Globale Experimentierfelder

Die Globalisierung klinischer Studien ist Teil eines grundlegenden Wandels in der Arzneimittelforschung. Es entstehen neue Akteursformen und neue Formen der Regulierung.

Auf dem Gelände des Berliner Westend-Klinikums bietet die Firma Parexel seit acht Jahren Fortbildungen und einen Studiengang in klinischer Forschung an. Hier kann man einiges über die gegenwärtigen Verschiebungen und Reibungspunkte dieses ethisch und politisch sensiblen Bereichs zwischen der Laborentwicklung eines neuen Medikaments und seiner Marktzulassung lernen: Neben „Zeitmanagement” steht interkulturelle Kommunikation und „alltägliche Konfliktsituationen mit Prüfärzten” auf dem Programm. In straffen drei Jahren erwerben Studierende einen Bachelor-Abschluss in „klinischer Forschung” - sie können dann im Auftrag wissenschaftlicher StudienleiterInnen an Unternehmen oder akademischen Einrichtungen medizinische Experimente an Kranken und Gesunden durchführen. Die Studiengebühren in Höhe von 700 Euro monatlich dürften manchen Interessenten von diesem Weg abhalten. Den übrigen winkt ein Studienkredit der Deutschen Bank und „Job-Garantie”.(1)

Dienstleistungsfirmen machen Karriere
Parexel ist eines der erfolgreichsten Unternehmen auf einem derzeit boomenden Marktsegment: der Auftragsforschung. Hier bieten spezialisierte Dienstleistungsfirmen Pharmakonzernen oder wissenschaftlichen Einrichtungen eine effiziente, soll heißen zeit- und kostensparende Abwicklung der Entwicklung und Testung neuer medizinischer Produkte an.
Auftragsforschungsinstitute (auf Englisch: Contract Research Organizations, CROs) sind Knotenpunkte zweier radikaler Umstrukturierungsprozesse in der Arzneimittelforschung, die sowohl die Form als auch die Zielsetzung klinischer Studien verändern: einerseits die wachsende Kommerzialisierung und Privatisierung von Arzneimitteltests, inklusive der Ausgliederung unterschiedlicher Arbeitsschritte an Dienstleistungsunternehmen; andererseits die zunehmende Verschiebung groß angelegter und „ressourcen-intensiver” Wirksamkeitsstudien in wirtschaftlich schwächere Regionen, allen voran Russland, Indien, China, Südosteuropa und Lateinamerika. In beiden Entwicklungen nehmen CROs neben weiteren Akteuren, wie Rekrutierungs-Spezialisten oder Site-Management-Organisationen eine Schlüsselrolle ein. Sie werben damit, Pharmaunternehmen all jene Tätigkeiten abzunehmen, die die Entwicklungskosten für neue Medikamente in die Höhe treiben: die Identifizierung geeigneter Studienorte und Patientengruppen; den Briefwechsel mit dem Ethikkomitee; die Überwachung (Monitoring) des Studienablaufs; die Auswertung der Studienergebnisse; das Management der Daten. Auch Publikationen werden immer öfter von Ghostwritern übernommen, also von Schreibagenten, die unter dem Namen der StudienleiterInnen Artikel für einschlägige Fachzeitschriften abfassen. Marketing ist das Spezialgebiet der CROs - mit der Folge, dass die Grenzen zwischen klinischer Forschung und Produktwerbung verschwimmen.
Dieses Ausmaß an Zergliederung der medizinischen Forschung ist relativ neu. Zwar gab es schon in den frühen 1970er Jahren „kleine Auftragsboutiquen”, die klar begrenzte Tätigkeiten für Pharmafirmen übernahmen.(2) Mittlerweile haben sich jedoch nicht nur die Einsatzfelder stark erweitert; der Trend geht dahin, dass sie die akademischen Forschungszentren als traditionelle Orte klinischer Forschung verdrängen.(3) Dies ist nicht nur ein Problem zunehmender Kommerzialisierung (auch akademische Einrichtungen werben Drittmittel ein und arbeiten mit Auftraggebern aus der Industrie zusammen); klinische Forschung wird auch immer mehr zu einer arbeitsteiligen Produktionskette mit dem Ziel der Marktzulassung - in deren Verlauf nicht nur Aufgaben, sondern auch Wertbestimmungen und Verantwortlichkeiten abgegeben werden. CROs zeichnen sich in erster Linie durch einen pragmatischen Umgang mit Forschungszielen und Ethik aus. Es geht darum, Investoren zufrieden zu stellen, das heißt, „harte”, quantifizierbare Daten zu erheben, nicht um akademische Lorbeeren. Dadurch verändert sich auch das Selbstverständnis medizinischer Forschung: Die Wirtschaftswissenschaftler Mirowski und Van Horn stellten fest, dass Studiendaten bereitwillig als Eigentum der Auftraggeber und damit als Verschlusssache gehandelt werden.(4) Die Anthropologin Petryna beobachtete bei CROs in Weißrussland und Brasilien eine „taktische Flexibilität” im Umgang mit ethischen Prinzipien.(5)

