Sustainable Development Goals und Laudato si’: Abgesang auf das Entwicklungszeitalter?
Wie waren wir damals naiv, großspurig das „Ende des Entwicklungszeitalters“ auszurufen! Im Herbst des Jahres 1988 an der Pennsylvania State University im Haus von Barbara Duden, wo wir unsere Freunde zu Living Room Consultations versammelt haben, inmitten von Spaghetti, Rotwein und Iso-Matten, fassten wir den vollmundigen Plan, ein „Development Dictionary“ herauszubringen (Sachs 1993; Esteva 1985; Escobar 1995). Man erinnere sich: In der zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts thronte das Leitbild der „Entwicklung“ wie ein mächtiger Herrscher über die Nationen. Es war das weltpolitische Programm der postkolonialen Ära. Unschuldig kam der Begriff daher, aber er hat den Weg für die imperiale Macht des Westens über die Welt geebnet. Wie im Westen, so auch auf Erden, so lautete, kurz gefasst, die Botschaft der „Entwicklung“.
Rückschau
Wann hat das Entwicklungszeitalter angefangen? In unserem Development Dictionary haben wir Präsident Harry S. Truman als Bösewicht stilisiert. In der Tat, am 20. Januar 1949 bezeichnete er in seiner Antrittsrede vor dem amerikanischen Kongress die Heimat von mehr als der Hälfte der Weltbevölkerung als „unterentwickelte Gebiete“. Es war das erste Mal, dass der Begriff „Unterentwicklung“, der später zur Schlüsselkategorie für die Begründung von Macht, sowohl international wie auch national, aufgestiegen ist, von einer prominenten politischen Bühne verkündet wurde. Mit dieser Rede war das Entwicklungszeitalter eröffnet – jene Periode der Weltgeschichte, die auf die Kolonialepoche folgte, um etwa 40 Jahre später von der Epoche der „Globalisierung“ ersetzt zu werden. Und derzeit verdichten sich die Anzeichen, dass die Globalisierung von einer Epoche des Nationalpopulismus abgelöst werden könnte.
Worin besteht die Idee der Entwicklung? Es empfiehlt sich drei Aspekte zu unterscheiden. Chronopolitisch scheinen sich alle Völker auf dem Erdkreis auf einer einzigen Bahn vorwärts zu bewegen. Die imaginierte Zeit ist linear, sie erlaubt nur vorwärts und rückwärts zu gehen. Ziel des Laufes ist der technische und wirtschaftliche Fortschritt, der jedoch für immer flüchtig ist. Geopolitisch hingegen zeichnen die führenden Läufer, die entwickelten Nationen, den Weg der Nachzügler-Länder vor. Die vormals verwirrende Vielfalt der Völker auf dem Globus bekommt eine klare Rangordnung in reiche und arme Nationen. Ferner kann man zivilisationspolitisch gesehen die „Entwicklung“ einer Nation an ihrem Grad der wirtschaftlichen Leistung ablesen, also am Bruttoinlandsprodukt. Gesellschaften, die soeben der Kolonisierung entronnen sind, haben sich unter die Obhut der Ökonomie zu stellen.
Was ist aus dieser Idee geworden? Sie hat einen Lauf genommen, wie es in der Ideengeschichte nicht ungewöhnlich ist: Was einmal eine historische Innovation war, wurde dann für lange Zeit zu einer Konvention, die schließlich in allgemeiner Frustration ihr Ende findet. Dennoch waren wir damals voreilig, das Ende des Entwicklungszeitalters zu behaupten; wir hatten nicht damit gerechnet, dass sich das Koma über Jahrzehnte hinziehen würde. Im Gegenteil, in der Folgezeit bekam die Entwicklungsidee einen neuen Auftrieb. Denn genau zu dem Zeitpunkt, als die ersten Entwürfe für unser Dictionary fällig waren, im November 1989, fiel die Berliner Mauer. Der Kalte Krieg war zu Ende und die Epoche der Globalisierung brach an. Weit geöffnet nunmehr waren die Schleusen für transnationale Marktkräfte, die sogar die entferntesten Winkel des Erdballs erreichten. Der Nationalstaat war porös geworden, Wirtschaft und auch Kultur wurden zunehmend von globalen Kräften bestimmt. „Entwicklung“, einstmals eine Staatsaufgabe, wurde deterritorialisiert. Dabei machten sich transnationale Konzerne breit und Lebensstile glichen sich an: SUVs lösten Rikschas ab, Smartphones traten an die Stelle von Dorfversammlungen, Air-Conditioning ersetzte die Siesta. Man kann die Globalisierung als Entwicklung ohne Nationalstaaten verstehen. Daraus hat die globale Mittelklasse, ob in Europa und Nordamerika oder in Afrika, Asien und Lateinamerika, am meisten Nutzen gezogen. Das ist fraglos ein grandioser Erfolg des Entwicklungsdenkens, doch mit seiner zunehmend erfolgreichen Umsetzung ist sein Scheitern erst recht vorprogrammiert.
