Legal, illegal ...
Das ist deutsch-afghanische Kriegsrealität im Herbst 2009: Ein deutscher Oberst befiehlt den Tod von bis zu 142 Menschen und kurze Zeit später tragen deutsche Soldaten in ihrem Hauptquartier in Masar-i-Scharif T-Shirts mit der Abbildung von brennenden Tanklastzügen und der höhnischen Aufschrift: „Du sollst nicht stehlen." Zwar hat die Bundeswehr zwischenzeitlich das Tragen dieser makabren T-Shirts verboten, dabei ging es aber eher um die Vermeidung noch schlechterer Presse an der Heimatfront als um Rücksicht auf die Gefühle der Angehörigen der Opfer. Die Produzenten des T-Shirt hatten ihr englischsprachiges Zitat aus dem Alten Testament ergänzt um die entsprechende Quellenangabe „Exodus 2.15". In Soldatenblogs wird dies mit „Verbreitung christlicher Werte" kommentiert. Das Gebot aus Exodus 2,13 „Du sollst nicht morden" ist allerdings nicht nur für die zynischen Soldaten, sondern auch für die Bundeswehrführung aus dem Blickfeld verschwunden.
Mehr als acht Jahre Krieg und Besatzung haben Afghanistan noch weiter destabilisiert und noch ärmer gemacht als schon zuvor. Und sie führten offensichtlich in schlechter alter Soldatentradition zu einer massiven Verrohung der Soldaten. Sowohl die konkreten Vorgänge rund um das Massaker des 4. September 2009 als auch das grundsätzliche politische und rechtliche Dilemma der deutschen Militärpolitik in Afghanistan verdienen eine genauere Analyse.
Wenige Antworten und viele offene Fragen
Auf einer Sandbank des Flusses Kundus steckten in der Nacht vom 3. auf den 4. September zwei Tanklastzüge fest, nachdem sie zuvor von Aufständischen entführt worden waren. Auf Anforderung des deutschen Oberst Georg Klein wurden diese Fahrzeuge bombardiert. In der dadurch ausgelösten Feuerhölle verbrannten wahrscheinlich 142 Menschen, darunter viele ZivilistInnen. Das Rote Kreuz wies die Verantwortlichen in einem vertraulichen Bericht darauf hin, dass unter den Toten auch zahlreiche Kinder im Alter von acht, zehn und zwölf waren. Selbst im kriegsgeschüttelten Afghanistan ist dies eine ungewöhnlich hohe Opferbilanz für eine Nacht. Mit mehr als drei Monaten Verzögerung hat die Bundesregierung nun endlich angekündigt, die Angehörigen der Opfer wenigstens entschädigen zu wollen, natürlich erst dann, wenn deren Ansprüche als „berechtigt" eingestuft werden und die Toten keine „Taliban" waren. Das Entscheidungsgremium, das zusammen mit Oberst Klein den Einsatzbefehl vorbereitete, war die so genannte Task Force 147. Eine kleine Gruppe von militärischen Experten, zu denen Angehörige der Elitetruppe Kommandospezialkräfte (KSK) und möglicherweise auch Geheimdienstmitarbeiter gehörten. Informationen aus den geheimen NATO-Berichten deuten darauf hin, dass es nicht, wie ursprünglich behauptet, darum ging, das sechs Kilometer entfernte Bundeswehrlager vor einem Anschlag mit den Tanklastzügen zu schützen, ja dass es nicht einmal um die Tanklastzüge selbst ging, sondern um gegnerische Anführer, die bei den Lastzügen vermutet wurden. Damit war das Ziel der Bombardierung wahrscheinlich die gezielte Tötung von Verdächtigen. Ein solches „Targeting" ist völkerrechtswidrig und nicht durch das Mandat der Bundeswehr abgedeckt. Dennoch gehören Targeting-Verfahren zu den Grundlagen des NATO-Krieges in Afghanistan, die in einem geheimen ISAF-Operationsplan geregelt werden, dem alle beteiligten Staaten, auch Deutschland, zugestimmt haben. Diese Problematik ist nicht neu, bereits vor zwei Jahren wies der Focus-Korrespondent Thomas Wiegold in seinem Artikel „Im Zweifel töten" (17.12.2007) darauf hin und zitierte einen Rechtsberater des deutschen ISAF-Kontingentes, der feststellt, dass sich „die Vorgaben in Bezug auf das Targeting-Verfahren durch ISAF-Hauptquartier und Nato nicht ohne weiteres mit den deutschen Vorbehalten in Einklang bringen lassen". Damals ging es „nur" um die deutsche Beteiligung an der Zielauswahl, heute geht um den direkten Schießbefehl, aber die Grundfrage bleibt die selbe. Deutsche Politiker wollen, dass sich ihre SoldatInnen am Schießen und Töten beteiligen, aber die rechtliche Grundlage dafür ist ihnen offensichtlich weitgehend egal. Wahrscheinlich weil es ohnehin nicht möglich ist, „rechtskonforme" Kriege zu führen, was natürlich für eine Bundesregierung, die andererseits gerne „Rechtsstaatlichkeit" überall hin exportieren möchte, sehr unbequem ist.