Für jede Studie die geeignete Bevölkerung
Ein Faktor, der das Erfolgsmodell der Auftragsforschung beflügelt hat und gleichzeitig dessen Stempel trägt, ist die „Globalisierung” klinischer Studien. Auftragsforschungsinstitute übernehmen die Rolle kultureller Scouts, die ein regulatorisches, demographisches und infrastrukturelles Umfeld aufspüren, das geeignet ist, in „angemessenem zeitlichen Rahmen klinische Evidenzen zu produzieren”.(6) In Polen beispielsweise sterben im globalen Vergleich überdurchschnittlich viele Menschen aufgrund von Herzgefäßerkrankungen; dies macht das Land zu einem begehrten Studienort für Blutgerinnungs- und Thrombosemittel aller Arten.
OsteuropäerInnen haben in der Auftragsforschungsbranche den Ruf, zuverlässige Studienteilnehmer zu sein, sich an das Studienprotokoll zu halten und der Pharmaforschung keine großen Vorbehalte entgegenzubringen: „Die Rekrutierung verlief so schnell, dass auf die Nachfrage unseres Sponsors hin sogar noch 40 zusätzliche VersuchsteilnehmerInnen gefunden werden konnten”, berichtet ein Mitarbeiter einer in Polen tätigen CRO. „Zu diesem Zeitpunkt warteten einige der Studien in den westlichen Ländern noch immer auf die Zustimmung des Ethikkomitees und hatten noch nicht einmal mit der Rekrutierung angefangen.”(7)
Für die Wahl des Studienortes sind aber auch Prognosen für die Entwicklung des lokalen Absatzmarktes ausschlaggebend. Mittlerweile existiert eine ganze Palette von Analysen, die das Verschreibungsverhalten von Ärzten mit deren Teilnahme an Medikamentenstudien korrelieren.(8) Sie belegen, dass das Markenbewusstsein bei Studienärzten deutlich steigt. Aber auch Patienten sammeln Informationen über Arzneimittel, die sich in der Testphase befinden, und organisieren sich in Lobbygruppen, um eine schnelle Marktzulassung und die Kostenübernahme durch staatliche Kassen einzufordern.
Schätzungen gehen davon aus, dass mittlerweile über 40 Prozent der Arzneimitteltests in so genannten nicht-traditionellen Regionen mit einem vergleichsweise schlecht ausgestatteten Gesundheitssystem und geringem Umsatzanteil am globalen Pharmamarkt stattfinden und 20-30 Prozent in so genannten Entwicklungsländern.(9) Zwar wächst die Zahl klinischer Studien auch in Europa und den USA; gemessen am prozentualen Marktanteil boomen aber vor allem die Schwellenländer wie Brasilien, Argentinien, Russland oder Südkorea.(10) Dabei ist es unmöglich, Angaben zur Zahl der Arzneimitteltests in einzelnen Ländern zu überprüfen, da kein zuverlässiges globales Studienregister existiert und viele Studien ohnehin niemals registriert oder publiziert werden (siehe Kasten: Registrierung klinischer Studien). Zahlen stammen entweder von der Industrie oder basieren auf Annäherungen seitens der Arzneimittelzulassungsbehörden. Demnach ist bei der US-Medikamentenbehörde FDA die Zahl der im Ausland tätigen Studienleiter, die einen Antrag auf Marktzulassung stellten, zwischen 1990 (271) und 2000 um das 16-fache (auf 4458) angestiegen.(11)