Dabei ist „Entwicklung“ ein Plastikwort, ein leerer Begriff mit positiver Bedeutung. Gleichwohl hat sich „Entwicklung“ als Weltperspektive gehalten, denn sie ist in ein internationales Geflecht von Institutionen eingebettet, von der UN über Ministerien bis hin zu NGOs. Zu guter Letzt haben Milliarden von Menschen von ihrem „Recht auf Entwicklung“, wie es in dem Beschluss der UN-Vollversammlung vom Jahr 1986 heißt, vollen Gebrauch gemacht. Doch kann man die bemerkenswerte Verwandlung der Idee bis in unsere Tage nachverfolgen. So konnte man im Jahr 2015 eine Verdichtung des Entwicklungsdiskurses beobachten: Im Juni die päpstliche Enzyklika Laudato Si’, im September die Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen und zuletzt im Dezember das Klimaschutzabkommen von Paris. Sind diese internationalen Stellungnahmen noch der „Entwicklung“ verpflichtet? Oder kann man sie im Gegenteil als Ausweis des post-development-Denkens betrachten?
Die Transformation von „Entwicklung“ in den SDGs
Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat die Sustainable Development Goals (SDGs) beschlossen und sich mit der Agenda 2030 ein Programm gegeben, das der Weltpolitik für die nächsten 15 Jahre Richtung geben soll (VN 2015). Es ist entstanden aus zwei Prozessen: einerseits aus den Millenniumszielen des Jahres 2000 und der ihr folgenden Post-2015-Agenda und andererseits aus den Dokumenten des Rio+20-Gipfels im Jahre 2012, die den Faden der Agenda 21 des Erdgipfels in Rio de Janeiro 1992 wieder aufnehmen. Das Resultat: 17 Ziele, vom Ziel „Keine Armut“ über „Bildung für Alle“ bis zu „Erneuerbare Energie“, mitsamt 169 Unterzielen. Es ist dementsprechend ein umfassender Aufgabenkatalog geworden, der gravitätisch und visionär daherkommt, doch keinerlei Verpflichtung, geschweige denn Sanktionsmöglichkeiten bietet.
Freilich sind ständige Bekenntnisse, die jedoch unverbindlich bleiben, für die Regierungen der Welt unerlässlich. Das Pariser Klimaschutzabkommen vom Dezember 2015 zum Beispiel verbindet ein beachtliches Ziel mit einer vagen Verpflichtung. Oder: Wer erinnert sich nicht, dass die Vereinten Nationen sehr oft zum Kampf gegen Hunger aufgerufen haben? Auch gutwillige Regierungen sind dabei in einer misslichen Lage. Einerseits müssen sie dem objektiven Problemdruck und der Stärke der Zivilgesellschaft nachgeben. Andererseits sind sie den kapitalistischen Märkten wie auch den Konsumwünschen in ihren Gesellschaften verpflichtet. Dementsprechend ist davon auszugehen, dass den Verlautbarungen der Vereinten Nationen ein gehöriges Maß von Selbst-Illusionierung innewohnt (Blühdorn 2013). Die Bühne der Vereinten Nationen ist hervorragend geeignet, um hehre Ziele von oben herab zu verkündigen und dann im Alltagsgeschäft Realpolitik zu betreiben. So ist die Entkopplung von internationaler Rhetorik und nationalen Maßnahmen zum Strukturmerkmal gegenwärtiger Politik geworden. Wie kann man die Erklärung von sämtlichen Regierungen „Wir verpflichten uns, uns unermüdlich für die volle Umsetzung dieser Agenda bis im Jahr 2030 einzusetzen“ (VN 2015: §2; s. auch Ziai 2016) anders als eine Übung in Simulation verstehen, wenn eben dieselben Regierungen Kohleabbau, land grabbing oder die Finanzindustrie fördern?
Überleben statt Fortschritt
Lange vorbei ist die Zeit, als Entwicklung noch Verheißung war. Damals war die Rede von „jungen“, „aufstrebenden“ Nationen, die sich auf der Straße des Fortschritts befinden. In der Tat erzeugte die Chrono-, Geo- und Zivilisationspolitik der „Entwicklung“ ein monumentales historisches Versprechen – das Versprechen, dass am Ende alle Gesellschaften fähig werden, die Kluft zu den Reichen zu schließen und an den Früchten der industriellen Zivilisation teil zu haben.
Doch das Entwicklungsdenken musste zwei Schläge einkassieren, von denen es sich nicht erholt hat: die Fortdauer der Armut und die Endlichkeit der Natur. Entwicklungshilfe wurde geradezu zur Armutsbekämpfung erfunden. Dennoch ist die andauernde Reproduktion der Armut auch nach den Millenniumszielen beängstigend. Sicher, die Zahl der absolut Armen ist in Schwellenländern zum Teil drastisch gesunken, aber in den ärmeren Ländern gleichgeblieben. Daneben ist die Politik der Armutsreduzierung oft mit enormer Ungleichheit und Umweltschäden erkauft worden. Zum zweiten Schlag: Die Überhitzung der Erde, der Verschleiß der biologischen Vielfalt, die latente Vergiftung der Meere und Böden, all das hat dem Glauben, dass die entwickelten Nationen die Spitze der sozialen Evolution darstellen, den Boden entzogen. Im Gegenteil, der Fortschritt hat sich in weiten Teilen als Rückschritt entpuppt, weil die kapitalistische Wirtschaftsweise des globalen Nordens gar nicht anders kann, als die Natur auszubeuten. Von „Grenzen des Wachstums“ 1972 bis zu den „Planetary Boundaries“ 2009 sprechen die Analysen eine eindeutige Sprache: Entwicklung-als-Wachstum führt zur Unwirtlichkeit des Planeten Erde für den Menschen (Rockström u.a. 2009).
