Gysi, Griechenland und „Versailles“

Deutschland ist ein hoffnungsloser Fall. Der geschichtsklitternde historische, politische und deutschnationale Umgang mit der Vergangenheit, der nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder fröhliche Urständ feiert, hat nun auch die Partei „Die Linke“ erreicht. Endgültig. Im Bundestag lehnte Gregor Gysi am 27. Februar 2012 das 130-Milliarden-Rettungspaket für Griechenland mit den Worten ab, man behandele das Land mit „Versailles“ und nicht mit einem „Marshall-Plan“. Es tut nichts zur Sache, dass Gysis Vergleich sich bei genauem Hinsehen als unsinnig erweist. Mag sein, dass ihm Bemerkungen wie die über „Versailles“ leicht über die Lippen gehen – er liebt die effektvolle Zuspitzung, da kommt das Nachdenken manchmal zu kurz. In diesem Falle ist er jedenfalls zu weit gegangen. Griechenland ist mitnichten in der Lage, in der sich Deutschland 1918/19 befunden hat. Es hat keinen Weltkrieg entfacht, es hat auch seinen wirtschaftlichen Ruin nicht durch Aufrechterhaltung eines dubiosen Sieges- und Kampfeswillens verursacht, wie es das Hohenzollernregime getan hat. Es hat sich auch nicht – im Unterschied zu Deutschlands Haltung in der Julikrise 1914 oder in seiner Be- und Verurteilung des Versailler Vertrages – antieuropäisch verhalten.
Zur Erinnerung. Der Versailler Vertrag trug den durch den Ersten Weltkrieg geschaffenen Realitäten Rechnung. Der Vertrag war das Ergebnis eines mörderischen und überaus verlustreichen Krieges. Allein durch den Krieg ist er zustande gekommen. Die deutschnationale Propaganda sowie große Teile der Parteien – bis hin zur SPD und KPD – machten aber nach 1918 nicht den Krieg, sondern die Folgen des Krieges, den Versailler Vertrag, für die Not und das Elend des Volkes verantwortlich. Dabei wurde in Deutschland, wie es der Nationalökonom Oskar Stillich einmal ausrechnete, mehr für Alkohol und Nikotin ausgegeben, als das Land pro Jahr für Reparationen zahlen musste.

Die Propaganda gegen den Frieden von Versailles gehörte zum regierungsamtlich geförderten Programm und diente unter anderem dazu, Deutschlands Unschuld am Weltkrieg zu bekräftigen und seine verlorene Großmachtrolle zurück zu gewinnen. Hitler und die NSDAP ernteten nur die Früchte der Saat, die andere vor ihnen gelegt hatten. Weltbühne-Autoren wie Hellmut von Gerlach oder Heinrich Ströbel hielten mit ihren Warnungen vor den Folgen solcher Unschuldsbeteuerungen nicht hinter dem Berg. Die Propaganda gegen die „Ketten von Versailles“ beließ das Volk in einem psychologischen Kriegszustand. Statt die Köpfe abzurüsten, blieben sie im Freund-Feind- und Gewalt-Denken befangen.
Der Versailler Vertrag war keineswegs so ungerecht, wie man damals behauptet hat und wie man es heute allenthalben mehr oder minder wiedergekäut hört. Gysi reiht sich in diese Phalanx ein. Es ist hier nicht der Ort, dazu weitere Ausführungen zu machen. Es genügt der Hinweis, dass angesichts der „Frieden“, die das Hohenzollernreich 1918 in Brest-Litowsk beziehungsweise Bukarest der Sowjetunion und Rumänien diktiert hat, ein „Siegfrieden“ im Westen ganz anders ausgesehen hätte als der Versailler Vertrag.
Griechenland hat Fehler gemacht. Es braucht unsere Hilfe und Solidarität. Der Ruf Gysis nach einem „Marshall-Plan“ für Griechenland – wie schön das nicht nur in meinen Ohren klingt? – erwiese sich erst dann zumindest in seinen Anfängen als realistisch, wenn er von einem damit verbundenen Plan oder Konzept einherginge. Dazu hat Gysi allerdings nichts gesagt. Luftblasen oder Worthülsen haben noch nie etwas verändert oder zu einer wichtigen politischen Debatte beigetragen.
Schlimmer, nein, viel schlimmer ist, dass die „Linke“ sich mit Gysis Rückgriff auf „Versailles“ deutschnationale Haltungen zu eigen macht. Erst verführt man den Geist, dann die Herzen. In Deutschland scheint sich das, unabhängig von den Gezeiten, stets von neuem und über alle Parteien hinweg durchzusetzen. Gregor Gysi oder die „Linke“ im Verein mit Seeckt und Radek? Da möchten sie wohl sicher nicht landen. Wie aber wollen beide – Gysi und die „Linke“ – fortan der deutschnational orientierten und unsinnigen Auffassung widersprechen, der Versailler Vertrag habe den Zweiten Weltkrieg verursacht – einer These, die nicht zuletzt zu den grundlegenden Bestandteilen des Rechtsradikalismus in Deutschland gehört?