Gut leben. Abschied von der »Macho-Ökonomie«

in (29.10.2009)
Heute ist alles in »Krise«: die Finanzkrise, die Wirtschaftskrise, die Kreditkrise, die Ernährungskrise, die Klimakrise oder schlicht die alles umfassende globale Krise. In den ersten drei Monaten des Jahres 2009 hat die Financial Times das Wort 6 465 Mal verwendet. Wie »Terror« die Bush-Ära, bestimmt das Wort »Krise« die heutige Zeit. Und genau wie »Terror« wird »Krise« derart aus dem Kontext gerissen und aus einer ausschließlich westlichen Perspektive verwendet, dass die tieferen Ursachen der Krisen und die Verbindungen zwischen ihnen verdeckt werden. Vor allem wird die bittere Tatsache verschleiert, dass die meisten Menschen auf der Erde jeden Tag im Zustand der Krise leben. Die globale Elite nimmt eine »Krise« nur zur Kenntnis, wenn die Nahrungsmittelpreise in den urbanen Zentren in die Höhe schießen oder die Finanzmärkte an der Wallstreet oder in London zusammenbrechen. Erst dann wird sie plötzlich aufmerksam. Aber während sie freudig Milliarden oder sogar Billionen von unserem Geld für ihre »Krise« verschleudert, scheint sie nicht in der Lage zu sein, den roten Faden zu sehen, der all diese Eruptionen miteinander verknüpft. Die Krise ist real. Aber sie ist nicht einfach das Ergebnis von Überproduktion, Unterkonsumption, verfehlter Kreditvergabe oder gar fehlender Regulation - sie ist eine grundlegende Krise der gesellschaftlichen und ökologischen Reproduktion. 1 Christen, Feministinnen und Marxisten stimmen - obwohl das niemals in der Zeitung zu lesen ist - darin überein, dass der Kapitalismus die Natur zerstört und die Gesellschaft entfremdet, und dass der entfesselte, auf den freien Markt orientierte Kapitalismus der letzten 30 Jahre erschreckend wirkungsvoll in beidem war. Der ökologische Marxist John Bellamy Foster erklärt, der Kapitalismus basiere auf der »unaufhörlichen Akkumulation von Kapital«, wobei »jede neue Akkumulationsphase die jeweils vorhergehende als ihren Ausgangspunkt nimmt. Dies resultierte in immer weiter gespaltenen und entfremdeten Menschen sowie einem global immer zerstörerischeren Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur« (2008). Auch die feministische Philosophin Teresa Brennan spricht vom zerstörerischen Charakter des Kapitalismus: »Kurzfristig wird Profit gemacht, indem die Quellen langfristigen Profits (Natur und Arbeit) schneller verbraucht werden als sie sich angemessen reproduzieren können - oder, anders gesprochen, schneller als die Zeit, die nötig wäre, um menschlichen Bedürfnissen zu entsprechen und die Umwelt zu erhalten.