So kommen die SDGs ohne hochfliegende Pläne für einen himmelstürzenden Fortschritt aus, vielmehr suchen sie, das Minimum für ein würdiges Leben allerorten zu sichern. Im „Aufruf zum Handeln“ des beschlossenen Dokuments heißt es:
„Wir können die erste Generation sein, der es gelingt, Armut zu beseitigen, und gleichzeitig vielleicht die letzte Generation, die noch die Chance hat, unseren Planeten zu retten. Wenn es uns gelingt, unsere Ziele zu verwirklichen, werden wir die Welt im Jahr 2030 zum Besseren verändert haben.“ (VN 2015: §50)
Abgesehen vom penetranten Gebrauch des Wortes „wir“ (wer ist gemeint? Die Regierungen? Oder die Gutwilligen? Oder die Menschheit?), der Aufruf ist hochgestimmt und nobel. Doch er kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier das ehemals mitreißende Leitbild „Entwicklung“ mehr oder weniger auf Überlebenssicherheit verengt wird. Etwa sieben Ziele sind der menschlichen Verwundbarkeit gewidmet (Beendigung der Armut, Ernährungssicherung, gesundes Leben für Alle, Bildung für Alle, Gleichstellung der Geschlechter, Wasser- und Sanitärversorgung, nachhaltige Energie für Alle) und fünf Ziele der ökologischen Verwundbarkeit (nachhaltige Städte, nachhaltige Konsum- und Produktionsweisen, Bekämpfung des Klimawandels, Erhaltung der Ozeane, Schutz der Landökosysteme). Damit werden menschenrechtliche Verpflichtungen und ökologische Imperative konkretisiert und mit Zielvorgaben unterlegt, nicht mehr und nicht weniger, aber von dem klassischen Narrativ „Entwicklung“ keine Spur.
Entwicklung mit Sicherheit gleichzusetzen, hatte sich übrigens in den 1990er Jahre eingebürgert. Für die alt-industriellen Länder färbte sich die Wahrnehmung der armen Länder um. Während sie vormals als Hoffnungsträger einer nachholenden Entwicklung betrachtet wurden, wandelten sie sich jetzt zu Risikozonen, gegen die Maßnahmen zur Krisenprävention getroffen werden müssten. Sie werden seitdem als Herkunftsorte für Arbeitssuchende und Flüchtlinge wahrgenommen, wenn nicht gar als Brutstätten für Destabilisierung und Terrorismus. Halbwegs reiche Länder versuchen, sich vor solcherart Bedrohungen zu schützen, indem sie Konfliktvorbeugung in ärmeren Ländern betreiben. In dieselbe Kategorie fallen heutzutage die Aussprüche der Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Flüchtlingskrise, wonach das Wohl Afrikas im deutschen Interesse liege (Die Zeit, 42/2016) und des Bayer-Chefs Werner Baumann, die geplante Übernahme von Monsanto diene dazu, den globalen Hunger zu bekämpfen (faz.net, 18.9.2016). Wie dem auch sei, die SDGs haben im Titel development – eine semantische Täuschung. Die Sustainable Development Goals hätten in Wirklichkeit SSGs heißen müssen – Sustainable Survival Goals.
Eine Welt statt Nord-Süd
In der Rückschau betrachtet, stellt der Millenniumsgipfel im Jahr 2000 nur den Abschluss des 20. Jahrhundert dar, keinen Vorgriff auf das 21. Jahrhundert. Damals, in New York, reproduzierte man das Schema der vergangenen 50 Jahre: die Welt, schön aufgeteilt nach Norden und Süden, wo sich die Geberländer zu den Empfängerländern beugten, um diese mit Kapital, Wachstum und Sozialpolitik für das globale Rennen wieder fit zu machen. Das Schema ist vertraut, es ist ein Sediment aus der Kolonialgeschichte. So war die „nachholende Entwicklung“ in den Nachkriegsjahrzehnten in aller Munde. Was ist aus dem Imperativ des catching up geworden? Einem Imperativ, der so fundamental ist für die Idee der Entwicklung?
Dazu ist es wert, eine Passage des Dokuments zu zitieren, mit dem die Nachhaltigkeitsziele verkündet wurden:
„Diese Agenda ist von beispielloser Reichweite und Bedeutung. Sie wird von allen Ländern akzeptiert und ist auf alle anwendbar... Ihre Ziele und Zielvorgaben sind universell und betreffen die ganze Welt, die entwickelten Länder wie die Entwicklungsländer.“ (VN 2015: §5)
Die SDGs beanspruchen, global und universell zu gelten. Deutlicher kann man den mentalen Bruch nicht formulieren: Die Geopolitik der Entwicklung, wonach die alt-industriellen Länder das Vorbild für die ärmeren Länder sein sollten, ist feierlich entsorgt worden. Wie viel an Planung und Passion, wie viel an Ressourcen und Romantik hat man aufgebracht, um den Traum des catching up zu verwirklichen! Säkulare Eschatologie, das war gestern. So wie 1989 die Ära des Kalten Krieges verwelkt war, so war 2015 der Mythos vom Aufholen dahin. Selten ist übrigens ein Mythos so formlos und noch dazu geräuschlos beerdigt worden wie dieser. Welchen Sinn macht Entwicklung, wenn es kein Land gibt, das man als entwickelt bezeichnen könnte? Da ist es keine Provokation mehr, wenn die Industriestaaten als Entwicklungsländer bezeichnen werden.
