Deeskalation statt Abnutzungskrieg

Plädoyer für eine linke Friedensinitiative

in (04.09.2023)

Angesichts des russischen Angriffskrieges tut sich die gesellschaftliche Linke schwer mit einer Positionierung. Während immer mehr Waffen geliefert werden, ist der militärische Sieg einer Seite kaum möglich. Wie kann eine sozial-ökologische Friedenspolitik in dieser Situation aussehen? Lia Becker, Referentin am Institut für Gesellschaftsanalyse der RLS, schlägt eine linke Initiative vor, die sich für wechselseitige Deeskalation und Sicherheitsgarantien, einen EU-Beitritt der Ukraine und europäische Eigenständigkeit gegenüber der NATO einsetzt.

Fast eineinhalb Jahre dauert der brutale Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und noch ist kein Ausweg erkennbar. Der Krieg führt zu unermesslichem Leid, zuallererst natürlich in der Ukraine selbst, mit Tod, Traumata, Zerstörung und Flucht. Weit über hunderttausend Menschen haben den Krieg bislang mit dem Tode bezahlt, davon – nach UN-Angaben – mindestens 9.000 Zivilist*innen. Der Blutzoll hat sich zuletzt nochmal stark erhöht. In den neuen Abnutzungsschlachten rund um Bachmut starben täglich etwa 1.000 Soldaten. Viele Millionen sind traumatisiert. Die Infrastruktur des Landes wird durch russische Attacken und die Kämpfe in den Frontgebieten zerstört. Die Kriegskosten türmen sich in die Höhe und die Auswirkungen des Krieges sind weit über die Ukraine hinaus spürbar. Die Menschen im globalen Süden treffen die Kriegsfolgen durch eine drastisch verschärfte Ernährungs- und Energiepreiskrise – ohne dass das zu einer „Zeitenwende“ in der Politik der „westlichen““ Machteliten führen würde. Die Aufkündigung des Getreideabkommens durch Russland könnte diese Entwicklung weiter verschärfen, Hunger und Migrationsbewegungen werden zur Waffe im Krieg.[1]

Der Krieg droht sich weiter auszuweiten: Es gibt Drohnenangriffe und in der Region Belgorod agieren Truppen der „Legion freies Russland“ offiziell unabhängig von Regierungen auf russischem Territorium, während Russland weiter gezielt Infrastruktur und zivile Ziele aus der Luft attackiert. Die Brücke zur annektierten Krim wird wiederholt attackiert und die russische Regierung lässt „taktische“ Atomwaffen in Weißrussland stationieren. Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms hat eine humanitäre und ökologische Katastrophe ausgelöst und wird wohl den Vormarsch der ukrainischen Truppen erschweren. Beide Seiten rüsten sich mit dem Bau von Drohnen- und Panzerfabriken für einen langen Krieg, so gab etwa Rheinmetall Pläne zum Bau einer Panzerfabrik in der Ukraine bekannt. Die ukrainische Regierung erhält von den USA Streumunition, die für die eigene Zivilbevölkerung für viele Jahre gefährlich ist und deren Einsatz von vielen Staaten geächtet wird. Eine Koalition von NATO-Staaten will der Ukraine Kampfjets liefern und bildet Piloten an F-16-Bombern aus. Russland mobilisiert angesichts der vor einigen Wochen begonnenen ukrainischen „Sommeroffensive“ neue Truppen. Die Eskalationsgefahren nehmen zu.

Dabei sind die Aussichten für einen militärischen Sieg einer der beiden Seiten eher gering. Seit dem Herbst gelingen weder den russischen Angreifern noch den ukrainischen Truppen größere Durchbrüche. Die „Sommeroffensive“ stockt bereits. Sie zeigt, wie verlustreich, blutig und ungewiss selbst begrenzte Geländegewinne gegen die eingegrabenen russischen Truppen sind. Der Krieg wird mit hohen Verlusten entlang einer nahezu eingefrorenen Frontlinie geführt. Schon jetzt zeichnet sich ab: Die Offensive der Ukraine wird höchstens zur (vorläufigen?) Rückeroberung begrenzter Gebiete im Donbass führen, aber nicht zum vollständigen Rückzug der russischen Truppen. Diese Einschätzung findet sich nicht nur in der kritischen Öffentlichkeit, sondern wird auch innerhalb militärischer und diplomatischer Kreise des „Westens“ eingeräumt. Ende 2022 kam US-Generalstabschef Mark Milley zu der Einschätzung: „Die Wahrscheinlichkeit eines militärischen Sieges der Ukraine, definiert als Rauswurf der Russen aus der gesamten Ukraine, einschließlich der von ihnen beanspruchten Krim […], ist in absehbarer Zeit nicht hoch.“ (zit. nach Zellner 2023, 93; vgl. auch Scheidler 2023) 

So wird der Krieg längst um überschaubare Ziele weitergeführt: Russland will die besetzten und annektierten Regionen dauerhaft halten, die Ukraine Gebiete im Donbass und vor allem der Südukraine zurückerobern; für Russland wie für die NATO hat eine große geopolitische Bedeutung, wer den Landzugang zur Krim und die Schwarzmeerregion kontrolliert. Das wird allerdings aus Gründen der Kriegstaktik zu selten offen ausgesprochen. Die militaristische Rhetorik vom „Siegfrieden“ und die unter anderem von EU-Kommissions-Präsidentin von der Leyen bemühte Rhetorik, dass in der Ukraine Menschenrechte, Demokratie und „unsere“ Sicherheit verteidigt werden, erschweren eine nüchterne Diskussion über die westlichen Kriegsziele. 

Der Weg zu einem Waffenstillstand und Friedensverhandlungen ist weiter blockiert – noch erwarten beide Seiten, auf dem Schlachtfeld mehr zu erreichen (vgl. auch Zellner 2023). Die ukrainische Regierung rechnet mit weiteren und qualitativ stärkeren Waffenlieferungen (insbesondere mit mehr modernen Kampfpanzern, Langstrecken-Raketen, aber auch Kampfflugzeugen). Das russische Militär wiederum hat über den Winter Zeit gehabt, die Frontlinie zu sichern und sich einzugraben. Das Putin-Regime kann mit zahlenmäßiger Überlegenheit rechnen, etwa 500.000 Soldaten sind unabhängigen Schätzungen zufolge derzeit mobilisiert, das Potential dürfte bei bis zu 800.000 Soldaten liegen. Dort kalkuliert man mit einer nachlassenden Unterstützungsbereitschaft der westlichen Allianz.

Ein „Sieg“ Russlands (sei es in Form weiterer Gebietseroberungen in der Zentral- oder Westukraine oder durch die Kontrolle der ukrainischen Regierung) oder die völlige Rückeroberung durch die Ukraine (samt der 2014 besetzten Krim und der bereits vor dem Februar 2022 kontrollierten Gebiete im Donbass und Luhansk) sind unwahrscheinlich. Deutlich wahrscheinlicher sind zwei Szenarien: 

 

a) Ein langer, möglicherweise über Jahre sich hinziehender „Abnutzungskrieg“ um begrenzte Gebiete im Osten und Süden der Ukraine mit letztlich unkontrollierbaren Eskalationsgefahren. Diesem Szenario wird mit den zunehmenden Waffenlieferungen der Weg bereitet. Sollte es außerdem zu einer weiteren Mobilmachung des russischen Heers oder zu Waffenlieferungen Chinas an Russland kommen, würde sich dies gefährlich zuspitzen. Die Waffenlieferungen der westlichen Allianz sind längst Teil einer Eskalationsdynamik und werden zu einer fatalen Sackgasse, wenn so der Krieg über Jahre bis zur vollständigen Rückeroberung der besetzten Gebiete verlängert werden soll. 