Gründe für die Auslagerung klinischer Studien
In Fachzeitschriften werden die ökonomischen Gründe für die geographische Verlagerung von Studienorten offen diskutiert. Schließlich können die Kosten für die Entwicklung eines Medikaments entschieden gesenkt werden, wenn die Gehälter für medizinisches Personal niedrig, die bürokratischen Auflagen geringer und die medizinischen Tests folglich rascher als in den USA oder Westeuropa abzuschließen sind. Dennoch ist die Globalisierung klinischer Studien nicht ausschließlich auf wirtschaftliche „Pull-Faktoren” zurückzuführen. Sie ist auch eine Folge von Prozessen, die ihren Ausgangspunkt in den traditionellen Forschungs- und Industriestandorten haben.
So ist sowohl die Zahl klinischer Studien als auch die Zahl der ProbandInnen, die pro Studie benötigt werden, in den letzten beiden Jahrzehnten dramatisch angestiegen. Dies liegt zum einen an regulatorischen Auflagen der Medikamenten-Zulassungsbehörden, die vor allem bei Produkten mit einer großen Zielgruppe strengere Nachweise für die Sicherheit und Wirksamkeit eines neuen Wirkstoffes verlangen. Jedes neue Mittel muss heutzutage an mehr als 4000 Patienten getestet werden, die wiederum aus rund 100 000 Freiwilligen ausgewählt werden.(12) Zum anderen ist aber auch ein Wandel gesundheitspolitischer und wissenschaftlicher Ansätze und Ziele ausschlaggebend: Die Wirkung von Therapien zur Behandlung von Infektionskrankheiten kann noch an vergleichsweise kleinen Probandengruppen getestet werden. Der Schwerpunkt liegt heute aber auf der Therapie und Prävention von chronischen Erkrankungen wie Bluthochdruck oder Depressionen, einem Bereich, wo Erfolge wesentlich schwieriger zu definieren und zu messen sind.(13) Gerade bei der Testung von Wirkstoffen, die auf molekularer Ebene ansetzen, insbesondere bei pharmakogenetischen Studien, sind statistisch aussagekräftige Ergebnisse nur mit großen Probandenzahlen zu erzielen. Dazu kommen taktische Überlegungen: Wenn Studien nicht die gewünschten Ergebnisse bringen, werden schon mal neue Probandengruppen rekrutiert, um die Statistik aufzuwerten.(14)

Ein Mangel an Versuchspersonen?
Während der „Bedarf” an Versuchspersonen steigt, wird von den Studienorganisatoren gleichzeitig eine „Verknappung” freiwilliger Versuchsteilnehmer in den klassischen Studienländern wahrgenommen. Es gibt zumindest einen zeitlichen Zusammenhang zwischen der gesetzlichen Einschränkung der zulässigen Forschung an US-Gefängnisinsassen in den 70ern und der Ausweitung der Probanden-Rekrutierung in der amerikanischen und zunehmend eben nicht-amerikanischen Bevölkerung.(15) 2004 stellte der Vorsitzende einer US-amerikanischen Vereinigung von Studienärzten zudem fest, die Zahl der PatientInnen, die sich in seinem Land als Versuchspersonen zur Verfügung stellten, sei „in den letzten fünf Jahren auf die Hälfte gesunken“.(16) Ohnehin springen 40-70 Prozent der Versuchspersonen in USA und Europa wieder ab, sei es, weil sie unzufrieden sind, den Weg zur Klinik zu beschwerlich finden oder aufgrund von Nebenwirkungen.(17) Im Unterschied dazu gibt es in wirtschaftlich ärmeren Ländern praktisch keine Drop-Out-Raten.
Doch es gibt noch ein weiteres, vielleicht schwerwiegenderes Problem, das Studenorganisatoren heutzutage überwinden müssen: Die meisten Kranken und Gesunden in Westeuropa und den USA nehmen nämlich tagtäglich bereits mehrere Medikamente ein. Das macht es schwierig, bei Arzneimitteltests saubere Ergebnisse zu bekommen. Ganz anders stellt sich das in Ländern dar, in denen teils noch nicht einmal eine medizinische Grundversorgung gewährleistet ist und die Menschen schon alleine deshalb bereitwillig in die Forschungsstation kommen, weil sie auf eine notwendige Behandlung hoffen. Studienorganisatoren schwärmen von „riesigen und weitgehend unberührten Patienten-Pools” in Indien oder China.(18) „Treatment naïve Populations” (in etwa: „unbehandelte PatientInnen”) heißt das Zauberwort, mit dem CROs und Sponsoren wiederum die Zufriedenheit der Regulierungsbehörden einfangen. Denn oftmals gilt eine Studie an Menschen, die keine weiteren Medikamente als das getestete einnehmen, als aussagekräftiger. Zugespitzt formuliert heißt das: Die neuen Top-Ten der Studienregionen sind gerade deshalb attraktiv, weil die meisten Medikamente, die weltweit entwickelt werden, dort niemals ankommen.

