Deutsche Kriegspolitik in Afghanistan

Legal, illegal ...

Die Informationsstelle Militarisierung (IMI) will mit Informationsarbeit friedliche Konfliktlösungsmöglichkeiten fördern und Aufklärungsarbeit gegen die schleichende Militarisierung leisten. Die Soziologin Claudia Haydt ist Mitglied im Vorstand des gemeinnützigen IMI-Vereins. Für die LeserInnen der Graswurzelrevolution analysiert sie die aktuelle Entwicklung der deutschen Afghanistan-Kriegspolitik. (GWR-Red.)

 

Das ist deutsch-afghanische Kriegsrealität im Herbst 2009: Ein deutscher Oberst befiehlt den Tod von bis zu 142 Menschen und kurze Zeit später tragen deutsche Soldaten in ihrem Hauptquartier in Masar-i-Scha­rif T-Shirts mit der Abbildung von brennenden Tanklastzü­gen und der höhnischen Aufschrift: „Du sollst nicht stehlen." Zwar hat die Bundeswehr zwischenzeitlich das Tragen dieser makabren T-Shirts verboten, dabei ging es aber eher um die Vermeidung noch schlechterer Presse an der Heimatfront als um Rücksicht auf die Gefühle der Angehörigen der Opfer. Die Produzenten des T-Shirt hatten ihr englischsprachiges Zitat aus dem Alten Testament ergänzt um die entsprechende Quellenangabe „Exodus 2.15". In Soldatenblogs wird dies mit „Verbreitung christlicher Werte" kommentiert. Das Gebot aus Exodus 2,13 „Du sollst nicht morden" ist aller­dings nicht nur für die zynischen Soldaten, sondern auch für die Bundeswehrführung aus dem Blickfeld verschwunden.

Mehr als acht Jahre Krieg und Besatzung haben Afghanistan noch weiter destabilisiert und noch ärmer gemacht als schon zuvor. Und sie führten offensichtlich in schlechter alter Soldatentra­dition zu einer massiven Verrohung der Soldaten. Sowohl die konkreten Vorgänge rund um das Massaker des 4. September 2009 als auch das grundsätzliche politische und rechtliche Dilemma der deutschen Militärpolitik in Afghanistan verdienen eine genauere Analyse. 

Wenige Antworten und viele offene Fragen

Auf einer Sandbank des Flusses Kundus steckten in der Nacht vom 3. auf den 4. September zwei Tanklastzüge fest, nachdem sie zuvor von Aufständischen entführt worden waren. Auf Anforderung des deutschen Oberst Georg Klein wurden diese Fahrzeuge bombardiert. In  der dadurch ausgelösten Feuerhölle verbrannten wahrscheinlich 142 Menschen, darunter viele ZivilistIn­nen. Das Rote Kreuz wies die Verantwortlichen in einem vertraulichen Bericht darauf hin, dass unter den Toten auch zahlreiche Kinder im Alter von acht, zehn und zwölf waren. Selbst im kriegsgeschüttelten Afghanistan ist dies eine ungewöhnlich hohe Opferbilanz für eine Nacht. Mit mehr als drei Monaten Verzögerung hat die Bundesregierung nun endlich angekündigt, die Angehörigen der Opfer wenigstens entschädigen zu wollen, natürlich erst dann, wenn deren Ansprüche als „berechtigt" eingestuft werden und die Toten keine „Ta­liban" waren. Das Entscheidungsgremium, das zusammen mit Oberst Klein den Einsatzbefehl vorbereitete, war die so genannte Task Force 147. Eine kleine Gruppe von mi­litärischen Experten, zu denen Angehörige der Elitetruppe Kommandospezialkräfte (KSK) und möglicherweise auch Ge­heimdienstmitarbeiter gehörten. Informationen aus den geheimen NATO-Berichten deuten darauf hin, dass es nicht, wie ursprünglich behauptet, darum ging, das sechs Kilometer entfernte Bundeswehrlager vor einem Anschlag mit den Tanklastzügen zu schützen, ja dass es nicht einmal um die Tanklastzüge selbst ging, sondern um gegnerische Anführer, die bei den Lastzügen vermutet wurden. Damit war das Ziel der Bombar­dierung wahrscheinlich die ge­zielte Tötung von Verdächtigen. Ein solches „Targeting" ist völ­kerrechtswidrig und nicht durch das Mandat der Bundeswehr abgedeckt. Dennoch gehören Targeting-Verfahren zu den Grundlagen des NATO-Krieges in Afghanistan, die in einem geheimen ISAF-Opera­tionsplan geregelt werden, dem alle beteiligten Staaten, auch Deutschland, zugestimmt haben. Diese Problematik ist nicht neu, bereits vor zwei Jahren wies der Focus-Korrespondent Thomas Wiegold in seinem Artikel „Im Zweifel töten" (17.12.2007) darauf hin und zitierte einen Rechtsberater des deutschen ISAF-Kontingentes, der feststellt, dass sich „die Vorgaben in Bezug auf das Targeting-Verfahren durch ISAF-Hauptquartier und Nato nicht ohne weiteres mit den deutschen Vorbehalten in Einklang bringen lassen". Damals ging es „nur" um die deutsche Beteiligung an der Zielauswahl, heute geht um den direkten Schießbefehl, aber die Grundfrage bleibt die selbe. Deutsche Politiker wollen, dass sich ihre SoldatInnen am Schießen und Töten beteiligen, aber die rechtliche Grundlage dafür ist ihnen offensichtlich weitgehend egal. Wahrscheinlich weil es ohnehin nicht möglich ist, „rechtskonforme" Kriege zu führen, was natürlich für eine Bundesregierung, die anderer­seits gerne „Rechtsstaatlich­keit" überall hin exportieren möchte, sehr unbequem ist.