 

b) Die Alternative wäre ein – vorläufiger – Waffenstillstand (zum Ende des Jahres?) nach der ukrainischen Offensive. Ein solcher würde maßgeblich von den USA als dem mächtigsten Player und von der NATO bestimmt werden, denn die ukrainische Regierung bekräftigt bisher, den Krieg bis zum vollständigen Rückzug der russischen Truppen weiter führen zu wollen. Innerhalb der westlichen Allianz wird längst um Möglichkeiten eines Exits aus dem schwer kontrollierbaren und teuren Krieg gerungen. 

 

Offen ist, ob gesellschaftlicher Druck von unten in den NATO-Staaten dazu beitragen kann, einen Waffenstillstand zu erzwingen. Derzeit sieht es nicht danach aus. Die gesellschaftliche Linke ist außenpolitisch in einer Defensive und nicht in der Lage, eine breitere Mobilisierungsdynamik für Deeskalation und Waffenstillstand zu befördern. Vielmehr drohen sich eine in ihren Deutungsmustern eingefahrene Friedensbewegung und (jüngere) Aktive, die stärker die Klimakrise und autoritär-rechte Entwicklungen in unterschiedlichen Teilen der Welt vor Augen haben, weiter voneinander zu entfremden. 

Linke Suchbewegungen in den Widersprüchen des Krieges

Zur Vorgeschichte des Krieges gehören die inneren Widersprüche und die Entwicklung des russischen Staates zu einem autoritären oligarchischen Regime, dessen Machtblock sich auf eine fossile Rentier-Ökonomie stützt (vgl. Ishchenko 2022a; Jaitner 2022). Eine Modernisierung und Diversifizierung der Ökonomie scheiterte. Auf die aus Sozialabbau, brutaler Verarmung und sozialer Ungleichheit resultierenden inneren Widersprüche reagierte das Putin-Regime mit einer klientelistischen Sozialpolitik, Repression und nationalistisch-autoritärer Mobilisierung von Feindbildern. Die Gefahr zivilgesellschaftlicher Aufstände in den Nachbarländern wurde (auch angesichts des arabischen Frühlings) mit von außen kommenden Regime-Change-Strategien als Teil der US-Politik gleichgesetzt. Zur Vorgeschichte gehört aber auch eine imperiale Politik der NATO-Osterweiterung und von EU-Assoziierungsabkommen, die von links zu Recht kritisiert wurde. 

In diesem Kontext hat sich schon vor der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim eine autoritär-imperiale Linie innerhalb des Machtblocks durchgesetzt. Sie zielt darauf, die Kontrolle über den postsowjetischen Raum auch mit Gewalt zu verteidigen und zurückzugewinnen (vgl. Ishchenko 2022a; Jaitner 2022; Faure 2022). Dazu kommt: Der Machtblock des Putin-Regimes ist auf hohe Renditen in einem fossilen Kapitalismus angewiesen. Ansätze einer Dekarbonisierung und veränderter Investitionsstrategien in der EU stellen ebenso eine Bedrohung dar, wie das Bemühen der USA den europäischen Energiemarkt zu dominieren und Russland davon abzuschneiden (vgl. Dörre 2023). Unterschätzt wurde (auch von größeren Teilen der Linken), wie weit das Regime in der Verteidigung seiner Machtbasis gehen würde. 

Der Krieg führt zu einer starken Verrohung und befördert in Russland zugleich eine autoritäre Wendung nach innen: Eine weitere autoritäre Transformation des Regimes und die verschärfte Verfolgung von Andersdenkenden, LGBTIQ, Kriegsdienstverweigerern und anderen sind die Folge. 

Auch in der Ukraine hat sich im Zuge der post-sowjetischen Transformation und einer neoliberalen Wirtschaftspolitik ein oligarchisches Herrschaftssystem entwickelt, dessen Machtblock zwischen eher pro-westlichen, russlandorientierten und flexibel agierenden Fraktionen gespalten war. Die soziale, politische und kulturelle Spaltung des Landes wurde durch das Agieren Russlands, der USA und der EU vertieft und führte ab 2014 zu einem schwelenden Bürgerkrieg (vgl. auch Ishchenko 2022a). Im Windschatten des Krieges wurden jetzt harsche Antigewerkschaftsgesetze durchgesetzt, Freiheits- und Minderheitenrechte stark eingeschränkt und mehr als ein Dutzend Parteien verboten. Die ukrainische Linke ist stark unter Druck und gezwungen, sich zugleich zur Landesverteidigung und zu den autoritären Folgen des Krieges zu verhalten (vgl. Georgiev 2023; Maurer 2023).

Widersprüchliche Dimensionen des Krieges

Der Krieg schafft eine widersprüchliche Situation, in der es die gesellschaftliche Linke in Deutschland und anderen europäischen Staaten bisher nicht schafft, eine kohärente Position zu finden, die über eine Parteinahme entweder für das Putin-Regime oder für die ukrainische Regierung hinausgeht und geeignet ist, um gesellschaftlichen Druck für einen Waffenstillstand, gegen Eskalation und Aufrüstung zu mobilisieren.[2] Dies hängt auch damit zusammen, dass die verschiedenen Dimensionen des Krieges und ihre komplexen Zusammenhänge immer wieder aus dem Blick geraten (vgl. zu den Dimensionen des Krieges u.a. Watkins 2022; Dörre 2023; Cedillo 2023.) So führt die ukrainische Regierung einen völkerrechtlich legitimen Verteidigungskrieg. Er wird zwar von großen Teilen der ukrainischen Bevölkerung aus unterschiedlichen Gründen unterstützt, aber längst nicht von allen in der Ukraine lebenden Menschen. Auch greift es zu kurz, den Krieg ausschließlich als Verteidigungskrieg um die nationale Souveränität der Ukraine zu sehen. Den autoritären und imperialistischen Charakter des Putin-Regimes und seine Verantwortung für den brutalen Angriffskrieg zu relativieren, ist in der deutschen Linken eine Minderheitenposition. In den Zusammenhängen der noch bestehenden Friedensbewegung führt sie jedoch zu Verwerfungen und trägt dazu bei, dass keine erneuerte, gesellschaftlich breit aufgestellte Friedensbewegung entsteht. 

Entscheidend ist aber, wie diese Widersprüchlichkeit verstanden und welche politischen Konsequenzen dann aus der Abwägung der Widersprüche gezogen werden. So kann der mehrdimensionale Krieg, nicht auf einen „Stellvertreterkrieg“ zwischen Russland und den USA bzw. „dem Westen“ reduziert werden – das hieße die langjährige Herrschaftsgeschichte zwischen Russland und der Ukraine außen vor zu lassen und das Handeln der Menschen in der Ukraine auf eine abhängigen Variable der Weltpolitik zu reduzieren. Nichtsdestotrotz wird der Ausgang des Krieges um die Ukraine aber letztlich durch die imperiale Konfrontation zwischen den USA und China um die Vorherrschaft in einer sich verändernden Weltordnung überdeterminiert. Mögliche Ausgänge hängen maßgeblich von den Kräfteverhältnissen in und zwischen China und den USA, den strategischen Kalkülen in Washington und Peking ab (vgl. Solty 2022; Watkins 2022). Die Eskalationsgefahr, die sich aus dieser Dimension des imperialen Kampfes um die Weltordnung ergibt, ist aus meiner Sicht am Ende entscheidend für eine linke Haltung zu diesem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Dadurch, dass China in Richtung Moskau deutlich gemacht hat, es werde die Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen nicht dulden, ist der worst case eines Atomkrieges oder gar eines neuen Weltkrieges zwar weniger wahrscheinlich geworden. Auszuschließen ist er aber weiterhin nicht. 