Unterschiedliche Interpretation ethischer Richtlinien
Es gehört zu den ethischen Grundprinzipien klinischer Forschung, dass diese nur an Bevölkerungsgruppen („populations”) durchgeführt werden soll, die „voraussichtlich einen Nutzen von den Forschungsergebnissen haben werden”. So schreibt es die Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes vor; sie gilt als „wichtigstes Dokument ärztlicher Standsauffassung zur medizinischen Forschung am Menschen”.(19) Außerdem „sollte” bei Beendigung der Studie „jeder darin eingeschlossene Patient Zugang zu denjenigen Verfahren (erhalten), die sich in der Erprobung als die besten (…) erwiesen haben”. In ihrer mehrmals aktualisierten Fassung erhebt die Deklaration nicht nur Anspruch auf globale Gültigkeit, sondern richtet sich explizit an Ärzte und an alle an der medizinischen Forschung beteiligten Berufsgruppen. Damit wurde speziell auf die veränderte Akteurslandschaft klinischer Versuche eingegangen. In der Praxis werden die Grundsätze der Deklaration aber vor allem in „Entwicklungs-“ oder „Schwellenländern” schlichtweg ignoriert oder zumindest relativiert. Es fehlt nicht nur an völkerrechtlicher Verbindlichkeit; problematisch ist auch die Vielfalt möglicher Interpretationen. Betrifft der voraussichtliche Nutzen beispielsweise ausschließlich die antizipierten Ergebnisse medizinischer Forschung? Oder ist er auch mit einem Transfer von wissenschaftlich-technischem Know-How oder Geräten abgegolten, die sich dann mutmaßlich auch in einem besseren Gesundheitszustand der lokalen Bevölkerung niederschlagen? Und wer muss die Kosten für die Fortsetzung der Behandlung nach Studienende tragen - die staatliche Gesundheitsversorgung oder die externen Sponsoren? Während es auch in Deutschland eine schleichende Ausweitung der Debatte um die Zulässigkeit fremdnütziger Forschung gibt, hat diese in anderen Teilen der Welt offensichtlich bereits ganz andere Ausmaße angenommen.

Ansätze globaler Regulierung
Diese substanziellen Fragen zur globalen Gerechtigkeit und der Allgemeinwohl-Verpflichtung medizinischer Forschung drohen bei den existierenden Ansätzen zur globalen Regulierung klinischer Forschung in den Hintergrund zu geraten. „Die USA und viele andere Länder haben die Deklaration von Helsinki seit Jahren ignoriert. Ich weiß nicht, warum die Menschen glauben, die erneute Überarbeitung (…) könnte an diesem Verhalten etwas ändern”, fasst der US-amerikanische Bioethiker Robert Levine, ein scharfer Kritiker der Helsinki-Deklaration, die Situation zusammen.(20) In der Praxis scheint sich ein pragmatischer Konsens durchzusetzen, der Ethik weitgehend auf technische Verfahrensfragen reduziert. So wird sowohl von der US-Arzneimittelbehörde aber zunehmend auch von der Weltgesundheitsorganisation WHO die internationale Harmonisierungskonferenz ICH zum Goldstandard wissenschaftlicher und ethischer Bewertungskriterien erhoben. Diese Konferenz wurde in den 90er Jahren von der pharmazeutischen Industrie und Regulierungsbehörden aus Europa, USA und Japan gegründet mit dem Ziel, die Zulassungsprozesse in diesen Regionen anzugleichen. In diesem Prozess wurden jedoch gleichzeitig bis dato geltende Standards für die Prüfung der Sicherheit und Wirksamkeit von Arzneimitteln abgesenkt. Die Frage, welche medizinische Versorgung Versuchspersonen bei klinischen Studien erhalten müssen, hat bei der ICH dagegen den Status einer Variable, abhängig vom Studiendesign und Kontext, zugewiesen bekommen.(21)