« (2003, 8). Der Ökonom Ulrich Duchrow und der Theologe Franz Hinkelammert legen dar, dass das einzige Ziel der Globalisierung - der bisher unersättlichsten Version des Kapitalismus - die Befreiung der »Akkumulation des Kapitals von allen sozialen und ökologischen Schranken ist. Das Ergebnis ist der totale Markt, der im Begriff ist, nicht nur das Leben auf der Erde, sondern damit auch seine eigenen Grundlagen zu zerstören« (2004, 3). Während also der Finanzkapitalismus Natur und Gesellschaft angreift, ist das Hauptziel der G20, der exklusiven Gruppe der mächtigsten Ökonomien der Welt, diesem Kapitalismus schnell wieder aus der Krise zu helfen, das finanzielle Triebwerk durchzustarten und die Ökonomien auf Wachstumskurs zu bringen. Wachstum ist jedoch das Problem - zumindest die Art von Wirtschaftswachstum, die darauf beruht, Gesellschaft und Natur mit einer Geschwindigkeit und Intensität zu verschlingen, die ihre Erholungs- und Reproduktionsfähigkeit weit übersteigt. Gemäß der Logik der sich stetig ausweitenden Globalisierung zieht das Kapital einfach zum nächsten Ort weiter, sobald die Natur an einem Ort erschöpft ist. Falls Arbeit in einem Land zu teuer wird, verlagert sich die Produktion dorthin, wo die Löhne niedriger sind. Und falls die Bevölkerung zu alt wird, um sich um ihre Alten oder ihre Kinder zu kümmern, wird billige Arbeitskraft in Form von jungen und üblicherweise weiblichen Migrant/innen importiert. Die Vororte von Rom, Los Angeles oder Beirut sind voll von Philippinas, die ihre eigenen Kinder in Dörfern auf der anderen Seite der Erde verlassen haben, um die alternden Eltern von Mittelklasse-Arbeitern zu versorgen, die ihrerseits demselben Schicksal entgegensehen. All dies sind Folgen des Profitstrebens, das von den Bedingungen oder Grenzen von Gesellschaft und Natur völlig entkoppelt wurde. Diese Entkopplung wurde zuerst in Großbritannien während der industriellen Revolution im ausgehenden 18. Jahrhundert vollzogen. Die Trennung von Produkt und Produzent, von Natur und Gesellschaft wurde seitdem immer abstrakter und undurchsichtiger, weil die Produktionsketten sich über den Globus ausbreiteten. Arbeit und natürliche Ressourcen wurden erfasst und in Profit verwandelt, die weit entfernt vom Ort ihres Konsums lagen. Diese Form der Produktion geht Hand in Hand mit einer besonderen Form der gesellschaftlichen Reproduktion, des Patriarchats, das im Wesentlichen die institutionalisierte Ungleichheit zwischen Mann und Frau ist, was - trotz Werbung - keine noch so freie Wahl bei Kaufentscheidungen zu verbergen vermag. Die Lage ist also schlecht und es gibt viel zu tun. Und ich glaube, dass wir fürs Erste drei große Dinge in Angriff nehmen müssen, um das Leben für fast alle und v.a. für Frauen deutlich zu verbessern (und es dabei vielleicht für die vorwiegend männlichen extrem Reichen etwas verschlechtern): Erstens müssen wir das Gemeinwohl ausweiten, zweitens müssen wir den Planeten abkühlen, und drittens müssen wir unseren gemeinsamen Reichtum aufteilen.