Eine Dimension, die zu wenig betrachtet wird: Dieser Krieg ist ein „Vorbote“ auf sich verschärfende imperiale Konflikte im Zeitalter „des Endes der billigen Natur“, so Jason Moore (2023). Durch den Krieg und die sich verschärfende Blockkonfrontation rückt nicht nur eine globale Kooperation für eine sozial-ökologische Antwort auf die Klimakrise weiter in die Ferne (vgl. auch Mahnkopf 2022). Der Zusammenhang von Klimakrise, Ausbeutung fossiler Rohstoffe und der Aneignung von Öl- und Rohstoffrenten, einer sich verschärfenden imperialen Konkurrenz und atomarer Aufrüstung erhöht wiederum die Weltkriegsgefahr (vgl. Dörre 2023; Foster 2023; Moore 2023). Die vom Westen dominierte Weltordnung ist schon länger in der Krise und der Krieg fördert eine Polarisierung, in der sich auch autoritär-nationalistische Regime wie in Russland oder Indien als Stimme des globalen Südens inszenieren können (vgl. Dörre 2023). 

Zu den Widersprüchlichkeiten des Krieges gehört auch, dass ohne die vorherige Aufrüstung der ukrainischen Armee (vor allem, aber nicht nur durch die USA und GB nach der Annexion der Krim) Russlands Militär vermutlich größere Teile des Landes unter seine Kontrolle gebracht hätte. Seit Mitte 2022 verlängern westliche Waffenlieferungen nun de facto den Krieg, der um einige Hundert Quadratkilometer im Donbass, Luhansk und der Region Cherson geführt wird, mit vielen weiteren Tausend Todesopfern, traumatisierten Menschen und einer gigantischen Zerstörung der Infrastruktur. Würden diese Waffen- und insbesondere Munitionslieferungen von heute auf morgen eingestellt – und bliebe es zugleich bei Chinas Tolerierung des russischen Krieges – würde Russland den Krieg vermutlich weiter Richtung in Kiew ausdehnen und größere Teile des Landes besetzen. Die Ukraine müsste eher früher als später kapitulieren und der Krieg könnte sich in einen Bürger- oder Guerillakrieg verwandeln. Das wäre tatsächlich ein „Sieg“ für das imperiale Projekt des Putin-Regimes.

Noch nie seit dem Ende des 2. Weltkrieges war die Weltkriegsgefahr so groß. Dazu beizutragen, dass dieser Krieg möglichst bald endet, gehört auch deshalb zu den drängenden politischen Imperativen unserer Zeit.

Linke im Dilemma 

Zugleich ist die Linke in den direkt oder indirekt (USA, EU, China) beteiligten Staaten derzeit weit von einer wirkmächtigen gesellschaftlichen Mobilisierung für Deeskalation und gegen Waffenlieferungen und Aufrüstung entfernt. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe: Teile der (alten) Friedensbewegung grenzen sich nicht genug gegenüber dem autoritären Putin-Regime ab, um es vorsichtig zu formulieren. Aber auch das Gefühl der Ohnmacht gegenüber dem komplexen Weltgeschehen und eine Ratlosigkeit darüber, wie es zu den von der Friedensbewegung geforderten Verhandlungen kommen soll, schwächen die Linke. Trotz der weit verbreiteten Angst vor einer weiteren Eskalation (30 bis 60 Prozent der Bevölkerung machen sich Sorgen, dass sich der Krieg ausweiten und eskalieren könnte), tun sich viele mit der Frage der Waffenlieferungen schwer.[3] Das liegt auch daran, dass ein Verteidigungskrieg völkerrechtlich legitim ist. Gegen einen Angriffskrieg eines autoritär-rechten Regimes erscheint er vielen auch moralisch und politisch als ultima ratio.

Jürgen Habermas, der Waffenlieferungen und damit die Linie der SPD in der Bundesregierung unterstützte und zugleich vor der großen Eskalationsgefahr dieses Krieges warnte, hat öffentlichkeitswirksam eine genauere Bestimmung der Ziele der westlichen Kriegsunterstützung eingefordert. Sein Imperativ: Russland dürfe den Krieg nicht gewinnen, die Ukraine den Krieg nicht verlieren. Aber es müsse alles getan werden, um eine Eskalation des Krieges zu verhindern (vgl. Habermas 2023). Verhandlungen für einen Waffenstillstand und Waffenlieferungen seien daher kein Gegensatz, sondern letztere die Bedingung für Verhandlungen, die nicht einfach auf einen russischen „Siegfrieden“ hinauslaufen. Parallel zu der militärischen Unterstützung müsse es immer wieder diplomatische Initiativen und Verhandlungsbereitschaft geben. Die „westliche Allianz“ müsse ihre Kriegsziele definieren, die Rückeroberung der Krim durch die Ukraine gehöre auf Grund des Eskalationspotentials nicht dazu (ebd.). Diese konditionierte Unterstützung der Ukraine – begrenzte und an konkrete Kriegsziele gebundene Waffenlieferungen, aber keine direkte Kriegsbeteiligung der NATO – findet auch in Teilen der gesellschaftlichen Linken Resonanz (vgl. u.a. Schäfer 2023).[4] Diese Positionen unterschätzen aber aus meiner Sicht die in letzter Instanz unkontrollierbare Eskalationsgefahr und vernachlässigen oft die Dimension imperialer Konfrontation in Zeiten der Klimakrise und der neuen Blockkonfrontation. Vor allem aber bleiben die konkreten Bedingungen und Grenzen der finanziellen wie militärischen Unterstützung des ukrainischen Verteidigungskrieges oft unklar (anders: Achcar 2022; Schäfer 2023).

Es geht längst nicht mehr um die „Souveränität“ der Ukraine als Staat. Das Putin-Regime hat keine Aussichten mehr, die Ukraine kurz- und mittelfristig völlig zu unterwerfen.

Die Waffenlieferungen haben de facto zu einem militärischen „Patt“ (vgl. u.a. Haas/Kupchan 2023) geführt und aus dem schnellen russischen Angriff einen „Abnutzungskrieg“ gemacht.  Mit der ukrainischen Gegen-Offensive geht der Krieg in eine neue Phase über, die weitere Eskalationsrisiken birgt. Es geht längst nicht mehr um die „Souveränität“ der Ukraine als Staat. In dieser Hinsicht war der ukrainische Widerstand erfolgreich und das Putin-Regime hat auf Grund der Schwächung des russischen Heeres, das zudem in den besetzten Gebieten gebunden ist, keine Aussichten mehr, die Ukraine kurz- und mittelfristig völlig zu unterwerfen. Die Position der „konditionierten Unterstützung“ läuft Gefahr, hinter das zurückzufallen, was kritische Stimmen aus Militär und Diplomatie in den Nato-Staaten selbst einräumen: Weder kann die Ukraine diesen Krieg militärisch gewinnen, noch kann sie kurzfristig auf dem Verhandlungsweg ihr offizielles Kriegsziel – die vollständige Wiederherstellung der territorialen Integrität – erreichen.

Ringen um einen Exit im westlichen Lager

Relevante Teile der westlichen Allianz suchen nach Auswegen aus einem langen und kostenintensiven Krieg. Zeitpunkt, Ziele und die Initiative für Verhandlungen dürften nicht China oder dritten Akteuren überlassen werden, so lautet der Tenor, den etwa der ehemalige Chef der Münchner Sicherheitskonferenz Ischinger anschlägt (vgl. Ischinger 2023; auch Solty 2023a). Umstritten ist der richtige Zeitpunkt für Verhandlungen und die Frage territorialer Zugeständnisse der Ukraine. Ischinger argumentierte – auch als Reaktion auf die chinesische Verhandlungsinitiative und kritische Stimmen wie die von Jürgen Habermas –, der Zeitpunkt sei gekommen, wenn die Ukraine wichtige Kriegsziele (außer die Rückeroberung der Krim) erreicht hat und Verhandlungen müssten natürlich unter Führung der NATO geführt werden. 

