mag nimmer. Sein Vorbildcharakter ist überarbeitungsbedürftig. Genau dies ist es, was der Burnout-Diskurs vorlegt: die Skizze einer Reform des unternehmerischen Selbst.

Korrekte Selbstwahrnehmung, maximaler Lebensprofit

Was wird in der einschlägigen Literatur als Ursachen und Therapie des Burnout beschrieben? Zum einen wird festgestellt, dass Menschen Bedürfnisse haben, die über die Erbringung von Leistung, die Erzielung von Gewinnen und den Konsum von Waren hinausgehen. Ein Bedürfnis zum Beispiel danach, dass das eigene Handeln Sinn macht. Oder das Bedürfnis nach Zeit, genauer: nach leistungsfreier Zeit. Auch bräuchten Menschen, um glücklich und eben nicht ausgebrannt zu sein, tragfähige und befriedigende Beziehungen zu anderen Menschen. Aber auch eine Verbindung zu etwas, das mehr oder größer ist als sie selbst und ihre Alltagssorgen; ob Religion oder Politik, ist nicht so wichtig, Hauptsache weniger Ego-Fixierung. Und dann gibt es noch den Körper. Der nicht nur Dekorobjekt oder Arbeitsinstrument sein sollte, sondern zugleich Quelle von Ruhe und Genuss und der nicht nur vernutzt, sondern bewegt und gepflegt sein will. Was die Anti-Burnout-Literatur also empfiehlt, ist, zu sich selbst ein mehr bedürfnis- und beziehungsorientiertes und ein weniger instrumentell-verwertendes Verhältnis aufzubauen, auch wenn die Welt, in der man lebt, einem tagtäglich das Gegenteil abverlangt. Doch sollte man ja auch nicht so weit gehen, das Regime der Verwertbarkeit selbst in Frage zu stellen. Wohlwollend könnte man sagen: Wir werden aufgefordert, uns so exakt auf den Grenzen der herrschenden Glaubenssystems zu bewegen, dass diese zwar sanft ausgedehnt, selbst aber nicht in Frage gestellt werden. Weniger wohlwollend: Der Teufel soll mit dem Beelzebub ausgetrieben werden. Denn zugleich wird empfohlen, sich noch umfassender selbst zu verwerten: "Da die emotionale Erschöpfung ein Kernelement des Burnouts ist, beginnt der erste Schritt mit einer korrekten Selbstwahrnehmung. Wenn wir unser Leben als ein 'inneres Unternehmen' auffassen, dann geht es darum, die eigenen Fähigkeiten, Fertigkeiten, Talente und Potenziale optimal mit den Möglichkeiten, die das Leben bietet, zu verzahnen, um so einen maximalen (Lebens-)Profit zu generieren." (7) Burnout als Gelegenheit zur Optimierung der Mehrwertschöpfung in der eigenen Lebensführung. Zahllose Titel bestätigen: Niederlagen bieten Chancen, Scheitern ist eine Kunst, jede Krise birgt ein Potenzial. Nichts bleibt, das schlicht Unglück zu nennen wäre. Wer negative Erfahrungen nicht positiv umdeutet, muss noch viel lernen - und braucht sich nicht wundern, wenn er oder sie krank wird.