Ausweitung des Gemeinwohls

Was ist das Gemeinwohl? Duchrow und Hinkelammert bieten einen einfachen Ausgangspunkt, der zugleich menschlich und gerecht ist: »Die Perspektive des Gemeinwohls geht wesentlich von den schwächsten, am meisten bedrohten Mitgliedern der Gemeinschaft aus. Falls sie leben können, können alle leben.« (157) Offensichtlich sind dies Kinder, Kranke, Behinderte, Arbeitslose und Alte. Wenn wir aber eine globale Vorstellung von »Gemeinschaft« im Blick haben, kommen Landlose, Indigene, städtische Arme, unterbezahlte und prekarisierte Arbeiter, Frauen in vielen Lebenslagen, Schwarze und Migranten hinzu. Die Liste ist lang und umfasst den Großteil der Menschheit. Ebenso ist die Umwelt als Gemeingut - sicherlich das grundlegende, da es die Quelle des Lebens selbst enthält - entscheidend für das Gemeinwohl, und ihr Schutz ist von überragender Bedeutung. Aus dieser ethisch vertretbaren (und pragmatischen) Perspektive - Gewährleistung des Lebens für die Schwächsten und Erhalt der Umwelt für zukünftige Generationen - ist es zwingend notwendig, dass wir Gesellschaft und Natur vor der Profitlogik bewahren und die Gemeingüter ausweiten. Wasser, Land, Nahrung, Gesundheit, Erziehung, soziale Sicherheit und Renten, öffentliche Verkehrsmittel, Wohnungswesen, Krankenhäuser und Schulen, Saatgut, Kultur, Wissen und die Demokratie selbst müssen entkommodifiziert, d.h. aus dem Markt genommen, und allen Menschen in allen Gesellschaften zugänglich gemacht werden. Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten sollten ebenso für alle verfügbar sein. Es sollte kostenloses WLAN, frei zugängliche Computer in tausenden von alten und neuen öffentlichen Bibliotheken und Mobiltelefone für alle geben: Wir Menschen reden gerne miteinander und der Reichtum an Austausch, Begegnungen, Lernen, Kreativität und Teilen, der durch die Informationstechnologien ermöglicht wird, ist einer der großen Fortschritte unserer Zeit - obwohl wir uns auch den ökologischen Folgen der Wegwerf-Computertechnologie stellen müssen. Die radikale Open-Source-Bewegung stellt die kapitalistischen Eigentumsrechte in Frage und sollte auf viele Bereiche ausgedehnt werden, nicht zuletzt auf die pharmazeutische Industrie als eine der größten Bastionen intellektueller Eigentumsrechte. Die Ausweitung der Gemeingüter ist möglich - sie ist eine ethische und keine ökonomische Frage. Sie ist auch eine politische Strategie, um die Räume zu verkleinern, die durch Unternehmen, Institutionen, Marken und den Konsumismus kontrolliert werden, und gleichzeitig die Räume zum Teilen von Gemeinwohl und Gemeingütern zu vergrößern. Die Gemeingüter müssen nicht durch den Staat kontrolliert werden. Es gibt sogar viele Gemeingüter, die von Gemeinden verwaltet werden können und sollten, von denjenigen, die sie kollektiv und demokratisch organisiert produzieren und benutzen, oder gar auf individueller Basis nach dem Muster von Geschenk und Gegengeschenk. Aber v.a. könnte die Ausweitung der Gemeingüter vielleicht eine emanzipatorische Strategie sein, um neue Möglichkeiten der Teilhabe und Kontrolle für die bisher Ausgeschlossenen oder Machtlosen zu schaffen.