Gewollte rechtliche Grauzonen

ZivilistInnen, die sich Treibstoff aus den Tanklastzügen holen wollten, mussten sterben, weil die Bundeswehr offensichtlich ihre militärischen Gegner in der Menschenansammlung vermutete und diesen nicht durch eine Warnung die Chance zur Flucht gegeben werden sollte. Rein militärisch mag das plausibel klingen. Ein Verstoß gegen das Kriegsvöl­kerrecht, das die unverhältnismäßige und unterschiedslose Gefährdung von ZivilistInnen untersagt, wäre es dennoch. Nach NATO-Regeln wäre dieser Angriff auf ein als militärisch definiertes Ziel im Zuge des oben erwähnten Targeting-Verfahrens zwar theoretisch möglich gewesen, jedoch nur wenn das NATO-Hauptquartier dies explizit angeordnet hätte, was nicht geschah. Allerdings ist eine solche ge­zielte Tötung feindlicher Kämpfer völkerrechtlich höchstens dann mög­lich, wenn es sich um einen so genannten „internationalen bewaffneten Konflikt" handelt, jedoch gilt auch dann das Kriegsvölkerrecht. Und das Kriegsvölkerrecht räumt dem Schutz der Zivilis­tInnen in Konflikten einen hohen Stellenwert ein. Deswegen ist der unterschiedslose Angriffe auf Kombattanten und ZivilistInnen nicht erlaubt. Die NATO trägt diesen Vorgaben in ihren Einsatzregeln in soweit Rechnung, dass sie bei Luftnahunterstützung in der Regel eine Warnung für ZivilistInnen gibt. Die zwei Piloten, die am 4. September im Einsatz waren, hatten dies ebenfalls vor und fragten deswegen mehrfach nach, ob sie nicht zuerst einen so genannten „Show of Force"-Einsatz durchführen sollten. Damit ist ein Tiefflug über dem Einsatzgebiet gemeint, ohne zu bombardieren, wodurch Zivi­listInnen signalisiert wird, dass mit einem Bombardement zu rechnen ist, und zumindest eine theoretische Chance bestanden hätte, sich aus der Nähe der Tanklastzüge zu entfernen. Oberst Klein lehnte eine solche vorherige Warnung jedoch explizit ab, was sich aus dem Charakter der Task Force 147 erklären lässt, die offensichtlich konkrete „Gegner" eliminieren wollte, die wahrscheinlich schon längere Zeit von KSK-Soldaten ausgespäht worden waren. Die internationale Schutztruppe ISAF befindet sich laut ihrem Mandat in einem „nicht-internationalen bewaffneten Konflikt" und dort ist die ge­zielte Ausschaltung von unbewaffneten Gegnern nicht erlaubt - selbst dann, wenn keine ZivilistInnen in der Nähe sind. Es ist also gut möglich, dass bei dem „Vorfall" durch die Bundeswehr sowohl das Völkerrecht verletzt als auch die Grundlagen des ISAF-Mandates verlassen wurden. Wenn deutsche Politiker nun häufiger von Krieg reden, dann kann dahinter auch die Absicht stehen, diese rechtlichen Unterschiede zu verdecken.

