Die Spaltung des britischen Konservatismus
Der rasante Wandel der britischen Rechten geschah so schnell und unter der Oberfläche, dass er viele politisch Engagierte verwirrt zurückließ — sowohl was seine Auswirkungen angeht, als auch in Bezug auf seine endgültige Zielrichtung. David Cameron hatte für sein liberal-konservatives Projekt voll auf das Brexit-Referendum gesetzt und verloren. In den Tagen danach wurde mir von einflussreichen Personen im Umfeld von David Cameron und dessen damaligen Schatzkanzlers, John Osborne, versichert, dass die so genannten Granden — überwiegend reiche Großgrundbesitzer im britischen Oberhaus — trotz des Umschwungs schon für Kontinuität sorgen würden.
Stattdessen wurden unter Theresa Mays Regierung junge liberale Führungsfiguren des britischen Konservatismus verdrängt. Sie begann eine Appeasementstrategie gegenüber der anti-europäischen Rechten und setzte alles darauf, den englischen Nationalismus zu befriedigen, um eine große Mehrheit bei den vorgezogenen Neuwahlen im Juni 2017 zu gewinnen. Auch sie verlor. Das daraus resultierende „hung parliament“ — ein Parlament ohne absolute Mehrheit einer Partei — brachte May in die entgegengesetzte Position: Statt einer großen Mehrheit, die es ihr erlaubt hätte die radikalen Brexiteers einzudämmen, wurde sie nun deren Geisel — und die Geisel ihrer Verbündeten von der Democratic Unionist Party, einer ultrakonservativen und religiösen Partei in Nordirland.
Mays einzig sinnvolle Option wäre gewesen, einen Brexit-Vertrag anzustreben und diesen mit der Unterstützung von Labour durchs Parlament zu bringen. Stattdessen setzte sie darauf, kraft ihrer Autorität als Premierministerin die Konservativen zur Akzeptanz des Austrittsabkommens, das ihr im Juli 2018 auf ihrem Landsitz Chequers vorgelegt wurde, zu zwingen. Auch dieses Spiel verlor sie und ihr Kabinett brach auseinander, als die Mehrheit der Tories, angeführt von Boris Johnson, sie im Stich ließen.
Nach der Niederlage von Chequers war allen in der internationalistischen Linken bei Labour klar, dass ein Brexit mit dem existierenden Parlament nicht möglich sein würde. Labour konnte nicht für das vorgelegte Austrittsabkommen stimmen, da es zu wenige Sicherungen in Bezug auf ArbeitnehmerInnenrechte und Umweltschutzstandards enthielt. Die um die Johnson-Gruppe angewachsene Tory-Rechte konnten dies jedoch ebenso wenig.
Erst nach der verpassten Brexit-Frist im März 2019 begann May endlich in parteiübergreifende Verhandlungen mit Labour einzusteigen, die zu einem Ersetzungsabkommen nach norwegischem Vorbild geführt hätten. Diese Verhandlungen scheiterten, da immer mehr Befürworter eines „Remains“ das Corbyn-Lager verließen, je länger dieser an den Verhandlungen teilnahm. May trat zurück und Johnson gewann den innerparteilichen Machtkampf. Um zu verstehen, was sich in den verschiedenen Führungszirkeln der Tories verändert hat, muss man die parallelen Veränderungen innerhalb der autoritären Rechten dieser Zeit nachvollziehen.
UKIP — Einstiegsdroge für die Wahl einer gemäßigt rassistischen Partei der Superreichen
Bei den Wahlen 2010 konnte UKIP 900.000 Wählerstimmen einfahren. UKIP gewann die Europawahl 2014 mit 4,3 Millionen als stärkste Partei. Bei den Wahlen 2015 wurde die Partei mit 3,8 Millionen WählerInnen dritte nach Stimmen, bekam aber auf Grund des britischen Wahlsystems nur einen einzigen Sitz im Parlament. Während der gesamten Zeit fand UKIP, nicht zuletzt auf Grund der liberalkonservativen Führung der Tories, mit ihrem autoritären weißen englischen Nationalismus keine Resonanz im politischen Mainstream. Ihr einziges Projekt blieb der Brexit, und 2016 waren sie damit erfolgreich. Danach sanken, solange alle Parteien versprachen den Brexit umzusetzen, die Stimmen für UKIP in den Keller. Nigel Farage zog sich zurück und widmete sich einer Karriere in den Medien sowie als Redner. Die Partei konzentrierte sich auf ihre verbliebene Basis in der sozialkonservativen Arbeiterklasse der deindustrialisierten Industriestädte.
Sie versuchte eine letzte Offensive bei den Wahlen in Stoke-on-Trent im März 2017, aber die Funktionäre der Partei gaben offen zu, dass ihre Zeit vorbei sei. Dennoch geschah, während sich die Rumpfanhängerschaft von UKIP anderen Rechtsaußen-Gruppierungen anschloss und sich auf Straßenaktionen konzentrierte, etwas Bedeutsames auf Seiten der Anhängerschaft in der unteren Mittelklasse, die die „alte“ UKIP prägte. Die traditionalistischen, rassistischen alten Männer aus den Golfclubs Suburbias traten in Massen den Tories bei.