Abkühlung des Planeten

Wir laden zuviel Kohlendioxid und andere Treibhausgase in der Atmosphäre ab. Dadurch erwärmt sich die Erde, die Klima- und Wettersysteme werden gestört, was zu Überschwemmungen, Dürren, Hitzewellen und Stürmen führt, die üblicherweise diejenigen mit den wenigsten Schutzmöglichkeiten besonders treffen. Der Großteil der Treibhausgas-Emissionen stammt aus der Verbrennung fossiler Energieträger. Gerade letztere treiben die Expansion des globalen Kapitalismus voran, indem sie die Energie zur Herstellung und zum Transport all der Dinge bereitstellen, die wir konsumieren und wegwerfen. Wir müssen aufhören, Treibhausgase in die Atmosphäre zu blasen und unseren Verbrauch fossiler Energieträger verringern. Wir müssen aber auch Ökosysteme wiederherstellen, die oftmals aufgrund von Profitstreben zerstört wurden. Es gibt viele weitere Dinge zu tun. Die industrielle Landwirtschaft trägt wesentlich zu den Treibhausgas-Emissionen bei. Die Umstellung auf ökologischen Landbau, die Verkürzung der Entfernung zwischen Produktion und Konsum (der so genannte food miles) und die sichere Gewährung von Land für Kleinbauern und Kleinbäuerinnen wären wichtige Schritte zur Verringerung der Emissionen und zur Beendigung der Umweltzerstörungen, die durch großflächige industrielle Landwirtschaft und land grabbing2 verursacht werden. La Via Campesina, die internationale Bewegung von Kleinbauern und Kleinbäuerinnen, propagiert als alternatives Landwirtschaftsmodell die »Ernährungssouveränität «, d.h. »das Recht von Völkern und Gemeinschaften auf gesunde und kulturell angemessene Nahrungsmittel, die mittels ökologisch verträglicher und nachhaltiger Methoden hergestellt werden, und ihr Recht auf Etablierung ihrer eigenen Ernährungs- und Landwirtschaftssysteme. Es stellt die Bestrebungen und Bedürfnisse derjenigen, die Nahrungsmittel herstellen, verteilen und konsumieren, ins Zentrum der Ernährungssysteme und -politiken - und nicht die Ansprüche von Märkten und Unternehmen« (2009). Genau wie die industrielle Landwirtschaft sind auch Agrotreibstoffe ein ökologisches Desaster. Sie verbrauchen riesige Mengen Wasser und verdrängen die Nahrungsmittelproduktion; der großflächige Anbau von Agrotreibstoffen muss gestoppt werden. Auch Entwaldung setzt Kohlendioxid frei und Wiederaufforstung ist wichtig. Letztere darf aber nicht marktvermittelt erfolgen: Es ist nicht sinnvoll, wenn sich emissionsintensive Industrien auf dem Finanzmarkt Emissionszertifikate kaufen können, die etwa aus der bloß angenommenen Kohlenstoffspeicherung in einem brasilianischen Wald stammen. Warum sollten Finanzmärkte noch mehr Geld machen, wo sie uns doch jetzt schon viel schulden, da wir ihnen aus der gegenwärtigen Finanzmisere heraushelfen? Es wäre viel wirkungsvoller, wenn die verschmutzenden Industrien einfach weniger verschmutzen würden. Dann würde es den Menschen, die in der Nähe dieser Fabriken leben, besser gehen, und die Erholung der Wälder wäre nicht an die fortdauernde oder zunehmende Verschmutzung andernorts gekoppelt. Die Waldzerstörung geht großteils auf die Nachfrage nach Holz und Papier zurück - wobei oftmals Wälder mit hoher Biodiversität durch Monokultur- Plantagen ersetzt werden - und auf das Vordringen von industrieller Landwirtschaft und Agrotreibstoff-Anbau in die Wälder. Der Erhalt der Biodiversität und der Wälder ist sowohl Teil der Strategie zur Ausweitung von Gemeinwohl und Gemeingütern als auch hilfreich im Kampf gegen den Klimawandel. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt mittlerweile in Städten. David Harvey zufolge sind diese zunehmend »geteilt und konfliktanfällig«; die Klassenverhältnisse »in die räumliche Form unserer Städte eingelassen« sind, »in denen es immer mehr befestigte Siedlungen, geschlossene Wohnanlagen und privatisierte öffentliche Räume gibt, die unter ständiger Bewachung stehen« (Harvey 2008,32). Er hätte ebenso feststellen können, dass die Geschlechterverhältnisse in die Städte eingelassen sind, nicht nur was die für Frauen zugänglichen Räume angeht, sondern auch hinsichtlich der Gewalt, die viele Städte für Frauen jeglichen Alters so unsicher macht. Die Wiederaneignung und Ent-Privatisierung von öffentlichem Raum, Verkehrsmitteln, Wohnungswesen und Kultur sind entscheidend. Zentral ist dabei die Wiederaneignung der Stadt als Gemeingut und die Wiederaneignung des von ihr geschaffenen Reichtums für das Gemeinwohl. Eine der größten Chancen unserer Zeit ist die Umgestaltung der Städte, v.a. die Umwandlung der mit energieintensiven Lebensstilen verbundenen Stadtrandsiedlungen in emissionsarme, frauenfreundliche, vielseitige und von den Menschen betriebene Stadtstrukturen.