Zuletzt forderten zwei prominente ehemalige Berater der US-Regierung einen Kurswechsel (vgl. Haas/Kupchan 2023). Vor dem Hintergrund des genannten militärischen „Patts“ plädieren sie für eine Doppelstrategie: Die USA und ihre Verbündeten sollten eine diplomatische Verhandlungsinitiative für das Ende des Jahres vorbereiten. Bis dahin sollten sie die ukrainische Gegenoffensive mit mehr Waffen unterstützen, um die Verhandlungsposition der Ukraine zu verbessern. Zugleich solle die ukrainische Regierung vor Ende des Jahres von Seiten der USA und der EU zu solchen Verhandlungen und auch zur Kompromissbereitschaft in territorialen Fragen gezwungen werden.[5] Die beiden finden deutliche Worte, die sich auch an die ukrainische Regierung richten dürften: „Die Ukraine sollte für Ziele, die wahrscheinlich unerreichbar sind, nicht ihre Selbstzerstörung riskieren. Am Ende dieser Kampfsaison werden auch die USA und Europa gute Gründe für eine Abkehr von ihrer erklärten Politik haben, die Ukraine – in den Worten von US-Präsident Joe Biden – 'so lange wie nötig' zu unterstützen. Die Ukraine als souveräne und sichere Demokratie zu bewahren, ist ein vorrangiges Ziel. Dafür muss das Land aber nicht kurzfristig die vollständige Kontrolle über die Krim und den Donbass zurückerlangen. Auch sollte sich der Westen nicht sorgen, wenn er vor der Rückeroberung des gesamten ukrainischen Staatsgebietes auf einen Waffenstillstand drängt – das wird nicht zum Zusammenbruch der regelbasierten internationalen Ordnung führen.“ (ebd.: 78)

Mehr Klarheit besteht im westlichen Lager hinsichtlich der Vorstellungen für eine von der NATO geprägte Nachkriegs-Ordnung: „Robuste Sicherheitsgarantien“ für die Ukraine durch NATO-Staaten, jedoch unterhalb der Schwelle des direkten Eingreifens der NATO im Verteidigungsfall, und eine langfristig angelegte, massive Aufrüstung der Ukraine. Sie sollen dazu beitragen, dass der Krieg dauerhaft eingefroren wird und Russland vor einem erneuten Angriff zurückschreckt. Die Sanktionen gegenüber Russland sollen auch nach einem Waffenstillstand in Kraft bleiben, bis zu einem vollständigen Rückzug der russischen Truppen (vgl. Zellner 2023). Wegen der Eskalationsgefahren und der notwendigen Zustimmung in allen NATO-Staaten erscheint der von Kiew und den baltischen Staaten geforderte NATO-Beitritt vorerst unrealistisch. Die NATO bemüht sich daher um eine selektive Integration der Ukraine. Der NATO-Ukraine-Rat als neu geschaffenes Instrument kann als Schritt in diese Richtung gewertet werden. 

Ein im Kontext des NATO-Gipfels im Juli veröffentlichtes Strategiepapier des Think Tanks Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) sieht die Aufnahme der Ukraine in die NATO zwar als „zentral“ an, skizziert aber zugleich einen „flexiblen Ansatz“, der in der NATO längst verfolgt werden dürfte (vgl. Klein/Major 2023): die Ukraine in die westliche Militärstruktur zu integrieren und NATO-Truppen in der Ukraine zu stationieren, vorerst ohne einen vollen Mitgliedstatus. Es gehe um "die Verstetigung, Intensivierung und langfristige Finanzierung von Waffenlieferungen" (ebd.), samt Aufbau der ukrainischen Rüstungsindustrie und massiver Stärkung der Rüstungsindustrie in den NATO-Staaten. Das Ziel dieser „lang­fristigen systematischen mili­tärischen Unter­stützung“ (ebd.) und Abschreckung knüpft an bestehende Überlegungen wie den Kyiv Secu­rity Compact an, der von dem früheren NATO-Generalsekretär Rasmussen und dem Leiter von Selenskys-Präsidialamt Yermak initiiert wurde. Er sieht eine enge militärische Abstimmung zwischen einer Kerngruppe von NATO-Staaten und der Ukraine vor – mit dem Ziel einer über „mehrere Jahrzehnte“ andauernden Hochrüstung der Ukraine durch NATO und EU (vgl. Kyiv Secu­rity Compact 2022). Dafür sollen die Aktivitäten von EU, G7 und den mehr als 50 militärischen Unterstützer-Nationen unter Führung der NATO koordiniert werden. Deutschland und der NATO-Standort Ramstein könne dabei eine große Bedeutung zukommen. Damit würde sich Deutschland in den nächsten Jahren zur "zentralen Verteidigungs- und Rüstungsnation in Europa wandeln“, so die SWP-Wissenschaftlerin Klein.

Der Ruf nach Verhandlungen reicht nicht mehr aus. Es geht längst um die Frage: Verhandlungen wann und zu wessen Bedingungen?

Ein solcher Pfad knüpft an die NATO-Strategie der letzten Jahre an und setzt Russland gegenüber ausschließlich auf Abschreckung statt auf Deeskalation und wechselseitige Sicherheit. Die Folge wäre eine weitere Aufrüstungsspirale und Eskalationsgefahren würden in die Zukunft verlängert werden. 

Ein Ausweg aus der Kriegs- und Aufrüstungsspirale

Der Ruf nach Verhandlungen und diplomatischen Initiativen, der Anfang dieses Jahres von unterschiedlichen Seiten (von China und Brasilien, vom Papst, von linken und sozialdemokratischen Intellektuellen) zu vernehmen war, reicht in dieser neuen Konstellation nicht mehr aus. Es geht längst um die Frage: Verhandlungen wann und zu wessen Bedingungen? Im Folgenden mache ich Vorschläge, wie eine linke Friedensinitiative aussehen könnte, die eine Alternative zu den oben beschriebenen Planungen in NATO-Kreisen darstellt. Es handelt sich um eine Skizze, die dazu beitragen soll, eine konstruktive linke Diskussion weiterzubringen. Sie beruht auf begründeten Prämissen hinsichtlich der Dimensionen, Szenarien und Kriegsziele der unterschiedlichen Akteure, die jedoch in Bewegung sind (vgl. zur Einschätzung der Dimensionen, Szenarien und Kriegsziele ausführlicher Becker 2023). Jan van Aken hat zurecht darauf hingewiesen, dass eine wichtige Erfahrung mit Friedensprozessen ist, dass am Ende Lösungen stehen können, die im Prozess noch nicht denkbar und sprechbar waren. Bei aller gebotenen Nachdenklichkeit, wann und zu wessen Bedingungen Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien aussichtsreich werden können, bleibt die Notwendigkeit, sich mit einer eigenständigen Position von links einzumischen.

Der einzige Ausweg aus einem jahrelangen Abnutzungskrieg und einer über das nächste Jahrzehnt hinweg schwelenden Konfrontation, die jederzeit in einen heißen Krieg kippen könnte, wäre eine Verhandlungslösung, die Sicherheitsgarantien für beide Seiten beinhaltet. Beiden Seiten müssen Zugeständnisse (gemessen an dem derzeitigen Frontverlauf) abverlangt werden, um den Krieg dauerhaft „einzufrieren“. Davon ausgehend müssten Verhandlungen über wechselseitige Sicherheit in Europa auf den Weg gebracht werden. Sicherheitsgarantien für die Ukraine und das Prinzip wechselseitiger Sicherheit müssen sich nicht ausschließen. Für relevante Teile der ukrainischen Bevölkerung sind territoriale Zugeständnisse eine Zumutung, das muss ernst genommen werden. Umso wichtiger sind verlässliche Sicherheitsgarantien und eine soziale Ausgestaltung des Wiederaufbaus in der Ukraine, die dazu beiträgt, die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Bevölkerung zu verbessern.