Darin drückt sich verspätet aus, dass das Zeitalter der Entwicklung vom Zeitalter der Globalisierung abgelöst worden war. Es hatte sich quer durch die Staaten eine transnationale Welt herausgebildet, verbunden mit Wertschöpfungsketten, gleichartigen Konsummustern und einem globalen Denkstil. Der Aufstieg der Schwellenländer und das Erstarken der globalen Mittelklasse legen dafür Zeugnis ab. Am spektakulärsten ist natürlich der Aufstieg Chinas, und vor allem sein hohes Tempo: Seit 2014 ist es die leistungsfähigste Wirtschaftsmacht der Erde, obwohl noch 2005 die Wirtschaft der USA doppelt so groß wie die Chinas war. Die sieben größten Schwellenländer sind inzwischen wirtschaftlich stärker als die alten Industriestaaten.
Ferner ist eine neue transnationale Mittelklasse zu der alten hinzugetreten. Zwischen 1990 und 2010 stieg der Anteil des Südens an der globalen Mittelklasse von 26 % auf 58 % und erreicht im Jahre 2030 wahrscheinlich 80 % (UNDP 2013). Sie shoppen in ähnlichen Einkaufszentren, kaufen High-Tech-Elektronik, sehen ähnliche Filme und TV-Serien, verwandeln sich hin und wieder in TouristInnen, und verfügen über das entscheidende Medium der Angleichung: Geld. Sie sind Teil eines transnationalen Wirtschaftskomplexes, der seine Absatzmärkte mittlerweile in globalem Maßstab entwickelt. Es ist Samsung, das sie überall mit Smartphones versorgt, und Toyota mit Autos, Sony mit Fernsehern, Siemens mit Kühlschränken, Burger King mit Fastfood und Netflix mit Filmen. Ein enormer Erfolg der Entwicklungsidee, ganz gewiss, doch erkauft, abgesehen von den kulturellen Kosten, mit dem weiteren Verschleiß der Biosphäre. Da gibt es nichts herumzudeuteln: Gegenwärtig führt ein erfolgreicher Ausstieg aus Armut und Machtlosigkeit schnurstracks zum Einstieg in die ökologische Raubökonomie.
Sozialindikatoren statt GDP
Kritische Anfragen, ob denn nicht die Zivilisationspolitik der Entwicklung in die Irre führe, hat es in Nachkriegsjahrzehnten immer wieder gegeben. Jedoch die Vorherrschaft gehörte fraglos einer magischen Zahl, dem BIP. Die Zahl stand Pate bei der Geburt der Entwicklungsidee, weil sie erlaubte, eine weltweite Rangordnung unter den Nationen vermeintlich objektiv herzustellen (Speich-Chassè 2013; Fioramonti 2013). Seit den 1970er Jahren hingegen bildete sich eine Dichotomisierung des Entwicklungsdiskurses heraus, welche die Entwicklung-als-Wachstum der Entwicklung-als-Sozialpolitik gegenüberstellt. Institutionen wie die Weltbank, IWF und Welthandelsorganisation huldigen der Idee der Entwicklung-als-Wachstum, während das UNDP (United Nations Development Programme), das UNEP (United Nations Environment Programme) sowie die meisten der NGOs sich der Idee der Entwicklung-als-Sozialpolitik verschrieben haben. So wurde der Begriff „Entwicklung“ zum Alleskleber, der die Anlage von Flughäfen ebenso umfasste wie das Bohren von Wasserlöchern. In dieser Tradition wurzeln die Millenniumsziele wie auch die SDGs.
Dabei erweist sich immer wieder, dass das Verhältnis von Sozialindikatoren und wirtschaftlichem Wachstum ein dorniges Feld ist. Die Agenda 2030 beklagt einerseits den Niedergang der Meeresökosysteme oder die Ausspreizung der Ungleichheit, aber andererseits ruft sie nach Wirtschaftswachstum (VN 2015: §8), für die ärmeren Staaten sogar nach einem von wenigstens 7 %, und bestätigt das multilaterale Handelsregime unter der WTO (ebd.: §68). Bewältigt werden soll die Spannung, ja geradezu Widersprüchlichkeit zwischen Wachstums- und Nachhaltigkeitszielen mit „inclusive growth“ und „green growth“. Dagegen pfeifen es die Spatzen von den Dächern, dass ein inklusives Wachstum, getrieben von den Finanzmärkten, ein Ding der Unmöglichkeit ist, weil es stets neue Ungleichheit produziert. Ähnliches gilt für die Losung vom grünen Wachstum. Dass das Wirtschaftswachstum, getrieben von fossilen Rohstoffen, angesichts der Grenzen der Erde mittelfristig ausgeschlossen ist, hat sich mittlerweile zu den G-7-Gipfeln der Industriestaaten durchgesprochen. 2015 wurde einmütig die Dekarbonisierung der Weltwirtschaft bis zum Jahrhundertende ins Auge gefasst. Aber die Rezepte für ein grünes Wachstum setzen alle auf eine Entkopplung von Naturverbrauch und Wirtschaftswachstum, obwohl historisch eine absolute Entkoppelung, d.h. sinkender Ressourcenverbrauch auch bei steigendem BIP, noch nicht vorgekommen ist (Jackson & Webster 2016). Maßvoller Wohlstand ohne Wachstum, davon wagt die Agenda 2030 nicht zu sprechen, selbst nicht für die alten Industrieländer.