Aufteilung des Reichtums

In den letzten Monaten haben Regierungen viel Geld in die Hand genommen. Dieses Geld wird verwendet, um ein Wirtschafts- und Finanzsystem wieder aufzurichten, das seinem Wesen nach unfair und zerstörerisch ist, und doch gewähren die Regierungen den Banken fast bedingungslos finanzielle Unterstützung. Gleichzeitig haben 30 Jahre neoliberaler Ideologie die meisten Menschen in den meisten Ländern glauben gemacht, dass es unmöglich ist, die Gemeingüter auszuweiten, die öffentliche Daseinsvorsorge zu finanzieren, angemessene Gesundheits- und Rentensysteme zu etablieren oder gar die Löhne anzuheben. Aber sowohl im Norden als auch im Süden werden die Reichen immer reicher und bezahlen immer weniger Steuern. Ein aktueller Bericht des Institute of Policy Studies (IPS) zeigt, dass die 400 größten US-Steuerzahler im Jahr 1955 einen dreimal höheren Anteil ihres Einkommens (51 Prozent) an Steuern bezahlten als die 400 größten im Jahr 2006 (17 Prozent). Falls die Top 400 des Jahres 2006 wie 1955 immer noch 51 Prozent ihres Einkommens an Steuern gezahlt hätten, hätte die US-Bundeskasse, so rechnet das IPS aus, zusätzlich knapp 36 Mrd. Dollar nur durch diese eingenommen (Cavanagh u.a. 2009, 5). Obwohl dieser Trend in anderen Industrieländern nicht so dramatisch ausfällt, speist sich auch in vielen Ländern des Südens das Steueraufkommen hauptsächlich aus indirekten Quellen wie Umsatzsteuern - ein Umstand, der gut für die Reichen und schlecht für die Armen ist. Das stellt die Staatseinkünfte auf eine schmale Basis, was die Abhängigkeit von privaten Investoren, Auslandskrediten und -hilfen erhöht und die Möglichkeiten zur Ausweitung der Gemeingüter und zur Umverteilung einschränkt. Progressive Steuerreformen sind im Süden wie im Norden dringend notwendig, genauso wie Steueroasen zu schließen und dafür zu sorgen, dass Unternehmen ihren gerechten Anteil bezahlen. Neben einer angemessenen progressiven Besteuerung gibt es andere Einnahmequellen, um die Ausweitung der Gemeingüter und die Eindämmung des Klimawandels zu finanzieren. So sind etwa Militärausgaben in fast jedem Land zu hoch und werden zu sehr geheim gehalten. Entmilitarisierung ist eine nahe liegende Option zur Erhöhung der Haushaltsausgaben für das Gemeinwohl. Ein weiteres frappierendes Merkmal der gegenwärtigen Phase des Kapitalismus ist, dass die Aufteilung des Profits zwischen Arbeit und Kapital noch nie so ungünstig war wie heute. Die Anhebung der Löhne ist unverzichtbarer Ausgangspunkt zur Umverteilung des Reichtums. Zudem sind höhere Löhne ein Anreiz für steigende Investitionen in Gesundheit, Bildung und sichere Arbeitsbedingungen. Gut bezahlte und gut organisierte Arbeiterinnen und Arbeiter sind weniger austauschbar als prekär beschäftigte und ausgebeutete. Selbstverständlich setzt das eine bedeutende Verschiebung im gegenwärtigen Kräfteverhältnis zwischen Arbeit und Kapital voraus. Aber falls die Arbeitenden in diesen Kampf mit einer umfassenden Perspektive der Ausweitung des Gemeinwohls für alle, statt nur für eine kleine Elite organisierter Arbeiter, eingreifen könnten, wäre das Kräfteverhältnis veränderbar. Die Kosten für die möglicherweise dramatischen Folgen des Klimawandels und den Übergang zu emissionsarmen Ökonomien müssen aufgebracht werden. Gemäß der UN-Klimarahmenkonvention tragen die Industrieländer die historische Verantwortung für den Großteil der Treibhausgas-Emissionen, und sie sind folglich verpflichtet zu handeln, sowohl was die Finanzierung als auch was die Technologien und deren Transfer angeht. Das Konzept der »ökologischen Schuld« geht einen Schritt weiter und erfasst viele der ethischen Probleme im historischen Verhältnis zwischen Norden und Süden - und zwischen Kapitalismus, Gesellschaft und Natur. Eine der führenden Umweltorganisationen des Südens, Acción Ecológica, definiert ökologische Schuld als »Schuld, die die nördlichen Industrieländer gegenüber der Dritten Welt angehäuft haben, indem sie Ressourcen geplündert, die Umwelt geschädigt und Umweltraum für sich in Anspruch genommen haben, um darin Abfälle wie Treibhausgase abzulagern. Diejenigen, die die Biosphäre missbrauchen, ökologische Grenzen überschreiten und nicht-nachhaltige Extraktionsmuster für eine Vielzahl von natürlichen Ressourcen durchsetzen und verstärken, müssen anfangen, diese ökologische Schuld abzuzahlen« (zit.n. Bavadan 2004). Die Schuld ist nicht unbedingt eine finanzielle Schuld, sondern zuallererst eine ethisch-moralische Schuld, die die ökologischen und sozialen Folgen von Jahrhunderten kolonialer Extraktion, Ausbeutung und kapitalistischer Industrialisierung anerkennt. Gleichwohl erweist sich das Konzept der ökologischen Schuld als wirkungsvolles Instrument, um die Nord-Süd-Beziehungen neu auszurichten und die Gesellschaften in Richtung von ökonomischer und ökologischer Gerechtigkeit zu orientieren. Es befreit den Ressourcentransfer von Nord nach Süd aus der Logik von Profit, Markt oder Hilfsleistungen und fasst ihn stattdessen als gerechten Ausgleich.