Die Frage der Sicherheitsgarantien für die Ukraine darf von links nicht länger vernachlässigt werden

Bei der Suche nach Wegen für Friedensverhandlungen darf die schwierige Frage der Sicherheitsgarantien für die Ukraine von links nicht länger vernachlässigt werden. Angesichts der sich abzeichnenden Exit-Strategie der NATO, die auf eine jahrelange Aufrüstungsspirale hinausläuft, braucht es Alternativen. Wer aber mehr Druck gegen weitere und dauerhafte (!) Waffenlieferungen und damit verbundene Eskalationsgefahren und die Stärkung des militärisch-industriellen Komplexes organisieren will, muss auch die größeren Teile der Bevölkerung überzeugen können, die sich solidarisch an der Seite der angegriffenen Ukraine positionieren. 

Territoriale Zugeständnisse und wechselseitige Sicherheitsgarantien

Wie könnten also Lösungen für die beiden Knackpunkte – territoriale Konflikte und Sicherheitsgarantien – aussehen? 

Territoriale Zugeständnisse 

Gilbert Achcar (2023) und Peter Wahl (2022) haben UN-kontrollierte Referenden über den Status des Donbass und der anderen nach 2022 annektierten Gebiete vorgeschlagen: „in Ermangelung eines Zusammenbruchs des Putin-Regimes, der die Situation radikal verändern würde, besteht die einzige Möglichkeit, Moskau dazu zu bringen, sich auf Dauer an die Bedingungen einer politischen Lösung zu halten, darin, dass diese über die UNO geregelt würde, wo sie sowohl Russlands als auch Chinas Zustimmung erforderte. Echte Selbstbestimmungsreferenden müssen von einem Gremium mit UNO-Mandat organisiert werden, zusammen mit der Stationierung von UN-Truppen in den umstrittenen Gebieten. Jeder andere Weg, den Krieg zu beenden, wäre höchstens eine kurze Pause in einem sich lange hinziehenden Konflikt, in dem nationalistische Ambitionen gegeneinanderstehen.“ (Achcar 2023)

Anders als das Minsker Abkommen hätte ein solches Verfahren den Vorteil, dass eine Lösung gefunden wird, die die Staatsgrenzen neu festschreibt und durch Sicherheitsgarantien festigen kann. So wird eine Strategie der De-Stabilisierung durch Bürgerkriege zumindest erschwert, wenn auch nicht verunmöglicht. Das ließe sich weiterdenken: Der Status dieser Regionen und die Sicherheit der dort lebenden Menschen müsste vertraglich zwischen Russland und der Ukraine, den USA, China und der EU sowie durch die UN festgehalten, und vermutlich auf einige Jahre durch UN-mandatierte Truppen (ansatzweise) geschützt werden. Sinnvoller wäre es aber, vor Selbstbestimmungsreferenden eine vertragliche Lösung für die von Russland annektierten Gebiete zu verhandeln und diese dann in Referenden abstimmen zu lassen. 

In dem mit der Türkei wenige Wochen nach Kriegsbeginn vereinbarten Verhandlungsangebot der Ukraine (der sogenannten Istanbuler Erklärung) steht sinngemäß: „Über den Status der Krim sollten die Seiten mit einem zeitlichen Horizont von 15 Jahren verhandeln, über den Status bestimmter Bereiche der Regionen Donezk und Luhansk die beiden Präsidenten. Die internationalen Sicherheitsgarantien sollten sich nicht auf die Gebiete erstrecken, deren Status noch nicht geregelt sei.“ (Zellner 2023, 91). Daran könnte angeknüpft werden – wobei die Ausgangsbedingungen heute schlechter sind.

Um Russland zu einem dauerhaften Waffenstillstand und zu deutlichen Teilrückzügen zu bewegen, könnte die Krim als Teil Russlands anerkannt werden. Das würde auch spätere Kriege um die Krim erschweren. Die Grenzverläufe des Donbass und Luhansk sollten von den beiden Regierungen verhandelt werden und in ein Friedensabkommen eingehen, über das dann als „Gesamtlösung“ in Volksabstimmungen in den Regionen und in den beiden nationalen Parlamenten entschieden werden könnte. Das würde allerdings mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass die Ukraine größere Teile des Donbass und der Südukraine verliert. Das wiederum würde bedeuten, dass größere Teile der vor dem russischen Krieg geflüchteten Menschen nicht dorthin zurückkehren könnten, wo sie vor dem Krieg gelebt haben (selbst, wenn das vertraglich anders geregelt würde). Dies wäre ein großer Verlust für viele. 

Wäre das ein „russischer Siegfrieden“? In den territorialen Grenzziehungen keineswegs uneingeschränkt. Denn auch Russland müsste sich im Rahmen einer Verhandlungslösung aus Teilen (!) der seit Beginn des Angriffskrieges 2022 besetzten Gebiete zurückziehen. Von Kapitulation könnte daher keine Rede sein. Ein solches Abkommen wäre für die Ukraine in territorialer Hinsicht besser als der Status quo und besser als ein langer Krieg mit noch mehr Opfern und weiterer Zerstörung der Infrastruktur. Dennoch würde eine solche Verhandlungslösung Territorialgewinne Russlands quasi festschreiben. 

Sicherheitsgarantien

Eine wichtige Auseinandersetzung um die Zukunft der Ukraine und der Beziehungen zwischen Russland und der EU dreht sich um die Ausgestaltung von Sicherheitsgarantien. Die NATO und G-7 diskutieren Sicherheitsgarantien für die Ukraine, die das Land auch ohne eine NATO-Mitgliedschaft de facto in deren Strukturen egrieren. Diese Sicherheitsgarantien beinhalten – wie argumentiert – dauerhafte Hochrüstung und militärische Logistik. Bisher bündnisneutrale EU-Staaten wie Österreich und Irland sehen militärische Beistandsgarantien der EU für die Ukraine zurecht kritisch. Sicherheitsgarantien müssten also auch von links genauer definiert werden. 

Denkbar sind neben der von der NATO vorangetriebenen militärischen Integration verschiedene Ausgestaltungen: Eine vertragliche Zusicherung einer Nicht-Angriffsgarantie durch Russland im Rahmen eines Friedensabkommens  – diese wäre aber im Angriffsfall ohne Folgen. Oder eine Beistandsgarantie der EU, die nach einem erfolgreichen Einfrieren des Krieges durch ein Friedensabkommen greift. Diese wäre – verbunden mit der perspektivischen Beistandsverpflichtung im Falle eines EU-Beitritts der Ukraine – eine wirksame Abschreckung. Die Beistandsklausel in den EU-Verträgen nach Artikel 42 Absatz 7 sieht im Falle eines "bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats" die anderen EU-Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, den Mitgliedstaat zu unterstützen. Im Unterschied zum NATO-Bündnisfall müssen sie nicht zwingend in den Krieg eintreten und es sind keine genauen Maßnahmen definiert. Das bedeutet, dass (u.a. bündnisneutrale) EU-Staaten sich auch auf rein zivile Maßnahmen beschränken könnten. Denkbar wären auch Sicherheitsgarantien durch ein von der UN-legitimiertes Bündnis von Garantiemächten, die im völkerrechtswidrigen Angriffsfall auch begrenzt Waffen liefern würden. Von links wäre vor allem die Forderung nach einem dauerhaft demilitarisierten Grenzstreifen auf beiden Seiten stark zu machen, der durch die UN oder die OSZE kontrolliert wird. Dieser allein schützt jedoch nicht vor Luftangriffen.

Der Konflikt könnte durch einen Waffenstillstand eingefroren und dieser Status dreifach abgesichert werden: 1. durch eine demilitarisierte Grenze, 2. durch eine von der UNO legitimierte Allianz unterschiedlicher Garantie-Staaten unter Einschluss Chinas und Brasiliens, die damit nicht einfach eine Verlängerung von NATO-Interessen wäre, und 3. eine verbindliche Beitrittsperspektive zur EU. Dies könnte eine Säule eines Exit-Plans darstellen.