Auch sonst lässt sich das Entwicklungsdenken nicht unterkriegen. Denn statt der BIP-Zahlen treten nun Sozialindikatoren an ihre Stelle, um die Leistung eines Landes in zahlreichen Dimensionen abzubilden. Weswegen sich die StatistikerInnen aller Länder vereinen, um die data revolution auszurufen. Um einen Report an den UN-Generalsekretär zur Vorbereitung der Nachhaltigkeitsziele zu zitieren:
„Die Herzstücke der Entscheidungen sind die Daten. Ohne Daten können wir nicht wissen, wie viele Kinder geboren wurden und im welchen Alter sie sterben; wie viele Männer, Frauen und Kinder noch in Armut leben ... ob die Treibhausgase zunehmen oder die Fischbestände in den Meeren gefährlich niedrig sind; wie viele Menschen in welchen Arbeitsverhältnissen, welche Unternehmen in welchen Handelsbeziehungen und ob die wirtschaftlichen Aktivitäten zugenommen haben oder nicht.“ (UN Secretary-General’s Independent Expert Advisory Group 2014, eigene Übersetzung)
Die Daten-Revolutionäre müssen sich an dem Diktum von Lord Kevin abarbeiten, wonach man nur das verbessern kann, was man vorher gemessen hat. Dank der digitalen Technologien steht derzeit das Monitoring zahlreicher Lebensbereiche vor einer Umwälzung. So werden komplexe Bereiche wie Schulbildung oder das Gesundheitswesen, der Zustand der Meere oder die Ernährungssituation quantifiziert, in Indizes gefasst und mit anderen Datensätzen verglichen.
Zahlen vereinfachen, Quantifizierung reduziert Komplexität. So können sie den politischen Akteuren, Regierungen wie NGOs, als Kurzformeln nützen (Fioramonti 2014). Doch hinter den Kurzformeln steckt immer eine Geschichte, verbirgt sich womöglich ein ganzes Panorama von sozialen Auseinandersetzungen und kulturellen Weltbildern und Praktiken. Deshalb wohnt den Zahlen ein enormer Homogenisierungseffekt inne. Die immensen Unterschiede in der Welt schnurren auf eine Skala von Nummern zusammen. Außerdem schafft es diese Datenrevolution nicht, aus dem Schatten des entwicklungspolitischen Credos herauszutreten. Im Gegenteil: das Entwicklungsdenken lebt von der Diktatur des Vergleichs. Wo immer man hinschaut, die Daten haben den Sinn, Vergleiche in Zeit und Raum anzustellen. Vergleiche legen Defizite bloß. Defizite in der Welt abzubauen, das hingegen ist seit 70 Jahren Sache der Entwicklung. So ist auch der Human Development Index ein Defizitindex; er stuft Länder hierarchisch ein und unterstellt damit, dass es nur eine bestimmte Art der sozialen Evolution gibt. Die SDGs stehen in dieser Tradition, mit Skalen und Indizes der 17 Ziele und 169 Unterziele. Weil Zahlen das Skelett einer multi-dimensionalen Entwicklung sind, führt die Agenda 2030, jenseits aller hehren Ziele, zur weiteren Vermessung der Welt.
Laudato si’ – Abkehr vom Entwicklungsdiskurs
Am Abend des 13. März 2013 überraschte Papst Franziskus, von der Loggia des Petersdoms aus, die tausendköpfige Menge mit dem Gruß: „Buona sera!“ Nichts Lateinisches, nichts Zeremonielles, der frisch gekürte Papst hatte gleich bei seiner ersten Äußerung einen Ton der Bodenständigkeit und Brüderlichkeit getroffen. Und im zweiten Satz, etwas linkisch zwar, aber mit weit ausholender Geste, tätigte er einen Ausspruch, der sein Pontifikat bestimmen sollte:
„Es scheint, meine Mitbrüder, die Kardinäle, sind fast bis ans Ende der Welt gegangen, um (mich) zu holen...“ In der Tat, Franziskus ist Argentinier und der erste Nicht-Europäer auf dem Stuhle Petri, noch dazu aus der südlichen Hemisphäre. Seine Nonchalance gegenüber den Fragen der Dogmatik und des Kirchenrechts, sein Nachdruck auf barmherzige Praxis gegenüber den Armen, den Flüchtlingen und anderweitig Ausgeschlossenen, und nicht zuletzt seine Betroffenheit von der Zerstörung der Umwelt, all das kann man nicht ohne seinen lateinamerikanischer Hintergrund verstehen.
Ein systemischer Blick: Interdependenz alles Lebendigen
Mit der Enzyklika Laudato si’ vom Juni 2015 hat Papst Franziskus seine Sicht auf die Welt feierlich verkündet, mit großer Anteilnahme der Weltöffentlichkeit. Kann man die Weltsicht des Papstes unter die Rubrik des post-development einordnen? Liest man die Enzyklika mit den Augen eines Entwicklungsexperten, so macht man eine paradoxe Erfahrung: Die ExpertInnen sind voller Zustimmung, obwohl die Entwicklungsidee gar keine Rolle spielt. Vielleicht sind sie von der unkonventionellen Sprache überrascht, dennoch führt kein Weg an der Einsicht vorbei, dass „Entwicklung“ als Chronopolitik in der Enzyklika keinen Platz findet. Fortschritt findet nicht statt, ganz zu schweigen von den Verheißungen der Zukunft. Man hat den Eindruck, als ob der Zeitpfeil, der für zwei Jahrhunderte die geschichtliche Wahrnehmung geprägt hat, ausgestorben wäre. Kein Fortschrittsoptimismus, keine lineare Verbesserung und keine mitreißenden Erwartungen mehr, nur nüchterne, aber doch nuancierte Betrachtung der Gegenwart. Der Zeitpfeil wird im päpstlichen Rundbrief vom Raumbewusstsein abgelöst. Im derzeitigen globalen Denkstil nämlich hat sich der Vorrang des Raums über die Zeit etabliert, die Kombination von Dingen im virtuellen oder geografischen Raum ist wichtiger als deren Abfolge in der Zeit. Dieser epochale Bewusstseinswandel ist übrigens auch ein Grund für das Verblassen des Entwicklungsgedankens.
