Ein klösterlicher Rückzug ist nicht möglich. Zur Debatte Soziale Bewegungen

Eine Entgegnung auf Franco "Bifo" Berardis Thesen

in (13.01.2010)

Ein Blick in die Ausgabe von Focus on Trade (Nr. 42), die direkt nach dem Scheitern der WTO-Verhandlungen 1999 erschien, zeigt: nicht triumphierender Jubel über die Erscheinung einer Antiglobalisierungsbewegung charakterisiert Walden Bellos einleitenden Beitrag, sondern eine sorgsame Wiedergabe des Scheiterns der Gespräche an den Streitpunkten Transparenz, Umwelt- und Arbeitsstandards und einer verärgerten afrikanische Delegation. Die beeindruckenden Demonstrationen werden selbstverständlich erwähnt, etwa der Marsch der 1000 zum Bezirksgefängnis, um die Freilassung von mehr als 400 Aktivisten zu fordern. Aber es gibt keinen Hinweis auf eine Art Folklore bzw. den Mythos des sog. Battle of Seattle. Doch sicher ist, die WTO hat sich nie vom Scheitern in Seattle erholt und wird es vielleicht niemals. Wir bekamen einen Eindruck davon, wie verletzlich eine machtvolle internationale Organisation aufgrund eigener Widersprüche sein kann, von der potenziellen Wirksamkeit durchdachter Strategien von ‘innen' und ‘außen'. Bei den Folgetreffen in Cancun und Hongkong setzten sich die Erfahrung und der Mythos fort. Der tragische Protest-Selbstmord von Lee Hyung-kae und die heroischen Campesinas in ihrem farbenprächtigen Tüchern bei der Blockade der Tore zum Verhandlungszentrum haben bewiesen: die Legitimation der WTO zu erschüttern ist möglich. In Hongkong prägten koreanische Bauern das Bild, ehrten die Erde mit zeremoniellen 10 Schritten, verneigten sich und sprangen von Booten in die kalten Wasser der Hafens, um zum Tagungszentrum der versammelten Minister zu schwimmen.
Ich war an keinem dieser Orte und doch gehören diese Momente zu meiner Geschichte, ebenso wie die Ereignisse in Prag, Genua oder Quito, wo ich die Kombination von Tränengas und schwarzen Block erfahren konnte, die zugegebenermaßen einen gewissen Adrenalinschub auslöst. Genua markiert eine besondere Erfahrung: wir gingen zusammen und glorreich durch das Feuer. Die außerordentliche Solidarität die wir angesichts von polizeilicher Gewalt und der Respekt für Carlo Guliani erlebt haben, hinterlässt bleibende Spuren.
Das erneute Lesen unserer Geschichte(n) macht mir Gänsehaut: etwas zieht sich durch unsere jeweiligen Versuche, den Widrigkeiten mit Humor, Kreativität und Überzeugung zu begegnen. Wir experimentierten mit neuen Formen Politik zu machen, schufen groß(artig)e Projekte wie das Weltsozialforum und wir haben Wirkung entfaltet, im Kleinen wie im Großen. Am letzten Tag des WTO-Treffens in Hongkong zirkulierte ein ‘Dankesschreiben an unsere internationalen Freunde' (der ‘Group of Hongkong People'): „Danke für eure Geduld, uns und unseren Medien die verheerenden Effekte der WTO verdeutlicht zu haben, obwohl eure Stimmen in den örtlichen Medien verunstaltet und unterdrückt wurden. Danke, dass ihr uns mit euren Schritten den Wert und die Bedeutung von Solidarität wieder vorgeführt habt. Nur durch die wechselseitige Solidarität, Unterstützung und Kämpfe mit langem Atem kann Demokratie real werden."
Sind es wirklich erst zehn Jahre seit Seattle? So viel ist geschehen, so vieles hat sich verändert (mich eingeschlossen). Sicher waren wir nicht in der Lage, den geschichtlichen Moment der Krise von 2008 zu nutzen, um den Kapitalismus in die Knie zu zwingen, noch haben wir den Irak-Krieg gestoppt. Doch wir konstruieren eine (nicht-sektiererische) globale Bewegung mit bestimmten geteilten Werten und Zielen, Nord und Süd verbindend, mit neuen Formen der Kooperation, die über einzelne Demonstrationen oder Kampagnen hinaus gehen. Zuletzt bereiteten wir uns auf den Weltklimagipfel 2009 in Kopenhagen vor - und zu spüren ist dieselbe Energie und der gleiche Enthusiasmus der uns bei beim Blockieren der WTO oder dem Aufbau des Weltsozialforums trieb. Die entstehende Bewegung für Klimagerechtigkeit ist etwas Reales. Ihre Wurzeln reichen bis Seattle und Porto Allegre.
Daher ist Franco Berardis Pessimismus frustrierend. Obwohl noch soviel Arbeit zu tun ist, empfiehlt er uns, in Klöster zurück zu ziehen. Er klingt eher wie ein nicht ans Überleben Glaubender als wie ein lebensbejahender Streiter für Veränderung. Was genau möchte er in den Klöstern bewahren? Wer gehört zur kleinen Elite, die es Wert ist, gerettet zu werden? Was ist mit den an AIDS erkrankten Menschen, die Kampagnen gegen die Patentierung von Medikamenten organisierten? Was ist mit den landlosen Frauen in Brasilien, die in den frühen Morgenstunden mit ihren Macheten Hektar von Eukalyptus schneiden? Was ist mit den indigenen Völkern, die Hunderte ihrer Schwestern und Brüder verloren, um ihr Land, Wasser und Leben zu verteidigen? Was ist mit jenen, die einfach nur Evo Morales wählten? Was ist mit den gegen Umsiedlung und Vergiftung ihrer Umwelt kämpfenden Townshipbewohnern in Durban? Was ist mit den verlassen Menschen von New Orleans? Etc.
Die Aufgabe die uns Bifo stellt, „die Redefinition der Verständnisses von ‘gutem Leben', Wohlstand und Glück", ist eng euro-zentristisch und traurig. In anderen Teilen der Welt - vielleicht weit entfernt von Bifos Lebensmittelpunkt - leben Familien, Gemeinden, Frauen und Männer alltäglich ihr Verständnis von Glück und gutem Leben, gegen die Widrigkeiten alltäglicher Unterdrückung und konfrontiert mit Militarismus, Kapitalismus, Patriarchat und Rassismus. Statt im Kloster nach Sinn zu suchen oder eine weitere (westliche) Erzählung der Geschichte zu schreiben, könnte Genosse Bifo mit uns in die Niederungen des alltäglichen Kampfes steigen und sich die Hände schmutzig machen. Komm mit uns nach Kopenhagen! Werde Teil der globalen Bewegung für Klimagerechtigkeit! Dies mag vielleicht kein Wendepunkt wie Seattle sein, doch zumindest holt es dich aus deiner bedrückenden Selbstbeschau heraus.

 

Der Beitrag erschien in Heft2/2009, S.12ff. als Teil der Debatte "Von Seattle nach Kopenhagen - Herausforderungen der globalen sozialen Bewegungen" und in diesem Zusammenhang als eine Entgegnung auf Franco "Bifo" Berardis Beitrag Zehn Jahre nach Seattle: Rückzug in sichere Häfen