Realistisch dürfte das nur sein, wenn erheblicher Druck auf die ukrainische Regierung aus Teilen des westlichen Bündnisses ausgeübt wird und Russland entweder militärisch in der Defensive ist oder spürbaren Druck aus China verspürt. 

Die Ukraine in die EU aufnehmen 

Thomas Meaney schreibt in einem lesenswerten Plädoyer: „Der Historiker Stephen Kotkin vertrat unlängst die Ansicht, dass die Ukrainer den Sieg eher als Beitritt zur Europäischen Union denn als vollständige Rückeroberung des gesamten ukrainischen Territoriums definieren sollten.“ (Meaney 2023). Vieles spricht dafür, dass am Ende eines Krieges eine de facto Teilung der Ukraine stehen wird. In der transnationalen linken Diskussion hat auch Volodomyr Ischenko einen EU-Beitritt als Alternative zu Eskalation oder Kapitulation vorgeschlagen. „Die schnellstmögliche Erreichung einer nachhaltigen Friedenslösung für die Ukraine ist der beste Weg, um dem Land zu helfen. Dafür braucht es keine leeren Worte der Solidarität und auch keine Ad-hoc-Unterstützung für einige marginale progressive Initiativen. Stattdessen muss die grundlegende Überarbeitung der Sicherheitsarchitektur in Europa auf der Agenda der Linken bleiben. Die Konfrontation zwischen der NATO und Russland hat sich als Katastrophe erwiesen. (…) Es gehe darum, einen politischen Kompromiss aushandeln. Die EU ist den Ukrainer*innen etwas schuldig, muss ihnen nach all den leeren Versprechen der letzten Jahre etwas anbieten – etwa die EU-Mitgliedschaft. Dies würde es Selenski erlauben, einen Sieg zu verkünden, unabhängig vom Kriegsausgang. Die Ukraine müsste nicht einfach kapitulieren, sondern könnte auch etwas erreichen.“ (Ishchenko 2022b). 

Klar ist: Bereits vor dem Krieg hat die EU unter anderem mit dem neoliberal geprägten Assoziierungsabkommen und der gezielten Finanzierung liberaler bis nationalistischer zivilgesellschaftlicher Organisationen eigene imperiale Interessen in der Ukraine verfolgt. Im Zusammenhang mit einem möglichen EU-Beitritt wird von der Ukraine als Beitrittskandidatin Austerität in Bezug auf Sozialleistungen und auch eine effektivere „Korruptionsbekämpfung“ gefordert. Letzteres klingt selbstverständlich, aber zugleich geht es um die weitere Öffnung der ukrainischen Wirtschaft für europäische und westliche Investoren und um die entsprechende Entmachtung von jenen Kapitalfraktionen und Oligarchen, die dem bisher im Wege standen (vgl. auch Ishchenko 2023). In Bezug auf eine Stärkung sozialer Rechte und Demokratisierung ist von den dominierenden Kräften in der EU nichts zu erwarten. Fortschritte und Druck auf die ukrainische Regierung könnte es hinsichtlich der Situation russischsprachiger Menschen und liberaler Grundrechte wie der Meinungsfreiheit und Rechte von LGBTIQ geben (vgl. ebd.). 

Risiken und Fallstricke

Natürlich bestehen Fallstricke und Risiken, die näher diskutiert werden müssen: Wie kann verhindert werden, dass die EU direkte Kriegspartei in einem zukünftigen Ukraine-Krieg wird? Hier käme es auf neue Sicherheitsverträge und auf die Ausgestaltung von Beistandsgarantien ohne direktes Eingreifen von Truppen aus EU-Ländern an. Im Zuge des Krieges hat sich die EU noch enger an die NATO und ihre Aufrüstungspolitik gebunden. Meaney verweist darauf, dass mit Ausnahme der Länder, die während des Kalten Krieges neutral waren, bisher jedem EU-Beitritt eine Mitgliedschaft in der NATO vorausging. Insofern wäre eine Umsetzung dieses Vorschlags historisches Neuland – und könnte vielleicht ein Einstiegspunkt in eine Perspektive europäischer Eigenständigkeit von links sein. Die gesellschaftliche Linke müsste eine Alternative zur neuen Blockkonfrontation, zur Rolle der NATO und zur imperialen Verfasstheit und Militarisierung der EU stark machen und auch erzählen können. Zugleich müsste sie deutlich machen, dass ihr die Sicherheit und Zukunft der Menschen in der Ukraine und in den osteuropäischen Staaten nicht egal ist. Eine solche „dritte Position“ würde zwar ein Umdenken und Aufeinander-zu-gehen in der linken Diskussion erfordern. In der neuen Phase des Krieges könnte sie aber zu einer größeren gesellschaftlichen Resonanz beitragen, wenn sie zugleich den Zusammenhang von Krieg, imperialer Konfrontation und Klimakrise stärker ins Bewusstsein rufen würde. 

Schwieriger ist die Frage beidseitiger territorialer Zugeständnisse. Denn natürlich ist es völlig legitim, besetzte Gebiete zurückzufordern und überzeugend, dass letztlich die ukrainische Bevölkerung souverän über die Grenzen des Landes entscheiden sollte. Völlig zurecht erhoffen sich Linke in der Ukraine, „ein Ende des Krieges, dass es möglich macht, dass eine ukrainische Linke tatsächlich auch nach dem Krieg weiter existiert. Sie wünschen sich auch, dass man sie in linke Debatten darüber, wie denn eine andere Weltordnung aussehen könnte, einbezieht. Sie wollen, dass der Eroberungskrieg Russlands endet und ihr Land wieder aufgebaut wird, ohne weiterhin militärischer Gefahr durch Russland ausgesetzt zu sein.“ (Georgiev 2023, 21). Dabei befürchten sie, dass der Krieg zu Bedingungen enden könnte, die den Nationalismus im Land weiter verschärfen und linke Kräfte existentiell bedrohen würden (vgl. ebd.). Diese Gefahr ist real. Zugleich würde auch ein langer Krieg die nationalistische Mobilmachung und Verhärtung fördern. Aus diesem Widerspruch gibt es keinen einfachen Ausweg. Ein Waffenstillstand und entsprechende Bedingungen, samt Sicherheitsgarantien, müssten für die ukrainische Regierung vermittelbar sein. Zugleich würden sie von rechts sicherlich angegriffen werden. Sicherheitsgarantien und soziale Bedingungen des Wiederaufbaus können dabei helfen; alleine kann die marginalisierte ukrainische Linke diese Auseinandersetzungen kaum bestehen. 

Der hierzulande den Mainstream prägende Diskurs einer Verteidigung der ukrainischen Souveränität und Demokratie (gegen Putins autoritäres Regime) verstellt aber den Blick auf die Auseinandersetzungen in der Ukraine und auf das militärisch-politische Kräfteverhältnis: Die ukrainische Regierung kann, wenn überhaupt, die anerkannten territorialen Grenzen des Landes nur um den Preis eines langjährigen Krieges mit unkontrollierbaren Eskalationsgefahren erreichen. Ein jahrelanger Krieg würde die Bedingungen für einen sozial-ökologischen Wiederaufbau und für eine Demokratisierung des Landes jedoch verschlechtern statt verbessern.