Individuum vs. Allgemeinwohl
Berichte über unethische klinische Versuche in ärmeren Ländern bis hin zu drastischen Menschenrechtsverletzungen, aber auch der Wunsch nach einheitlicher Regulierung seitens der Sponsoren haben dazu geführt, dass ethische Belange in der Diskussion über die Globalisierung der Arzneimittelforschung vermehrt Aufmerksamkeit erhalten haben. Auch die WHO hat im Oktober 2002 aus diesem Anlass eine Ethik-Abteilung (Department of Ethics, Trade, Human Rights and Health Law) gegründet und Richtlinien für die Arbeit von Ethikkomitees (Institutional Review Boards) formuliert. Die „Strategische Initiative zur Entwicklung von Kapazitäten in Ethischer Begutachtung” (SIDCER) soll die Umsetzung dieser Prinzipien weltweit vorantreiben. Skeptisch stimmt nicht nur der Umstand, dass diese Richtlinien wiederum in Zusammenarbeit mit der Pharmaindustrie entstanden sind. Dahinter steht auch implizit die Annahme, ärmere Länder müssten nur Capacity-Building, gewissermaßen nachholende Entwicklung betreiben, dann könnten sie die Früchte des wissenschaftlichen Fortschritts ernten. Die Autoren eines Beitrags in der Zeischrift Globalisation and Health formulieren treffend: „Es gibt eine alles überlagernde Grundannahme, dass medizinische Forschung prinzipiell gut” und dass „Versuche an Menschen gut und wünschenswert sind” (Hervorhebung M.F.).(22) Berücksichtigt man, dass eine beträchtliche Zahl an Studien entweder reinen Marketingzwecken dient oder nie publiziert wird und die Ergebnisse damit weder dem wissenschaftlichen noch dem medizinischen Fortschritt dienen können, muss diese Annahme relativiert werden.
Bereits 1988 hatte die ehemalige Chefredakteurin der Fachzeitschrift New England Journal of Medicine Marcia Angell besorgt festgestellt, dass von dem ethischen Imperativ, das Wohl des Individuums über das Wohl der Gemeinschaft zu stellen (wie es im Nürnberger Codex und der Helsinki-Deklaration gefordert wird) immer wieder abgerückt wird. Stattdessen werde der Eingriff in die Integrität des Einzelnen mit dessen angenommenen zukünftigen Nutzen für eine Vielzahl von Personen legitimiert.(23) Es ist eines der Paradoxa dieser Entwicklung, dass gleichzeitig die Individuen über das Instrument der informierten Einwilligung der Versuchsperson (Informed Consent) wieder als zentrale Legitimationsstütze der Forschung an Bord geholt werden.

Globale Dimensionen
Der globale Wettbewerb um den „besten” Studienstandort und um Investoren könnte somit auch international zu einer Absenkung ethischer Standards führen. Dieser Umstand ist für sich genommen schon Besorgnis erregend. Aber es gibt nicht nur ethische, sondern auch gesundheitspolitische Gründe, die Transformationen auf den globalen Experimentierfeldern der medizinischen Forschung kritisch zu verfolgen. Denn die fragwürdigen Forschungspraktiken haben auch Auswirkungen auf die Möglichkeiten der Bewertung von Arzneimitteln und damit die körperliche Integrität der KonsumentInnen. Angesichts der Unübersichtlichkeit der Studienlandschaft und dem Hang zu Geheimhaltung kann von einer ausreichenden Kontrolle klinischer Studien jedenfalls nicht gesprochen werden. Zudem stellt sich auch jenseits von ethischen Überlegungen die Frage, ob die Umstände, unter denen Medikamente in „Entwicklungsländern” getestet wurden, eine Übertragung der Ergebnisse in Industrieländer erlauben. Denn hier stellen sich andere Fragen, unter andem gerade die nach der Interaktion eines neuen Wirkstoffs mit jenen Mitteln, die von Patienten bereits routinemäßig bei bestimmten Beschwerden eingenommen werden.(24) Auch genetische Unterschiede, wie sie hierzulande in der Diskussion um die so genannte individualisierte Medizin so hochgehalten werden, scheinen bei der Anerkennung von Studien, die zu 90 Prozent an ProbandInnen in Osteuropa oder Indien durchgeführt wurden, keine Bedeutung mehr zu haben. Dagegen haben die Auftragsforschungsinstitute durch ihre geographische und methodische Flexibilität die Möglichkeit, sich Probandengruppen maßzuschneidern. Der Geschäftsführer einer US-amerikanischen CRO berichtet: „Bei der Rekrutierung von ProbandInnen kann ich die Kriterien so setzen, dass es unmöglich sein wird, Nebenwirkungen zu identifizieren. Ich kann aber auch demonstrieren, dass das von mir getestete Medikament besser ist, indem die Nebenwirkungen eines Vergleichspräparats künstlich hoch geschraubt werden - beispielsweise durch eine Verdoppelung der verabreichten Dosen."(25) Die ethischen und politischen Probleme der Globalisierung klinischer Studien führen somit zurück zu gesundheitspolitischen Problem, auch in den Industrienationen.