Erhalt der militärischen Handlungsfähigkeit

Der Angriff auf die Tanklast­züge war wohl die verheerend­ste und tödlichste Operation, an der deutsche Soldaten seit dem Zweiten Weltkrieg beteiligt waren. Der Beschuss der Tanklastzüge war jedoch nicht das erste und nicht das letzte Mal, dass Bundeswehreinhei­ten Unterstützung aus der Luft angefordert haben. Spätestens seit die Bundeswehr im Norden Afghanistans die Quick Reac­tion Force (QRF), eine schnelle Eingreiftruppe, stellt und immer mehr und immer offensiver das Gefecht mit aufständischen Gruppen sucht, gerät sie auch in Situationen, die allein mit Bo­dentruppen nicht mehr zu bewältigen sind. In diesen Situationen fordern Soldaten dann NATO-Luftunterstützung an. Was häufig bedeutet, dass vermeintliche Stellungen von feindlichen Kämpfern aus der Luft bombardiert werden, die sich später als Höfe oder Dörfer herausstellen. Die UNAMA weist in ihren Berichten1  darauf hin, dass knapp zwei Drittel der zivilen Opfer, für die die Ko­alitionstruppen verantwortlich sind, solchen „Luftschlägen" zum Opfer fallen. Dass die nachgewiesene Beteiligung deutsche Soldaten an solchen Verbrechen nicht zu ei­nem grundsätzlichen Nachdenken über diesen Krieg geführt hat, ist bezeichnend. Denn es geht nicht um die Vermeidung von Opfern, sondern um den Erhalt der militärischen Hand­lungsfähigkeit der Truppe. Es fällt dem neuen Propagandabeauftragten der Bundeswehr Guttenberg zwar schwer, explizit zu sagen, er wäre stolz auf die Bundeswehr, aber er kam diesem während einer Bundes­tagsdebatte sehr nahe: „Für ein Bekenntnis zu unserer Bundeswehr, auch und gerade zu einer solchen im Einsatz, muss man sich in diesem Lande nun wirklich nicht schämen." Bei einem Kurzbesuch in Afghanistan Mitte Dezember legte Guttenberg seine Linie weiter fest, indem er forderte, „der anberaumte Untersuchungsausschuss (dürfe) nicht zur Diskreditierung der Soldaten führen" (afp, 12.12.2009). Aus militärischer Sicht ist es wünschenswert und nötig, dass SoldatInnen in einem Krieg möglichst wenige Skrupel beim Schießen und Töten haben. Mögliche staatsanwaltschaft­liche Ermittlungen oder gar Verurteilungen zügeln die Schießbereitschaft merklich. Vor diesem Hintergrund ist die geplante Einrichtung einer „Schwer­punktstaatsanwaltschaft" zu sehen. Schließlich wolles es die Bundeswehr und die Bundesregierung nicht riskieren, dass gegen immer mehr Soldaten monate- oder jahrelang ermittelt wird und so „Unsicherheit" unter den Soldaten entsteht. Zukünftig soll das Ganze schnell und möglichst reibungslos mit einer Art Sondergerichtsbarkeit für SoldatInnen abgewickelt werden. Doch be­reits heute werden SoldatInnen von den Staatsanwaltschaften recht großzügig behandelt. Bei „Gefechtssituationen" wird in der Regel die Ermittlung vor der Eröffnung eines Verfahrens eingestellt.

Gegen Kriegswahnsinn und neue Heldenmythen

Dass nun immer neue Bruchstücke über das grausame Gesicht deutscher Kriegsbeteili­gung an die Öffentlichkeit kommen, hat natürlich etwas mit dem Bemühen des angeschlagenen Verteidigungsministers zu Gut­tenberg zu tun, sein Image als Saubermann wieder herzustellen, aber wahrscheinlich noch mehr damit, dass zur Zeit ein CDU interner Machtkampf zwischen Koch und Merkel ausgetragen wird. Diese Absurditäten bundesdeutscher Machtpolitik führen dazu, dass die Lü­ge vom deutschen „bewaffneten Entwicklungshilfeeinsatz" nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Die Luft für die KriegsbefürworterInnen wird dünner und die Umfrageergeb­nisse für den ISAF-Einsatz werden immer schlechter, nur noch 27% halten ihn nach Deutsch­landtrend im Dezember 2009 noch für sinnvoll. Dennoch ist weiterhin kein En­de des Krieges in Sicht. Es ist im Gegenteil mit einer massiven Eskalation zu rechnen. Die USA haben beschlossen, weitere 30.000 SoldatInnen nach Afghanistan zu schicken, die NA­TO-Verbündeten haben min­destens 7.000 weitere SoldatIn­nen versprochen. Die deutsche Regierung plant eine Erhöhung ihres Beitrages von 4.500 auf vielleicht 7.000 Soldaten nach der Afghanistankonferenz Ende Januar 2010. Doch bereits jetzt stehen im Land am Hindukusch mehr als 110.000 SoldatInnen. Damit hat die NATO das Niveau der Trup­penpräsenz erreicht, das die So­wjetunion 1989, am Ende ihrer zehnjährigen Besatzung, hatte. Wahrscheinlich war dieser gigantische Militäraufwand mitverantwortlich für den Zusammenbruch der Sowjetunion und des Warschauer Pakts. Es ist durchaus denkbar, dass das Scheitern in Afghanistan auch das Ende der NATO bedeuten wird - worüber die Au­torin dieses Artikel ganz sicher nicht traurig wäre. Die Aufgabe der Kriegsgeg­nerInnen in Deutschland und in den anderen NATO-Staaten ist es jedoch, nicht zu warten, bis Tausende von weiteren Toten in Afghanistan den Preis des Krieges in unakzeptable Höhen treiben, sondern so schnell wie möglich den politischen Preis an der „Heimatfront" zu erhöhen. Dazu ist breiter, entschiedener und unüberhörbarer Protest nötig, gegen Kriegswahnsinn und neue Heldenmythen.

Claudia Haydt

Kontakt: www.imi-online.de

Anmerkung: 1 Zuletzt: UNAMA, A F G H A N I S T A N  Mid Year Bulletin on Protection of Civilians in Armed Conflict, 2009, S.10

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 345, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, 39. Jahrgang, Januar 2010, www.graswurzel.net