Die Burnon-Elite: Menschen im Aufbruch

Einen echten Burnout haben offenbar sowieso nur Alpha-Typen. Jedenfalls erfährt man nicht viel über die Burnout-Erfahrungen von Erwerbslosen, Prekären, Teilzeit- oder gar Ohne-Papiere-Beschäftigten. Dafür ist viel von motivierten Hochleistungsträgern die Rede. "Wer ausbrennt, muss gebrannt haben" heißt es - und das heißt auch: Nur die besonders Engagierten, die besonders Anerkennungswürdigen sind wirklich reif fürs Burnout. Nutzen die dann die Gunst der Krise in der in den Ratgebern empfohlenen Weise, also produktiv statt resignativ, dann ist ihnen nicht einfach ein Ende der Erschöpfung in Aussicht gestellt. Sondern ein runderneuertes Leben, in dem die Möglichkeiten der wertvollen Sinnhaftigkeit und der sinnvollen Wertschöpfung gleichsam unbegrenzt sind. Zwar wird hier und da mal erwähnt, dass auch Erwerbslosigkeit in tiefe Niedergeschlagenheit führen kann. Doch ist es in diesem Fall erst recht "... dringendst erforderlich, dass Sie sich 'mental' wieder flott machen und echt zuversichtlich in die Zukunft sehen. Dafür gibt es gute Konzentrationsmethoden. Es hilft Ihnen nicht, wenn Sie - vielleicht ohne es zu bemerken - auf alle Übel dieser Welt innerlich 'meditieren' und dabei ständig an Ausstrahlung und Kraft verlieren. Werden Sie aktiv. Heute will kein Unternehmen mehr einen Mitarbeiter, der 'ein lebendiges Trauerspiel' zum Besten gibt." (8) Hochgebildet, aktiv, charismatisch, stark, sozial engagiert, spirituell geöffnet, körper- und gesundheitssensibel, sich dabei der eigenen Grenzen ebenso wie der persönlichen Werte bewusst und fähig, diese der Welt weiterzugeben - so in etwa stellt sich das ideale, vor Burnout gefeite Arbeitssubjekt dar. Klar ist: Von solcherart weit entwickelter Subjektivität profitieren nicht nur die Menschen selbst, sondern auch die Unternehmen. Was auf der individuellen Ebene die Burnout-Prävention oder -Therapie, ist auf der Ebene des Unternehmens ein auf "burnon" zielendes Change Management. Dessen Prinzipien beschreibt changeX, das "führende Online-Medium für Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft" unter anderem mit folgenden Schlagworten: "Ich muss etwas zurückschrauben", "Mit 'Weniger' den Wohlstand erhalten", "Sinnstiftung am Arbeitsplatz", "Selbsterkundung, Selbstfindung, Selbstbewusstheit" - und wer sich dafür einsetzt, der gehört zu den "Menschen im Aufbruch". (9) Die Prinzipien des Burnon-Managements verkörpert am überzeugendsten der "soziale Unternehmer", ein Typus Mensch, der sich einerseits erfolgreich am Markt und an der Börse positioniert, andererseits selbst taz-Panther-Preis-verdächtig ist. Entweder betreibt er effektive Burnout-Prävention oder, fast wahrscheinlicher, er hat bereits eine Sinnkrise durchlitten und ist daraus verändert hervorgegangen, war vorher simpler "Leistungsträger" und ist nun - ja, sagen wir es ruhig: ein Visionär. "Social Entrepreneurs agieren wie äußerst effiziente Unternehmer, reduzieren ihren Fokus aber nicht auf die rein monetäre Gewinnmaximierung. Es sind bestausgebildete, höchst engagierte, sehr realitätsnahe und wirtschaftlich denkende Menschen, deren Fokus die 'Nutzenmaximierung für alle Beteiligten' ist. Das ist das wirklich Neue", weiß Andreas F. Philipp, Gründer der "Sinn-Gesellschaft". Aus seiner Sicht stellen sich im 21. Jahrhundert die folgenden, dringlichen Fragen: "Wie begegnen wir der extrem schnell wachsenden Schere, die sich zwischen Arm und Reich öffnet - sowohl lokal als auch global? Kinderarmut und Verwahrlosung sind keine Randthemen, sondern tägliche Realität für viele Millionen Menschen in unserem Land. Wie begegnen wir den Folgen der Globalisierung? Wie gelingt es uns, den Bedürfnissen so genannter 'emerging markets' gerecht zu werden und gleichsam ökologische und soziale Fragen wirklich ernst zu nehmen? Welche neuen Ideen entwickeln Unternehmen, um die bisher noch nicht erreichten 80 Prozent der Weltbevölkerung am Konsum teilhaben zu lassen?" (10)