Abbremsen, Beschleunigen und Ausweiten

Der Ruf nach einer Transformation der verzerrten Beziehungen zwischen Kapital, Gesellschaft und Natur kommt von vielen verschiedenen Seiten. Die indigenen Völker der Anden sprechen von der endgültigen Krise, der »Zivilisationskrise «, die uns zwingt, noch einmal darüber nachzudenken, was »gut leben« bedeutet. Der bolivianische Präsident Evo Morales versteht darunter, »nicht nur an das Pro-Kopf-Einkommen zu denken, sondern auch an kulturelle Identität, Gemeinschaft und Harmonie unter uns und mit unserer Mutter Erde« (2006). John Bellamy Foster weist darauf hin, dass der Kapitalismus den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur zerstört. Die Wiederherstellung dieser Stoffwechsel- Beziehung ist für ihn der Schlüssel zu wahrem Sozialismus. Mechanistische und produktivistische Sozialismus-Versuche seien letztlich gescheitert, da sie Grundlegendes nicht beachteten: dass die Reform von Politiken und Institutionen beim wirklichen Leben der Menschen ansetzen und im Einklang mit der Natur geschehen muss. Ich würde hinzufügen, dass Reform der Gesellschaft gleichzeitig Transformation der sozialen Verhältnisse nicht nur zwischen den Klassen, sondern auch zwischen den Geschlechtern bedeutet, wobei individuelle und kollektive Freiheiten gleichzeitig ausgeweitet werden. Dieser Prozess spielt sich per Definition lokal und von unten nach oben ab. Teresa Brennan macht ebenfalls »das Lokale« stark wenn sie sagt, dass »je näher die Energie- und Rohstoffquellen am Wohnort liegen, um so eher bleiben die Reproduktionskosten im Rahmen: bezahlte und Hausarbeit wird dann weniger ausgebeutet und die Umwelt weniger verbraucht« (zit.n. Oliver 2007, 15). Sie glaubt auch, dass die »personengebundene Produktivität ausgeweitet werden und nicht ortsgebunden sein sollte«, während die Produktivität aufgrund von wachsendem fixen Kapital »begrenzt« und von ersterer »entkoppelt sein sollte« (ebd.). Diese Überzeugung stellt die Welt auf den Kopf und das aus ihr Folgende ist in hohem Maße befreiend. Aus ihr ergibt sich, dass unser kreatives, intellektuelles, emotionales und soziales Selbst vergrößert werden könnte (und sollte), während das ökonomische in Grenzen gehalten wird. Das ist das Gegenteil von Kapitalismus, in dem die ökonomischen alle gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmen und in dem unser privates Selbst, und v.a. das weibliche, entweder Objekt des Zur-Ware-Werdens ist oder zum bloßen Konsumenten degradiert wird. Frigga Haug propagiert - unter Rückgriff auf Ideen der Arbeiter- und feministischen Bewegungen - einen modernen Ansatz zur Selbstbefreiung, den sie die »Vier-in-einem-Perspektive« (2008) nennt. Diese erinnert an die berühmte Vision der kommunistischen Gesellschaft, die Marx und Engels in der Deutschen Ideologie formulieren, in der »jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann«, und die Gesellschaft es jedem »möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren« (1845/46, 33). Die Vier-in-einem-Perspektive geht davon aus, dass wir uns in vier Dimensionen Ausdruck verschaffen müssen, um vollends menschlich und frei zu sein: Erwerbsarbeit, Reproduktionsarbeit, kulturelle Entwicklung und Politik. Haugs Vorstellung ist, dass alle die Möglichkeit haben sollten, sich in allen vier Bereichen zu betätigen. Dies erfordert eine ausgeglichene Verteilung sowohl der Erwerbsarbeit als auch der Reproduktionsarbeit wie z.B. Kochen, Anbau von Nahrungsmitteln oder Betreuung der Familie. Drittens sollte individuelle Entwicklung für alle lebenslang möglich sein, sei es durch Bildung, Musik, Sport oder was auch immer. Viertens bedarf die Gesellschaft unseres politischen Engagements. Falls davon ausgegangen wird, dass »jeder Mensch etwa 16 Stunden am Tag in die so umfassend gedachte gesellschaftliche Gesamtarbeit einbringen kann« (Haug 2008, 21), blieben pro Bereich etwa vier Stunden täglich für jeden. Wichtig ist, dass keiner der vier Bereiche »ohne die anderen verfolgt« wird, »was eine Politik und zugleich eine Lebensgestaltung anzielt, die zu leben umfassend wäre, lebendig, sinnvoll, eingreifend, und lustvoll genießend« (ebd., 23). Dies sei, so Haug, eine »konkrete Utopie«, die als »Kompass« für unsere politischen Forderungen und Strategien dienen kann (ebd.). Die Vorstellung, dass wir uns - jenseits der für uns vorgesehenen und durch das biologische Geschlecht bestimmten Funktion innerhalb eines Systems ökonomischer Produktion und Konsumtion - entfalten und befreien können, ist sehr verlockend. Schon jetzt ist das für wenige Privilegierte, zu denen ich mich zähle, möglich. Aber es sollte für alle möglich sein - zumindest in der von mir gedachten Welt, in der das Gemeinwohl auf alle ausgeweitet, die Beziehung zwischen Natur und Gesellschaft, zwischen Produktion und Reproduktion und zwischen Frauen und Männern wieder ins Gleichgewicht gebracht, und der Reichtum unter allen verteilt, aber von keinem besessen wird. Buen vivir.