Gewollte rechtliche Grauzonen
ZivilistInnen, die sich Treibstoff aus den Tanklastzügen holen wollten, mussten sterben, weil die Bundeswehr offensichtlich ihre militärischen Gegner in der Menschenansammlung vermutete und diesen nicht durch eine Warnung die Chance zur Flucht gegeben werden sollte. Rein militärisch mag das plausibel klingen. Ein Verstoß gegen das Kriegsvölkerrecht, das die unverhältnismäßige und unterschiedslose Gefährdung von ZivilistInnen untersagt, wäre es dennoch. Nach NATO-Regeln wäre dieser Angriff auf ein als militärisch definiertes Ziel im Zuge des oben erwähnten Targeting-Verfahrens zwar theoretisch möglich gewesen, jedoch nur wenn das NATO-Hauptquartier dies explizit angeordnet hätte, was nicht geschah. Allerdings ist eine solche gezielte Tötung feindlicher Kämpfer völkerrechtlich höchstens dann möglich, wenn es sich um einen so genannten „internationalen bewaffneten Konflikt" handelt, jedoch gilt auch dann das Kriegsvölkerrecht. Und das Kriegsvölkerrecht räumt dem Schutz der ZivilistInnen in Konflikten einen hohen Stellenwert ein. Deswegen ist der unterschiedslose Angriffe auf Kombattanten und ZivilistInnen nicht erlaubt. Die NATO trägt diesen Vorgaben in ihren Einsatzregeln in soweit Rechnung, dass sie bei Luftnahunterstützung in der Regel eine Warnung für ZivilistInnen gibt. Die zwei Piloten, die am 4. September im Einsatz waren, hatten dies ebenfalls vor und fragten deswegen mehrfach nach, ob sie nicht zuerst einen so genannten „Show of Force"-Einsatz durchführen sollten. Damit ist ein Tiefflug über dem Einsatzgebiet gemeint, ohne zu bombardieren, wodurch ZivilistInnen signalisiert wird, dass mit einem Bombardement zu rechnen ist, und zumindest eine theoretische Chance bestanden hätte, sich aus der Nähe der Tanklastzüge zu entfernen. Oberst Klein lehnte eine solche vorherige Warnung jedoch explizit ab, was sich aus dem Charakter der Task Force 147 erklären lässt, die offensichtlich konkrete „Gegner" eliminieren wollte, die wahrscheinlich schon längere Zeit von KSK-Soldaten ausgespäht worden waren. Die internationale Schutztruppe ISAF befindet sich laut ihrem Mandat in einem „nicht-internationalen bewaffneten Konflikt" und dort ist die gezielte Ausschaltung von unbewaffneten Gegnern nicht erlaubt - selbst dann, wenn keine ZivilistInnen in der Nähe sind. Es ist also gut möglich, dass bei dem „Vorfall" durch die Bundeswehr sowohl das Völkerrecht verletzt als auch die Grundlagen des ISAF-Mandates verlassen wurden. Wenn deutsche Politiker nun häufiger von Krieg reden, dann kann dahinter auch die Absicht stehen, diese rechtlichen Unterschiede zu verdecken.Erhalt der militärischen Handlungsfähigkeit
Der Angriff auf die Tanklastzüge war wohl die verheerendste und tödlichste Operation, an der deutsche Soldaten seit dem Zweiten Weltkrieg beteiligt waren. Der Beschuss der Tanklastzüge war jedoch nicht das erste und nicht das letzte Mal, dass Bundeswehreinheiten Unterstützung aus der Luft angefordert haben. Spätestens seit die Bundeswehr im Norden Afghanistans die Quick Reaction Force (QRF), eine schnelle Eingreiftruppe, stellt und immer mehr und immer offensiver das Gefecht mit aufständischen Gruppen sucht, gerät sie auch in Situationen, die allein mit Bodentruppen nicht mehr zu bewältigen sind. In diesen Situationen fordern Soldaten dann NATO-Luftunterstützung an. Was häufig bedeutet, dass vermeintliche Stellungen von feindlichen Kämpfern aus der Luft bombardiert werden, die sich später als Höfe oder Dörfer herausstellen. Die UNAMA weist in ihren Berichten1 darauf hin, dass knapp zwei Drittel der zivilen Opfer, für die die Koalitionstruppen verantwortlich sind, solchen „Luftschlägen" zum Opfer fallen. Dass die nachgewiesene Beteiligung deutsche Soldaten an solchen Verbrechen nicht zu einem grundsätzlichen Nachdenken über diesen Krieg geführt hat, ist bezeichnend. Denn es geht nicht um die Vermeidung von Opfern, sondern um den Erhalt der militärischen Handlungsfähigkeit