Während der Wahlen von 2017 und auch danach wanderten in vielen deindustriealisierten Wahlbezirken frühere Labour-Wähler, die zuvor zu UKIP gewechselt waren, zu den Konservativen. Die Wahl einer rassistischen Partei der plebejischen Rechten wurde so zur Einstiegsdroge für ein Kreuz bei einer gemäßigt rassistischen Partei der Superreichen. Als Johnson im Sommer 2019 seinen Wahlkampf um den Vorsitz der Konservativen begann, war die Basis der Partei um Personen, die die letzten Jahre in UKIP verbracht hatten, angewachsen. Zwischen einer und vier Millionen Stimmen autoritärer NationalistInnen gab es hier zu holen.
Die von Farage während Mays Scheitern bei der Durchführung des Brexits gegründete Brexit-Party machte alles noch komplizierter. Sie war kein Versuch UKIP wiederzubeleben, sie war überhaupt keine Partei im eigentlichen Sinne. Vielmehr handelt es sich um ein Privatunternehmen mit undurchsichtiger Finanzierung, das Massenkundgebungen konservativer Wähler und Parteimitglieder organisierte.
Es war ein rechtes Agit-Prop-Theater, das mit einem einzigen Thema, der Vollendung des Brexits, die EU-Parlamentswahlen im Mai 2019 gewann. Dies diente Johnson und den autoritären Hardlinern bei den Konservativen als willkommener Grund die Partei auf einen harten Rechtskurs — nicht nur in Bezug auf den Brexit, sondern auch in Bezug auf Migration und Kriminalitätsbekämpfung — einzuschwören. Nachdem die Wahlen im Dezember 2019 ausgerufen worden waren, veranstaltete Farage ein weiteres Agit-Prop-Spektakel, indem er 317 Kandidaten aus dem Rennen nahm und Johnson überall dort freien Lauf ließ, wo die Tories bereits Mandate hielten. Der Preis war das explizite Versprechen eines No-Deal-Ausstiegs noch in der bis Dezember 2020 andauernden Übergangsperiode. Im Ergebnis bedeutete dies die Selbstabschaffung der Brexit Party, was die progressiven Parteien vor die unmögliche Aufgabe stellte, ein eigenes Wahlbündnis zu schließen. Was sie, Stand heute, nicht geschafft haben.
Zusammengefasst heißt das: Eine Gruppe von ein bis vier Millionen stramm rechter WählerInnen wurde zunächst durch die plebejisch-populistischen Parteien Nigel Farages mit Unterstützung Trumps gesammelt und dann mittels eines Wahlbündnisses und eines extrem rechten Entrismus an die Konservativen übergeben.
UKIP als Katalysator für ein neues rechtes Hegemonieprojekt
Diese demographische Gruppe hauptsächlich aus der weißen, männlichen Arbeiterklasse sah den Brexit vor allem als Möglichkeit Einwanderung zu begrenzen und die eigenen Löhne zu heben. Kulturell ist sie reaktionär eingestellt, sieht Corbyn als „unmännlich“ und ist bereitwilliger Konsument der unterschwelligen Botschaften in Talk Shows und der rechten Presse.
Weder der Klimawandel noch die soziale Unsicherheit ihrer erwachsenen Kinder scheint sie zu interessieren. Wenn eine Fabrik oder ein Stahlwerk auf Grund des Brexits schließen muss, sieht man sie im Fernsehen sagen, dass es wert sei, diesen Preis zu zahlen, auch wenn ihre Söhne und Töchter ihre Jobs dadurch verlieren. Für sie sind alle Folgen der Sparpolitik, beispielsweise der Anstieg der Wartezeiten in den Notaufnahmen der Krankenhäuser um durchschnittlich vier Stunden, Probleme, die entweder durch Migranten oder die arbeitsscheuen Armen verursacht werden. Auch wenn kaum einer von ihnen alt genug ist, um im Krieg gekämpft zu haben, reden sie pausenlos über den Krieg. Manche glauben gar, dass sie als Kinder in den 1950er Jahren so stark gelitten hätten, als hätten sie gekämpft.
Diese Gruppe ist ein entscheidender Zuwachs für das gesellschaftliche Bündnis des modernen Konservatismus und eine entscheidende Schwächung bisheriger Allianzen der britischen Arbeiterbewegung.
Der Wandel Labours unter Corbyn hat sicher zu ihrer Abwendung von der Partei beigetragen. So wie die Kalte-Kriegs-Rechte nach der Übernahme durch Corbyn die Partei verließ, so wurden die heimlichen RassistInnen und Fremdenfeinde durch das erstarken feministischer, queerer und schwarzer Stimmen in Corbyns Führungsteam brüskiert.
Hannah Arendt kritisierte bereits 1920, dass die SPD nicht verstanden habe, dass die deutsche Arbeiterschaft Haltungen vertritt, die sie empfänglich für den Faschismus machten. Im selben Maße sollten wir Labour — und zwar alle Flügel — dafür kritisieren, dass sie nicht in der Lage waren die Intensität reaktionären Ressentiments zu erkennen, das sie gewissermaßen tolerierten.