Anders als in den Diskursen von NATO, EU und ukrainischer Regierung ginge es um eine sozialökologische Perspektive und mehr demokratische Souveränität der Lohnabhängigen

Territoriale Zugeständnisse der Ukraine im Gegenzug zur Perspektive eines möglichst schnellen EU-Beitritts bedeuten nicht, dass die Ukraine ihre „Souveränität“ verliert. Ein in die neoliberal-imperiale EU eingebundenes Land der Semi-Peripherie ist nur begrenzt souverän. Anders als in den Diskursen der NATO, der EU und der ukrainischen Regierung ginge es um eine sozial-ökologische Perspektive für mehr demokratische Souveränität der Lohnabhängigen und marginalisierten Teile der Bevölkerung. Auch wenn diese in einem peripherisierten Land mit starken Klassengegensätzen immer eingeschränkt sein wird. Mit einer reinen Souveränitäts-Argumentation geraten jedoch auch die weiteren Dimensionen des Krieges aus dem Blick (vgl. auch Solty 2023b), etwa die Folgen eines jahrelangen Krieges für die sozial-ökologische Krise. Die gesellschaftliche Polarisierung und die Tendenzen autoritärer Rechtsverschiebung in der EU wie in anderen Ländern werden nicht mit dem Krieg enden. Aber ein langer Krieg fördert Militarisierung und verändert Mentalitäten. Die mit einem „Kriegsregime“ (Cedillo 2023) einhergehende patriarchal-nationalistische Subjektivität verschlechtert die Bedingungen für Emanzipations- und Demokratisierungsbewegungen weiter.

Elemente einer linken Friedensinitiative 

1) Verhandlungen statt weitere Waffenlieferungen

Weitere Waffenlieferungen an die Ukraine würden den Krieg verlängern. Der Stopp von Waffenlieferungen ist daher ein zentrales Druckmittel, um zu Verhandlungen für einen dauerhaften Waffenstillstand zu kommen. Auch nicht-nur-humanitäre Finanzhilfen für die Ukraine sollten an die Bereitschaft gebunden werden, an Waffenstillstandsverhandlungen teilzunehmen. Vermittler für Waffenstillstandsverhandlungen sollten nicht primär NATO-Staaten sein. Sie könnten stattdessen eine ausgewogen zusammengesetzte und von der UN mandatierte Gruppe von Repräsentant*innen aus Staaten sein, die der UN-Resolution zur Verurteilung des russischen Angriffs-Krieges zugestimmt haben und die zugleich keine Waffen liefern, dazu die USA und Frankreich, China und Brasilien.

2) Waffenstillstand durch UN absichern

Eine UN-mandatierte Überwachung eines Waffenstillstands entlang der bisherigen (!) Frontlinie wäre zentral. Es ginge zudem um begrenzte dauerhaft demilitarisierte Zonen entlang beider Seiten der Grenze. Wolfgang Zellner verweist auf die hohen Kosten in Milliardenhöhe, an denen Russland bzw. die Oligarchen in Russland beteiligt werden müssten (vgl. Zellner 2023: 94). Dazu käme, dass mögliche Angriffe auf UN-Beobachter ein hohes Eskalationspotential aufweisen. 

3) Wechselseitige Sicherheitsgarantien und EU-Beitritt statt Hochrüstung 

Die Ukraine braucht Sicherheitsgarantien, die einen erneuten Angriffskrieg de facto unmöglich machen (s.u.). Und Russland bräuchte eine Nicht-Angriffsgarantie, die sowohl  den Status der Krim betrifft wie auch Teile der derzeit annektierten Gebiete. Im Gegenzug würde sich Russland aus anderen Gebieten zurückziehen. Teil der Vereinbarung müsste auch eine russische Nicht-Angriffsgarantie für die Nachbarländer Russlands und für die EU-Staaten sein. Die NATO müsste auf die Hochrüstung der Ukraine mit Panzern, Kampfflugzeugen und Langstreckenraketen-Systemen sowie auf die Stationierung von Nato-Truppen verzichten, die Ukraine hingegen auf einen NATO-Beitritt. Russland wiederum müsste sich zu Rüstungskontrollen verpflichten. 

Ein Friedensvertrag könnte zum einen durch ein von der UN mandatiertes Bündnis von Staaten garantiert werden, darunter die USA und China. Das Bündnis würde bei einer Verletzung des Vertrages diplomatische Initiativen zur Vermittlung starten – und im Falle eines von der UN-Vollversammlung verurteilen Angriffskrieges konkret definierte Unterstützung für das angegriffene Land zusagen. Zum anderen würde ein EU-Beitritt die Ukraine unter den Schutz der Beistandsverpflichtung der EU stellen. Anders als der Bündnisfall in den NATO-Verträgen schreibt die EU keine direkte Kriegsbeteiligung vor, sondern hält die Mittel der Unterstützung offen. Damit würde der EU-Beitritt die Hürden für einen erneuten russischen Angriffskrieg erheblich erhöhen. Das Prinzip doppelter Sicherheitsgarantien für die Ukraine wäre eine Alternative zum NATO-Vorschlag einer jahrelangen Aufrüstung, wenn es mit der Forderung nach Abrüstung in der EU und auf allen Seiten verbunden wird (vgl. auch die „Minus10%“-Kampagne). 

Ein „gerechter Frieden“ wäre das nicht, aber der ist im gegenwärtigen militärischen und imperialen Kräfteverhältnis nicht ohne Brüche möglich

Ein „gerechter Frieden“ wäre das nicht – aber ein solcher ist realistisch betrachtet in dem gegenwärtigen militärischen Kräfteverhältnis und der imperialen Konfrontation zwischen USA, EU, Russland und China nicht ohne Brüche  möglich. „Wechselseitige Deeskalation“, also Zugeständnisse in territorialen Fragen und Schritte hin zu wechselseitiger Sicherheit sind stattdessen die einzigen Auswege aus der enormen Eskalationsgefahr dieses Krieges. Eine linke Position muss mit diesem Widerspruch offensiv umgehen – und könnte zugleich im Sinne „revolutionärer Realpolitik“ zwei darüber hinausweisende Vorschläge stark machen:

4) Wiederaufbau nach Krieg und Krise 

Es geht um ein besseres Leben für die Menschen in der Ukraine, in der EU und in Russland. Der Wiederaufbau in der Ukraine muss die soziale Infrastruktur, soziale Rechte und Armutsbekämpfung, die Energiewende, ein sozial-ökologisches Investitionsprogramm und die Demokratisierung in den Mittelpunkt stellen, anders als die bisherigen Pläne für einen Wideraufbau, die unter Beteiligung des IWF und der Alliierten USA und EU bereits verhandelt werden (vgl. Roberts 2023).[6] Notwendig ist auch ein umfassender Schuldenschnitt. Eine entsprechende Kampagne, die sich allen voran an den IWF und die Weltbank, aber auch die EU-Kommission und die EU-Staaten richtet, wird von der ukrainischen Linken unterstützt, die zudem soziale Garantien beim Wiederaufbau fordert (vgl. Georgiev 2023). 

Angebote für eine sozial-ökologische Wirtschaftskooperation sollten auch an Russland gemacht werden (vgl. u.a. Scheidler 2023). Deren Umsetzung (genauso wie ein sozial-ökologischer Wiederaufbau in der Ukraine) hängt jedoch von einer derzeit nicht absehbaren Demokratisierung des Landes ab. 

Diese Vorschläge wären angesichts von Inflation, Prekarität, Wohnungsnot und den spürbaren Folgen der Klimakrise in vielen europäischen Ländern mit Forderungen für soziale Garantien, radikale Umverteilung, Abrüstung und einen sozial-ökologischen Umbau in der EU zu verbinden. Eine linke Perspektive muss deutlich machen, dass die Oligarchenvermögen in Russland und in der Ukraine (sowie die der Multi-Millionäre hierzulande) zur Finanzierung des Wiederaufbaus herangezogen werden müssen. Die Kosten von Wiederaufbau und Nachkriegsordnung dürfen nicht auf die Lohnabhängigen hierzulande abgewälzt werden.

5) Eine neue Initiative für Sicherheit und Zusammenarbeit zwischen der EU, Russland und China

Mit einem Friedensvertrag sollte auch der Einstieg in (mittelfristig angelegte) Bemühungen um ein neues Sicherheitsabkommen zwischen EU, Russland und China, vor allem mit Nicht-Angriffs-Garantien und Regelungen zur Rüstungskontrolle, verknüpft werden. 