der Truppe. Es fällt dem neuen Propagandabeauftragten der Bundeswehr Guttenberg zwar schwer, explizit zu sagen, er wäre stolz auf die Bundeswehr, aber er kam diesem während einer Bundestagsdebatte sehr nahe: „Für ein Bekenntnis zu unserer Bundeswehr, auch und gerade zu einer solchen im Einsatz, muss man sich in diesem Lande nun wirklich nicht schämen." Bei einem Kurzbesuch in Afghanistan Mitte Dezember legte Guttenberg seine Linie weiter fest, indem er forderte, „der anberaumte Untersuchungsausschuss (dürfe) nicht zur Diskreditierung der Soldaten führen" (afp, 12.12.2009). Aus militärischer Sicht ist es wünschenswert und nötig, dass SoldatInnen in einem Krieg möglichst wenige Skrupel beim Schießen und Töten haben. Mögliche staatsanwaltschaftliche Ermittlungen oder gar Verurteilungen zügeln die Schießbereitschaft merklich. Vor diesem Hintergrund ist die geplante Einrichtung einer „Schwerpunktstaatsanwaltschaft" zu sehen. Schließlich wolles es die Bundeswehr und die Bundesregierung nicht riskieren, dass gegen immer mehr Soldaten monate- oder jahrelang ermittelt wird und so „Unsicherheit" unter den Soldaten entsteht. Zukünftig soll das Ganze schnell und möglichst reibungslos mit einer Art Sondergerichtsbarkeit für SoldatInnen abgewickelt werden. Doch bereits heute werden SoldatInnen von den Staatsanwaltschaften recht großzügig behandelt. Bei „Gefechtssituationen" wird in der Regel die Ermittlung vor der Eröffnung eines Verfahrens eingestellt.Gegen Kriegswahnsinn und neue Heldenmythen
Dass nun immer neue Bruchstücke über das grausame Gesicht deutscher Kriegsbeteiligung an die Öffentlichkeit kommen, hat natürlich etwas mit dem Bemühen des angeschlagenen Verteidigungsministers zu Guttenberg zu tun, sein Image als Saubermann wieder herzustellen, aber wahrscheinlich noch mehr damit, dass zur Zeit ein CDU interner Machtkampf zwischen Koch und Merkel ausgetragen wird. Diese Absurditäten bundesdeutscher Machtpolitik führen dazu, dass die Lüge vom deutschen „bewaffneten Entwicklungshilfeeinsatz" nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Die Luft für die KriegsbefürworterInnen wird dünner und die Umfrageergebnisse für den ISAF-Einsatz werden immer schlechter, nur noch 27% halten ihn nach Deutschlandtrend im Dezember 2009 noch für sinnvoll. Dennoch ist weiterhin kein Ende des Krieges in Sicht. Es ist im Gegenteil mit einer massiven Eskalation zu rechnen. Die USA haben beschlossen, weitere 30.000 SoldatInnen nach Afghanistan zu schicken, die NATO-Verbündeten haben mindestens 7.000 weitere SoldatInnen versprochen. Die deutsche Regierung plant eine Erhöhung ihres Beitrages von 4.500 auf vielleicht 7.000 Soldaten nach der Afghanistankonferenz Ende Januar 2010. Doch bereits jetzt stehen im Land am Hindukusch mehr als 110.000 SoldatInnen. Damit hat die NATO das Niveau der Truppenpräsenz erreicht, das die Sowjetunion 1989, am Ende ihrer zehnjährigen Besatzung, hatte. Wahrscheinlich war dieser gigantische Militäraufwand mitverantwortlich für den Zusammenbruch der Sowjetunion und des Warschauer Pakts. Es ist durchaus denkbar, dass das Scheitern in Afghanistan auch das Ende der NATO bedeuten wird - worüber die Autorin dieses Artikel ganz sicher nicht traurig wäre. Die Aufgabe der KriegsgegnerInnen in Deutschland und in den anderen NATO-Staaten ist es jedoch, nicht zu warten, bis Tausende von weiteren Toten in Afghanistan den Preis des Krieges in unakzeptable Höhen treiben, sondern so schnell wie möglich den politischen Preis an der „Heimatfront" zu erhöhen. Dazu ist breiter, entschiedener und unüberhörbarer Protest nötig, gegen Kriegswahnsinn und neue Heldenmythen.Claudia Haydt
Kontakt: www.imi-online.de
Anmerkung: 1 Zuletzt: UNAMA, A F G H A N I S T A N Mid Year Bulletin on Protection of Civilians in Armed Conflict, 2009, S.10
Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 345, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, 39. Jahrgang, Januar 2010, www.graswurzel.net