Werte-Marketing für emerging markets

"Nutzenmaximierung für alle Beteiligten" - so wenig dies im real existierenden Kapitalismus möglich ist, so interessant ist doch, dass diese Maxime nur schwerlich in die Logik des Homo Oeconomicus, eine Art Urvater des unternehmerischen Selbst, passt. Stets rational auf der Grundlage von Präferenzabwägung entscheidend und ausschließlich auf den eigenen Vorteil bedacht, taugte der Homo Oeconomicus zwar kaum dazu, Sympathieträger zu sein, galt aber in den Wirtschaftswissenschaften relativ unangefochten jahrzehntelang als einzig seriöses Modell für die Erklärung menschlichen Verhaltens. Und eben dieses Modell hat inzwischen Schlagseite bekommen. Der Homo Oeconomicus sei tot, heißt es jetzt, "eine Fiktion, die so nicht existiert". (11) Tatsächlich nämlich handeln Menschen, sogar in der speziellen Situation des wirtschaftspsychologischen Experiments, nicht ausschließlich selbstbezogen, sondern beziehen in ihre Entscheidungen andere Menschen, Vorstellungen von Fairness und die Gesamtsituation mit ein. Für traditionelle Neoliberale ein irritierender Befund. Der soziale Unternehmer hingegen hat die Zeichen der Zeit verstanden. Er produziert nicht bloß Güter, Dienstleistungen oder Labels. Sondern Sinn. Gerne wird in den einschlägigen Sites auch mit dem Begriff Wert-Schöpfung gekalauert. Da Sinn und Werte Ressourcen sind, die nichts kosten, sich aber dennoch verkaufen lassen, liegen hier ungeahnte Innovationspotenziale brach. Deren Erschließung erfordert ein gerüttelt Maß an "Mindness", das heißt an Einsicht, dass sich der generelle Konsumtrend "von Geld zu Geist" verlagert, weshalb einzig eine glaubwürdige "Werte-Kongruenz" mit der Kundenzielgruppe dauerhaften Profit verspricht. (12) Wer es überzeugend schafft, die eigenen Produkte auch als ökologische, soziale oder sonstige Werte zu verkaufen, der sichert sich die Treue von Kunden, deren Bedürfnisse es ihrerseits wert sind, geweckt und mit passgenauen Waren und Dienstleistungen befriedigt zu werden. Social Entrepreneurship ist "eine Geisteshaltung, die jeder von uns täglich umsetzen kann"(13), heißt es. Eine Geisteshaltung zudem, die "uns" vor sinnlosem Ausbrennen bewahrt. Jedenfalls wenn wir verstanden haben, dass es nicht darum geht, den Imperativ der Gewinnmaximierung ersatzlos zu streichen, sondern darum, ihn anzureichern. Mit sozialem Sinn. Das Soziale ist demnach eine individuelle und stressvorbeugende Wertschöpfungsressource, deren Potenzial sich im glücklichsten Fall im "gesellschaftsverantwortlich tätigen Unternehmen" vervielfältigt. Kurz: Die Therapie des ausgebrannten Unternehmersubjekts besteht in dessen ganzheitlicher Veredelung. Aufgepolstert um Ethik, Geist, Sinn und Soziales erscheint die schlaffe Figur des unternehmerischen Selbst, taufrisch, gestrafft und verjüngt wie nach einer Wellness-Kur, erneut am Horizont.

Wacht auf, Erschöpfte dieser Erde ...