Wie dem auch sei, die Enzyklika ist entschieden raumbezogen, sie stellt das mit dem Untertitel schon klar: „Über die Sorge für das gemeinsame Haus“. Dreh- und Angelpunkt ist die Verwundbarkeit der Schöpfung. Sie beklagt die mannigfachen Verletzungen der Natur wie die massenhafte Herabwürdigung von Menschen, und steht damit in einer Reihe mit den Themen, die auch die SDGs als Aufgabe begriffen haben. Ebenfalls hört sie auf „die Klage der Armen ebenso … wie die Klage der Erde“. (Franziskus 2015a: §49), nur dass sie auf Heilung setzt und nicht auf Management. Papst Franziskus hat eine franziskanische Version der Schöpfungslehre parat, wonach das eigentliche Thema der Ökologie sei, die Mitgeschöpflichkeit aller Lebewesen und die Verantwortung des Menschen darin anzuerkennen. Unverkennbar von dem Brasilianer Leonardo Boff beeinflusst (Boff 1997), hat der Papst eine eher horizontale Vorstellung von der Schöpfung, die sich von der hierarchischen Auffassung absetzt, wonach der Mensch die Krone der Schöpfung sei. Dabei sind die Verletzungen von Natur und Mensch über alles Physische hinaus als spirituelle Frevel gegen die systemische Verbundenheit aller Lebewesen zu sehen. Überhaupt kann man die ganze Enzyklika als declaration of interdependence lesen, was die declaration of independence in der nationalstaatlichen Ära ablösen würde. Wenn man eine Zeitdimension hinzufügen möchte, dann könnte man sagen, die Enzyklika ist zur Verhütung der unwirtlichen Zukunft geschrieben. Damit ist die Entwicklungsidee auf dem Kopf gestellt.
Ohne Umkehr der Reichen keine Gerechtigkeit
Wie die Chronopolitik, so glänzt auch die Geopolitik der „Entwicklung“ durch Abwesenheit. In der Enzyklika findet man das Nord-Süd-Schema gerade mal in den Abschnitten (§170-175), wo es um internationalen Ausgleich der Reduktionslasten und der Finanzierung in der Klimapolitik geht. Sonst gilt überall das umfassende Prinzip: „Die Interdependenz verpflichtet uns, an eine einzige Welt, an einen gemeinsamen Plan zu denken.“ (Franziskus 2015a: §164) Das ist, wohlwollend betrachtet, ganz nahe bei den SDGs, beide Dokumente wollten mit der Geopolitik der Entwicklung nichts zu tun haben.
Im Kontrast zu den SDGs geht dagegen die Enzyklika davon aus, dass die Ausplünderung des Planeten schon ökologische Grenzen überschritten hat, ohne freilich das Armutsproblem gelöst zu haben (ebd.: §27). Das ist das Megadilemma unserer Tage. Die Agenda 2030 ist dagegen weit davon entfernt, dieses Dilemma voll ins Auge zu fassen. Die Nutzung der Erde ist drastisch überdehnt, nach den Berechnungen des Global Footprint Network verbraucht die Menschheit jedes Jahr das 1,7-fache der Biosphäre. Leergefischte Meere, durchlöcherte Tier- und Pflanzenwelt wie auch das Klimachaos sind davon Zeugen (GFN 2018). Indem die Agenda 2030 (und mit ihr die SDGs) diese globalen Grenzen vernachlässigt, rettet sie das industrielle Wachstumsmodell. Der Schutz des Wachstums hat Vorrang gehabt gegenüber dem Schutz der Natur, das ist stets die alte Leier, von der UN-Umweltkonferenz im Jahr 1972 über den Brundtland-Report im Jahr 1987 bis hin zu der Agenda 2030. Nicht so der Papst: Er spricht von Grenzen, ökologischen wie auch sozialen, er macht das industrielle Wachstumsmodell für zahlreiche Fehlentwicklungen verantwortlich (Hickel 2015). An einem gewissen Punkt versteigt sich er sogar dazu, „degrowth“ für wohlhabende Zonen der Erde zu empfehlen (Franziskus 2015a: §193). Er ist, in anderen Worten, ein Protagonist allenfalls der reduktiven und keinesfalls der expansiven Moderne (Sommer & Welzer 2014).