Das Bündnis aus Mob und Elite
Man kann sich fragen, ob diese Arbeiter für die Labour-Partei durch radikale ökonomische Forderungen zurückgewonnen werden können? Die Erfahrungen vor der eigenen Tür sind eher negativ. Aber das radikale ökonomische Programm in Labours Manifest 2019 mindert den Einfluss dieser Gruppe. In einem typischen Pub in einer englischen Arbeiterstadt gibt es dieser Tage zwei Erzählstränge, der eine handelt von Migration, Nationalismus und Vorurteilen, der andere von einer tiefen sozialen Entwurzelung. Mit der unablässigen Fokussierung auf die Folgen der Austerität verstärkt Labour die gute Erzählung und verdrängt die schlechte.
Vielfach wird dieses Phänomen durch geographische Gegebenheiten überlagert. In meiner Heimatstadt Leigh, die immer noch durch die Überbleibsel der Baumwollspinnereien und der Kohleindustrie geprägt ist, werden die rechtsautoritären Enklaven durch eine breitere moderne ArbeiterInnenklasse aufgesaugt, die nach Manchester pendelt, in globalisierten Industrien arbeitet und für die Nostalgie nicht attraktiv erscheint.
Aber in den isolierteren Bergarbeiterdörfern in South Yorkshire, Nottinghamshire und South Wales gibt es keine PendlerInnen. Oftmals gibt es noch nicht mal Bildungsinstitution über das 16. Lebensjahr hinaus. Darüber hinaus zirkuliert nur wenig Geld. Solche Gemeinden sind das Kernland dieser neuen Verbindung aus plebejischer Rechter und offiziellem Konservatismus. Die Ergebnisse der Wahlen im Dezember 2019 werden dies widerspiegeln und die Verschiebung des Schwerpunkts der britischen ArbeiterInnenklasse sichtbar machen.
Was auch immer mit dem Brexit kommen wird, es ist klar, dass Labours Hinwendung zu einem sozialliberalen und radikal linksgrünen Programm einen Teil der alten ArbeiterInnenklasse dauerhaft abgespalten hat. Es handelt sich um Menschen über 50, die kein Zugeständnis an ihren kulturellen Konservatismus zurückgewinnen wird.
Labour ist jetzt eine waschechte Partei der ArbeiterInnenschaft des 21. Jahrhunderts, der Facharbeiter, der Bildungsaufsteiger, der Angestellten, der jungen Leute und der ethnischen Minderheiten. Der Konservatismus hat sich indes in vier Jahren von einer liberalen europäischen Partei in eine des autoritären, nationalistischen Ethos gewandelt, die im krassen Widerspruch zu britischen Wirtschaftsinteressen steht.
Während der neoliberalen Ära ging es den Tories weniger darum Unternehmen in britischem Besitz, die Produkte und Dienstleistungen im Vereinigten Königreich anbieten, zu repräsentieren. Stattdessen verbanden sie sich mit der internationalen Finanzindustrie und diversen korrupten Oligarchen. Somit war es für sie einfach eine ganz neue Gruppe plebejischer Rechter aufzunehmen. Die so entstandene Partei aus Hedge-Fond-Managern und Ex-Bergarbeitern, umfassend von russischen Oligarchen finanziert, ist im Kern, was Arendt das „zeitweilige Bündnis aus Elite und Mob“ nannte.
Liberal-bourgeoise UnternehmerInnen, Intellektuelle und die kultivierte obere Mittelklasse schauen mit Schrecken auf diese neue politische Formation, haben aber keine brauchbare zentristische Partei, auf die sie sich verlassen könnten. Einige von ihnen klammern sich auf Grund der schnellen Wandlung von Johnsons Konservativen daran, dass dies alles Taktik sei und dass Johnson zu seinem liberalen Selbst zurückkehren werde, wenn er einmal die Macht hat. Dass er die ArbeiterInnenklasse-RassistInnen und die ex-UKIP-Leute in einer vornehmen, britischen Version einer Nacht der langen Messer unterwerfen werde. Ich bezweifle das.
Johnsons Projekt besteht aus einem harten Brexit und einem Handelsabkommen mit den USA statt eines Vertrags mit Europa. Zementiert werden soll dies durch eine weitere Krise im Dezember 2020, wenn die Übergangsfrist abläuft. Im Angesicht eines Bündnisses von Mob und Elite ist ein Mitte-Links-Bündnis die einzige Taktik, die in der Geschichte funktioniert hat. Aber weder die LiberaldemokratInnen noch die SozialdemokratInnen bei Labour, geschweige denn der nostalgische Flügel innerhalb von Corbyns Gruppe scheinen das zu wollen.
Paul Mason ist ein britischer Wirtschaftsjournalist. Jüngst erschien von ihm »Klare, lichte Zukunft - Eine radikale Verteidigung des Humanismus«. Die Übersetzung des Beitrags besorgte Stefan Gerbing.
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