Dass Kapitalismus krank macht, ist eigentlich keine sehr gewagte Behauptung. Aber in dem Geschreibe über die Erschöpfung, die die Besten unter uns ergriffen hat, scheint genau dieser schlichten Wahrheit der Status eines Geheimwissens zuzukommen. Mantraähnlich wird wiederholt, dass es die falschen Selbsttechniken sind, die Menschen ausbrennen lassen, die überhöhten Selbsterwartungen, die geringe Frustrationstoleranz, die verinnerlichten Leistungsansprüche. Gleichzeitig gibt es teils verblüffende Ähnlichkeiten zwischen den Empfehlungen zur individuellen Stressprävention und emanzipatorischen Gegenmodellen zum kapitalistischen Arbeitswahn-Alltag. So etwa zwischen dem Standardmodell des optimalen Zeitmanagements und dem von Frigga Haug entworfenen Konzept Vier mal vier. Während Zeitmanagement-Papst Lothar Siewert eine "ausgewogene Balance zwischen den vier Bereichen, die unser Leben ausmachen" empfiehlt (14) - Arbeit, Körper, Beziehungen, Sinn -, plädiert Haug für einen Sechzehnstundentag in folgender Aufteilung: "Vier Stunden in der Erwerbsarbeit, vier Stunden in der Politik, vier Stunden zum Lernen, für Kultur und Entwicklung und vier Stunden (...) für die Reproduktionsarbeit an uns, den Kindern, den Eltern." (15) Anders als Siewert führt Haug allerdings die Rechnung zu Ende: Die vier Lebensbereiche können nur dann ausbalanciert werden, wenn die Erwerbsarbeit vier Stunden am Tag nicht überschreitet und das Leben trotzdem materiell gesichert ist. Dem gegenüber suggeriert Siewert, alles sei möglich, auch bei Fortexistenz der bestehenden Verhältnisse: Die 40-Stunden-plus-x-Überstunden-Arbeitswoche, das Engagement im Ehrenamt, die liebevolle Aufzucht der Kinder, Zeit für Partnerschaftspflege, Freundeskreis, Erholung, Sport und Urlaub, nicht zu vergessen die kreative Verwirklichung der eigenen Werte. Dazu muss man lediglich die richtigen Prioritäten setzen und die handlichen Selbstorganisations-Formeln anwenden, an deren Verkauf Siewert selbst so schön verdient. Der Unterschied zwischen beiden Modellen ist auf den ersten Blick also klein, tatsächlich aber - wie so oft - ein Unterschied ums Ganze. Was aber wäre das nun, das andere, das nicht verwertbare, "emanzipatorische" Soziale, das uns vor Überbeanspruchung und Selbstverlust bewahrt und zudem noch auf Gerechtigkeit statt auf Work-Life-Balance zielt? Und - macht es glücklich? Vor Erschöpfung schützen tut es nicht unbedingt, wie jeder sozial bewegte Alltag zeigt, erst recht nicht unter prekären Existenzbedingungen. Genauso wie im "normalen" Arbeitsleben gilt hier, das über kurz oder lang rausfällt, wer den Speed nicht durchhält, dass commitment bis zur Selbstaufgabe respektabel, Multi-Tasking selbstverständlich und Privates tendenziell nebensächlich ist. Von daher verbietet sich am Ende, was Burnout-Präventionstechniken betrifft, auch jede übertriebene Häme: So mancheR KapitalismuskritikerIn kann ohne Ressourcen-, Beziehungs- und Zeitmanagement den eigenen Alltag gar nicht bewältigen. Anna K. jedenfalls hat ihre Krise überwunden. Die nervtötenden Morgenkonferenzen in der Klinik nutzt sie jetzt für unsichtbare Entspannungsübungen. Ihr soziales Netz hat sie repariert. In ihrem Arbeitsalltag setzt sie bewusst Zäsuren. Ihre falschen Erwartungen hat sie mit Hilfe von Prof. B. einer "kognitiven Umstrukturierung" unterzogen. Am Ende ist es ihr gelungen, "eine lang verdeckte Ressource, nämlich ihre Widerstandskraft, aufleben zu lassen." Umso besser wird sie fortan die an sie gestellten Leistungsanforderungen bewältigen. (16) Wem das nicht reicht, für die und den bleibt die Frage: Wie eine Sprache der Rechte in die Sorge um das erschöpfte Selbst einschreiben? Wie den Riss, der die Figur des unternehmerischen Selbst durchzieht, politisch wenden, ohne ihn zugleich produktiv zu machen? Wie eine soziale Individualisierung denken - und leben -, die das Soziale weder in Identitäts- oder Kollektivzwängen aufgehen lässt, noch es darauf zurechtstutzt, ökonomische Ressource für Profit- und Sinnmaximierung zu sein? Prof. B. und KollegInnen wissen darauf keine Antwort. Stefanie Graefe ist Redakteurin von Fantômas, Sozialwissenschaftlerin und lebt in Hamburg. Anmerkungen: 1) Otto Benkert: Stressdepression. Die neue Volkskrankheit und was man dagegen tun kann. München 2005, S. 13ff. 2) Andreas Hillert, Michael Marwitz: Die Burnout-Epidemie. Oder brennt die Leistungsgesellschaft aus? München 2006 3) BKK Gesundheitsreport 2005: Krankheitsentwicklungen - Blickpunkt: Psychische Gesundheit, http://www.bkk.de/bkk/psfile/downloaddatei/64/Gesundheit438ae1c8de09a.pdf 4) http://members.aon.at/possnigg/pages/burnout/indexb-o.htm 5) Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt/Main 2004 6) Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt/Main 2007 7) Jörg-Peter Schröder: Pocket Business. Wege aus dem Burnout. Möglichkeiten der nachhaltigen Veränderung. Berlin 2006, S. 75 8) http://www.burnout-ev.de/arbeitslosigkeit.htm 9) http://changex.de/about.html 10) http://www.businessvillage.de/mag-404_Soziales-UnternehmertumùEin-Interview-mit-Andreas-Philipp.html, Zitat redaktionell gekürzt. 11) http://www.dw-world.de/dw/article/0,1564,1505080,00.html 12) http://www.sensonet.org/Sensotionen/gg-mindness.html 13) s. Anm. 10 14) Lothar Siewert: Noch mehr Zeit für das Wesentliche. Zeitmanagement neu entdecken. München 2006 15) taz, 23.06. 2007, http://www.taz.de/index.php?id=archiv&dig=2007/06/23/a0218 16) Benkert, a.a.0., S. 164 aus: Fantômas - Magazin für linke Debatte und Praxis/Nr. 12/Winter/Frühjahr 08