Da immer mehr Menschen die begrenzte Erde bewohnen, wird die soziale Ungleichheit zu einem ökologischen Problem. Die Reichen brauchen gewöhnlich mehr Naturressourcen auf, die dann den Armen nicht mehr zur Verfügung stehen. Hoher Fleischverbrauch zum Beispiel bedingt weniger Ackerflächen für menschliche Nahrung, Vollmotorisierung bedeutet weniger Platz für FußgängerInnen wie für RadfahrerInnen und bedingt Erzabbau und Ölförderung. Und der massenhafte Gebrauch von Computern wie Smartphones beansprucht Strom, seltene Erden und andere Materialien und ist obendrein noch mit Bergbau sowie mit schlechten Arbeitsverhältnissen verknüpft. Kurz gesagt, die globalen Mittel- und Oberklassen aus den Industrie- wie Schwellenländern pflegen mehr oder weniger eine imperiale Lebensweise (Brand & Wissen 2017).
Während die Agenda 2030 bei Ziel 12 Für nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster sorgen hauptsächlich auf die Effizienz im Ressourceneinsatz abhebt und damit noch hinter die Agenda 21 von Rio aus dem Jahr 1992 zurückfällt, setzt Laudato si’ auf Suffizienz der Reichen. Vor derselben Vollversammlung, die dann die Agenda 2030 beschloss, führte der Papst aus:
„Der Missbrauch und die Zerstörung der Umwelt gehen zugleich mit einem unaufhaltsamen Prozess der Ausschließung einher. Tatsächlich führt ein egoistisches und grenzenloses Streben nach Macht und materiellem Wohlstand dazu, sowohl die verfügbaren materiellen Ressourcen ungebührlich auszunutzen als auch die auszuschließen, die schwach und weniger tüchtig sind... Die Ärmsten sind diejenigen, die am meisten unter diesen Angriffen leiden.“ (Franziskus 2015c)
Es geht darum, den Machtlosen mehr Freiheit einzuräumen, indem die Wohlhabenden davon ablassen, sich die Umwelt der Armen anzueignen. Das kann man besonders schön sehen, wie die Enzyklika über zwei, drei Seiten hinweg mit dem Begriff „ökologische Schulden“ operiert (Franziskus 2015a: §51). Die Wohlhabenden im globalen Norden haben sie angehäuft und das Bewusstsein davon verdrängt. Mehr als andere zahlen die Armen den Preis des Wohlstands im globalen Norden. Vielleicht könnte man die Forderung nach mehr Suffizienz in der Ökonomie so auffassen: alles daran zu setzen, nicht auf Kosten von anderen Menschen und Mitgeschöpfen leben zu wollen.
Gemeinwohl gegen Kapital
Die Enzyklika, zivilisationspolitisch gesehen, tritt dafür ein, das Gemeinwohl in den verschiedenen Gesellschaften zur Blüte zu bringen. Dazu gehört nicht nur traditionellerweise das politische und soziale Wohl, sondern auch das ökologische Wohl. Sie erklärt:
„Die Unterwerfung der Politik unter die Technologie und das Finanzwesen zeigt sich in der Erfolglosigkeit der Weltgipfel zu Umweltfragen. Es gibt allzu viele Sonderinteressen, und leicht gelingt es dem wirtschaftlichen Interesse, die Oberhand über das Gemeinwohl zu gewinnen und die Information zu manipulieren, um die eigenen Pläne nicht beeinträchtigt zu sehen.“ (ebd.: §54)
Immer wieder attackiert Papst Franziskus die Machtinteressen des Wirtschafts- und Finanzsystems, die das Gemeinwohl durchlöchern und missachten (vgl. auch Duchrow 2017).
„Wenn das Kapital sich in einen Götzen verwandelt und die Optionen der Menschen bestimmt, wenn die Geldgier das ganze sozioökonomische System bevormundet, zerrüttet es die Gesellschaft, verwirft es den Menschen, macht ihn zum Sklaven, zerstört die Brüderlichkeit unter den Menschen, bringt Völker gegeneinander auf und gefährdet – wie wir sehen – dieses unser gemeinsames Haus, die Schwester und Mutter Erde“, so Franziskus in Bolivien im Juli 2015 (2015b).
Das hebt sich wohltuend von der Agenda 2030 ab, denn diese geht überhaupt nicht auf die Gründe der ständigen Reproduktion der Armut und des Niedergangs der Biosphäre ein, welche nunmehr sustainable development goals unerlässlich machen. Ursachen zu vernachlässigen, das ist für UN-Dokumente typisch und für die Regierungen bequem, aber für jegliche Therapie fatal.
Außerdem setzt die Enzyklika zu einer Tiefenbohrung an und rügt das technokratische Paradigma, das für die Moderne verhängnisvoll sei. Einerseits haben Wissenschaft und Technik für den Menschen unerhörte Macht gebracht, andererseits hat sich der Mensch Mal für Mal als unfähig erwiesen, mit der Macht vernünftig umzugehen. Der sagenhafte Zugewinn an Macht sei ohne Verantwortung und Weitblick geblieben. Der instrumentelle Blick verwandelt zu viele Dinge, Menschen und andere Lebewesen in bloße Mittel, um immer spezifischere Ziele zu erreichen, und das sei der Grund, warum die Entwertung der Welt fortschreitet und zudem das Ganze in den Entscheidungen der Gesellschaft systematisch zu kurz kommt. Man hört in der Enzyklika noch einen Nachhall auf die phänomenologische und kritische Philosophie des 20. Jahrhunderts, von Heidegger bis Horkheimer.