Aus dem Englischen von Oliver Walkenhorst

 

Literatur

Bavadan, Lyla, 2004: The ecological debt, in: Frontline, 21. Jg., Januar 2004, H. 3, vgl. www.flonnet.com/fl2103/stories/20040213006401000.htm

Bezanson, Kate, und Meg Luxton (Hg.), 2006: Social Reproduction: Feminist Political Economy Challenges Neo-Liberalism, Montreal-Kingston

Brennan, Teresa, 2003: Globalization and its Terrors: Daily Life in the West, London u.a.

Cavanagh, John, Chuck Collins, Alison Goldberg u. Sam Pizzigati, 2009: Reversing the Great Tax Shift: Seven Steps to Finance Our Economic Recovery Fairly, Institute for Policy Studies and Wealth for the Common Good, Washington/DC, April 2009, vgl. www.ips-dc.org/reports/#1207

Duchrow, Ulrich, und Franz J. Hinkelammert 2004: Property for people, not for profit Alternatives to the global tyranny of capital, London [eine frühere deutsche, nicht völlig identische Ausgabe liegt vor als: Duchrow, Ulrich, und Franz J. Hinkelammert, 2002: Leben ist mehr als Kapital. Alternativen zur globalen Diktatur des Eigentums, Oberursel]

Foster, John Bellamy, 2008: Ecology and the transition from capitalism to socialism, in: Monthly Review 60, November 2008, H. 6 (vgl. leicht verändert auch unter www.monthlyreview. org/081110foster.php)

Harvey, David, 2008: The Right to the City, in: New Left Review 53, September/Oktober 2008, 23-40

Haug, Frigga, 2008: Die Vier-in-einem-Perspektive. Politik von Frauen für eine neue Linke, Hamburg

La Via Campesina, 2009: Statement at the UN General Assembly on the Global Food Crisis and the Right to Food, 6.4.2009, www.viacampesina.org/main_en/index.php?option=com_content&task =view&id=698&Itemid=1

Marx, Karl und Friedrich Engels, 1845/46: Die deutsche Ideologie, in: MEW Berlin/DDR 1957 ff, Bd. 3

Morales, Evo, 2006: Let's construct a real Community of South American Nations in order to »live well«,

Proposal from President Evo Morales to the head of states and people of South America, Oktober 2006, vgl. www.art-us.org/morales_proposal

Oliver, Kelly, 2007: Living a Tension, in: Alice A. Jardine, Shannon Lundeen und Kelly Oliver (Hg.), Living attention: on Teresa Brennan, Albany/NY, 13-22

 

Anmerkungen

1 Gesellschaftliche Reproduktion bezeichnet die Prozesse, die zum Erhalt und zur Reproduktion der Menschen, v.a. ihrer Arbeitskraft, täglich und über Generationen hinweg nötig sind. Sie umfasst die Bereitstellung von Nahrung, Kleidung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung sowie die Vermittlung von Wissen, gesellschaftlichen und kulturellen Werten sowie kollektiven und individuellen Identitäten. Die Kritik der gesellschaftlichen Reproduktion ist zentrales Anliegen des sozialistischen Feminismus. Privatisierung, Einführung von Gebühren für öffentliche Dienstleistungen, stagnierende Löhne, sich verschlechternde Gesundheitsversorgung und schrumpfende Sozialetats, Prekarisierung der Arbeit usw. - all dies ist dem neoliberalen Kapitalismus inhärent - tragen zur Krise der gesellschaftlichen Reproduktion bei und führen zu einer enormen Belastung v.a. von Frauen (mehr dazu in Bezanson/Luxton 2006).

2 Land grabbing bezeichnet den zunehmenden Trend, dass Regierungen und Unternehmen aus Industrie- oder Schwellenländern fruchtbares Land in Entwicklungsländern kaufen oder pachten, um dort Nahrungsmittel oder Agrotreibstoffe für den eigenen Binnenmarkt zu produzieren

 

In: Luxemburg 1/2009, S. 130ff.