Die LINKE hat eine Neuauflage des KSZE-Prozesses gefordert, und spricht von einer „neuen Konferenz für Sicherheit, Umwelt- und Energiepolitik und Zusammenarbeit 2.0, die aktiv Wege und Mechanismen für eine neue Sicherheitskonzeption auf dem europäischen Kontinent erarbeitet. Von einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur war Europa schon vor dem Krieg weit entfernt, auch der Westen war daran nicht unbeteiligt, durch den russischen Angriff ist sie vollends zerbrochen.“ Der damit verbundene Gedanke: Ein dauerhafter Frieden funktioniert nicht ohne eine neue sicherheitspolitische wie wirtschaftliche Grundlage. Sozial-ökologisch ausgerichtete Friedens und Kooperationsabkommen müssten Russland und China einbeziehen. Russland müssten in den Verhandlungen über wirtschaftliche Beziehungen auch Auswege aus der Abhängigkeit einer fossilen Rentier-Ökonomie eröffnet werden. 

Ausblick

Die Frage, wie eine neue europäische Friedens- und Sicherheitsordnung aussehen könnte, welche die sich verschärfende imperiale Konfrontation zumindest (zeitweilig) einhegen kann, bleibt dringend weiter zu diskutieren (vgl. Jokisch 2023). Nüchtern muss jedoch eingeräumt werden, dass bei den genannten Akteuren für einen solchen KSZE-Prozess nicht nur der politische Wille fehlt. Die verschärfte imperiale Konkurrenz ist in Zeiten der Vielfachkrise des fossilen Kapitalismus und der Krise der US-Hegemonie im Vergleich mit den 1970er Jahren eine völlig andere Voraussetzung für „Entspannungspolitik“. Von Deeskalation und Annäherung sind heute das Putin-Regime wie die NATO weit entfernt. Fraglich ist dabei auch, ob und unter welchen Bedingungen sich der russische Machtblock auf Sicherheitsgarantien für die Nachbarländer und Osteuropa einlassen würde, also bereit wäre, den status quo in der Nachbarregion zu akzeptieren. Entscheidend dafür dürften zum einen die Auseinandersetzungen in Russland selbst, zum anderen eine Eigenständigkeit Europas gegenüber den USA sein. Die Frage nach einer neuen wirtschaftlichen Basis für sozial-ökologische Kooperation, nach wechselseitiger Sicherheit und Frieden ist damit aufgeworfen, aber längst nicht beantwortet. Von links wäre es wichtig, die Perspektive einer sozial-ökologischen Deeskalationspolitik sowohl von der Instrumentalisierung des Klimaschutzes für imperiale Politik der EU abzugrenzen wie auch von der Idee eines „eurasischen Bündnis“ mit dem Putin-Regime. Es ginge um eine radikal-reformerische Alternative zur globalen Blockkonfrontation und darum, mit der Jagd auf Rohstoffe und Absatzmärkte im „endgame“ des fossilen Kapitalismus zu brechen. Es geht um Demokratisierung, soziale Rechte und einen sozial-ökologischen Umbau, in Russland wie in der Ukraine, in China wie in der EU. 

Zeitgemäße anti-imperialistische Perspektiven wie die des spanischen Intellektuellen Raúl Sánchez Cedillo gehen indes weiter und betonen angesichts der neuen Phase imperialer Konfrontation die Notwendigkeit von Brüchen mit dem „Kriegsregime“ und von Brüchen mit den damit verbundenen kapitalistischen Eigentumsverhältnissen und einer zunehmend autoritären staatlichen Transformation. Cedillo (2023) fomuliert dies als Horizont eines „konstituierenden Friedens“. Eine sozial-ökologische Entspannungspolitik und ein erneuerter ökologisch-sozialistischer Anti-Imperialismus, der sich kritisch von der Perspektive eines Multilateralismus imperialer Akteure absetzt – die Punkte markieren die Spannbreite für die Suche nach linken Antworten auf die mit dem Ukraine-Krieg eingeläutete „Zeitenwende“. Weitere Diskussionen sind hier dringend notwendig, um zu einer erneuerten Friedensbewegung beizutragen, die sich stärker als Klima-, Gerechtigkeits- und Friedens-Bewegung verstehen sollte. Eine solche wird angesichts der wachsenden Kriegsgefahren in diesem Jahrzehnt dringend gebraucht. Eine epochale Aufgabe liegt vor uns, für deren Lösung es die Bereitschaft zu einer solidarischen Kooperation unterschiedlicher linker Kräfte braucht und den Willen, einige offene wie unbequeme Fragen zu diskutieren. 

Im Herbst, wenn die Aussichten der ukrainischen Offensive absehbarer sind, könnte sich die gesellschaftliche Diskussion hierzulande erneut verändern und ein neues Fenster für ein Eingreifen von links öffnen. Der Ruf nach Verhandlungen allein reicht nicht mehr. In einer Situation, in der Teile der westlichen Allianz um Auswege aus dem Krieg ringen und zugleich immer mehr schwere Waffen für einen jahrelangen Krieg geliefert werden, sollte sich die gesellschaftliche Linke stärker als bisher für „wechselseitige Deeskalation“ und Sicherheitsgarantien, für europäische Eigenständigkeit gegenüber der NATO und für eine sozial-ökologische Friedenspolitik einsetzen.

Erschienen in LuXemburg Online: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/friedensinitiative/

Juli, 2023

 

Anmerkungen

[1] Für gute Hinweise, Ergänzungen, Diskussion und kritisches Feedback danke ich Jan van Aken, Mario Candeias, Sophie Dieckmann und Barbara Fried.

[2] Ich habe mich als trans*feminine Person und kritisch marxistische Wissenschaftler*in selbst schwergetan, mich zu den Widersprüchen des Ukraine-Krieges zu positionieren. Schreiben lässt sich niemals von der eigenen Verortung in der Welt trennen. Ich versuche mich über die schwierige Lage von queers* angesichts von Ausnahmezustand und Besatzung und über die Diskussionen der ukrainischen Linken zu informieren. Ich weiß aber auch um die Verfolgung von queeren und trans* Menschen durch das Putin Regime, das weltweit trans* und queerfeindliche, rechte und rassistische Bewegungen und Kräfte finanziert und nicht weniger als „unsere“ Auslöschung zum Ziel hat. Ich halte aber die Vorstellung, dass diese Verhältnisse durch Krieg und den Sturz des Putin-Regimes von außen überwunden werden könnten, für gefährlich. Linke Imperialismuskritik darf weder in eine (indirekte) Parteinahme zugunsten autoritärer Regime noch in die Akzeptanz von Militarisierung umschlagen. 

[3]  Etwa ein Drittel sieht weitere Waffenlieferungen an die Ukraine kritisch.

[4] Weiterreichender Balibars Plädoyer für eine militärische Verteidigung der Souveränität der Ukraine durch die NATO 2022. 

[5] Auch der amtierende Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz Heusgen hatte sich zusammen mit anderen NATO-Experten für eine Intensivierung von Waffenlieferungen einschließlich Kampfflugzeugen ausgesprochen. Allerdings ohne baldige Friedensverhandlungen (vgl. Heusgen u.a. 2023).

[6] Parallel deutet sich an, dass der Wiederaufbau, dessen Kosten auf 500 - 700 Mrd. Euro geschätzt werden, nicht nur staatliche Hilfeleistungen des Westens notwendig machen wird, sondern auch ein ökonomischer Umbau nach neoliberalem Muster sein soll, dominiert von westlichen Konzernen und Investoren. (vgl. Roberts 2023 sowie den offiziellen Ukraine National Recovery Plan 2022) und die Ergebnisse der Konferenz von Lugano im Juli 2022.

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