In der Tat durchzieht ein starker Hang von Anti-Utilitarismus die ganze Enzyklika. Die Natur ist primär keine Ressource wie in der Moderne, sie ist zuallererst ein Geschenk Gottes, für Nicht-Glaubende ein Gemeingut. Der Papst stellt den „exzessiven Anthropozentrismus“ an den Pranger, und spricht dem Menschen ab, das alleinige Nutzrecht über die Erde zu haben. Ein Nutzungsrecht haben die Ameisen und Affen, ja sogar die Meere und die Wüsten auch. Alle Lebewesen haben Existenzrechte, ganz unabhängig von menschlichen Zwecken, „Bei den anderen Geschöpfen könnte man von einem Vorrang des Seins vor dem Nützlichsein sprechen... Jedes Geschöpf besitzt seine eigene Güte und Vollkommenheit.“ (Franziskus 2015a: §69) Die Geschöpfe haben ihre eigene Würde, die Idee des Existenzwerts (gegenüber dem Gebrauchs- und dem Tauschwert) hat starke christliche Wurzeln.
Kann das technokratische Paradigma überwunden werden? Sicher, meint der Papst, durch eine mutige „kulturelle Revolution“ (ebd.: §114). Die menschliche Freiheit vermag demnach die Technik zu beschränken und sie auf lebensdienliche Ziele zu orientieren. In der Enzyklika kann man Beispiele finden: erneuerbare Energie, clean production, soziale Investitionen, fairer Handel, einfacher Lebensstil. Sie wirbt für ein reflexives Handeln, das stets die Verantwortung für das Ganze miteinbezieht, das Ganze der Natur wie der Menschen. Und sie verwirft die institutionellen Routinen wie die habituelle Blindheit der EntscheidungsträgerInnen, die das nicht erlauben.
Ausblick
Wenn man diese beiden Dokumente des Jahres 2015, nämlich die Agenda 2030 der Vereinten Nationen und die Enzyklika Laudato si’ von Papst Franziskus, in einem Punkt zusammenfassen will, dann kann man sagen: Verpufft ist die Entwicklungsbegeisterung des 20. Jahrhunderts, jetzt geht es darum, mit dem Untergang der expansiven Moderne fertig zu werden. Wie im Westen, so auf Erden, das war die Botschaft des vorigen Jahrhunderts. Doch jetzt hat sie sich als Drohung entlarvt. Zusehens befindet sich die Welt am Abgrund: Die Biosphäre wird zerrüttet, während obendrein sich die Kluft zwischen Arm und Reich, unter wechselnden Formen, noch verschärft hat. So kommen beide Positionen darin überein, dass nunmehr das globale Wirtschaftsmodell zum alten Eisen zählt. Groß sind dagegen auch die Unterschiede. Während die Agenda 2030 dem globalen Wirtschaftsmodell starke Korrekturen verpassen will, plädiert die Enzyklika dafür, die Hegemonie des Ökonomischen zurückzudrängen und fordert mehr ethische Verantwortung auf allen Ebenen ein. Dabei setzt die Agenda 2030 auf eine green economy mit sozialdemokratischem Einschlag, wogegen die Enzyklika sich ein post-kapitalistisches Zeitalter vorstellt, gestützt auf einen öko-solidarischen Mentalitätswandel.
Die expansive Moderne ist erschöpft. Je mehr sich diese Einsicht weltweit durchsetzt, desto mehr verblasst die Rede von der Entwicklung und mithin auch die Rede von post-development. So werden die Probleme der Gesellschaften nicht mehr als Entwicklungsprobleme gefasst, sondern die Denkrahmen wandeln sich. Wenn nicht alles täuscht, lassen sich grob drei Narrative ausmachen: die Narrative der Festung, des Globalismus und der Solidarität (Raskin 2016). Das Festungsdenken lebt von einem Gemisch aus Nationalismus, Xenophobie sowie Autoritarismus und ist mit einer gehörigen Prise an Wohlstandschauvinismus gewürzt. Es bedient häufig die Sehnsucht nach einem „starken Mann“, mit dem sich die sozial abgehängten Teile der Bevölkerung identifizieren können. Dagegen huldigt das Globalisierungsnarrativ dem wirtschaftlichen Wachstum weltweit, von dem man sich trotz allem mehr Wohlstand verspricht. Aber es räumt der multilateralen Governance und überhaupt der Politik mehr Platz ein als in neo-liberalen Zeiten. Die Agenda 2030 fügt sich weitgehend in diesen Denkrahmen. Als Opposition zum Festungsdenken wie zum Globalisierungsnarrativ versteht sich die öko-solidarische Ethik. Diese wirbt für einen Kulturwandel, lokal wie global, untermauert von kooperativen Wirtschaftsformen und gemeinwohlorientierter Politik. Um der Fairness willen geht es hauptsächlich um eine Abwicklung der imperialen Lebensweise der transnationalen Mittelklasse. Fraglos gehört die päpstliche Enzyklika in diese Rubrik. Um diesen paradigmatischen Streit über die Grundrichtungen der Politik dreht es sich in den nächsten Jahrzehnten. Dabei rückt „Entwicklung“, ähnlich wie Monarchie oder Feudalismus, immer weiter in den Dunst der Geschichte. Es ist demnach an der Zeit, dass jemand, nachdem wir vor 25 Jahren das Ende des Entwicklungszeitalters beschworen haben, das Ende der Rede vom post-development ausrufen sollte.
Literatur
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Anschrift des Autors:
Wolfgang Sachs
wolfgang.sachs@wupperinst.org
Peripherie, Nr. 150/151, 38. Jg., 2/2018, Verlag Barbara Budrich, Leverkusen.