Monika Feuerlein ist Redakteurin des Gen-ethischen Informationsdienstes.


Fußnoten:
(1)    www.parexel-akademie.de.
(2)    Pertryna, Adriana, „Clinical Trials Offshored: On Private Sector Science and Public Health”, BioSocieties, (2007), 2, S.25.
(3)    Mirowski, Philip und Robert Van Horn, „The Contract Research Organization and the Commercialization of Scientific Research, SSS (August 2005), 35.4, S.505f. Die CRO-Industrie beansprucht, im Bereich Medikamentenentwicklung inzwischen 40 Prozent des weltweiten Personals zu stellen. (Petryna, 2007, S.21.)
(4)    Mirowski und Horn, 2005, S.519.
(5)    Petryna, Adriana, „Globalizing Human Subjects Research”, in Dies., Andrew Lakoff und Arthur Kleinman, Global Pharmaceuticals. Ehics, Markets, Practices, Durham, 2006, S.33-60.
(6)    Berndt, Ernst R. et al., „The Globalization of Clinical Trials for New Medicines into Emerging Economies: Where are they going and why?, Conference Paper, 2007
(7)    Office of Inspector General (OEI), „The Globalization of Clinical Trials. A growing Challenge in Protecting Human Subjects", September 2001, S.15.
(8)    Kline, Darren, „Clinical Trials in Latin America", White Paper, Data Edge, November 2001, S.4.
(9)    Petryna, 2007, S.21f. Lamberti MJ, Space S, Gammbrill S., „Going global”, Appl Clin Trials (2004)13: S.84-92, zitiert in Bhatt, Arun, Clinical trials in India. Pangs of globalization, Indian Journal of Pharmacology, (2004), Vol. 36.4, S.207.
(10)    Berndt et al, 2007; Kline, Darren, „Clinical Trials in Latin America",White Paper, Data Edge, Ireland, November 2001, S.2.
(11)    OEI, 2001, Executive Summary, S.i.
(12)    zitiert in Sonia Shah, „Big Pharma forscht im Slum”, Le Monde diplomatique, Mai 2007.
(13)    Bodenheimer, Thomas, „Uneasy Alliance - Clinical Investigators and the Pharmaceutical Industry", New England Journal of Medicine (2000), 342: S.1539.
(14)    Petryna, 2006, S.37.
(15)    Petryna, 2006.
(16)    „Clinical trials without ethical review under the spotlight”, WHO bulletin, 2004.
(17)    Sonia Shah, 2007.
(18)    zitiert in „Globalization and Patient Recruitment", Future Pharmaceuticals (2007), Interview mit Dr. Dan Wenig, Bezug auf Indien und China (www.futurepharmaus.com).
(19)    Siehe dazu z.B. Petryna, 2006, S.37.
(20)    Zitiert in Macklin, Ruth, „After Helsinki: Unresolved Issues in International Research", Kennedy Institute of Ethics Journal (2001),Vol. 11, No.1, S.22.
(21)    Abraham, John, „International Harmonisation of Pharmaceuticals. Key Issues of Concern for Public Health”, www.whp-apsf.ca/en/docu ments/harmon.html, 2001 und ICH, 2002: S.213, zitiert in Petrya, Adriana, „When Eperiments Travel. Clinical Trials and the Global Search for Human Subjects”, Princeton University Press, 2009: S.35.
(22)    Mills, Edward J. and Sonal Singh, „Health, human rights, and the conduct of clinical research within oppressed populations", Globalization and health (2007), 3: S.10.
(23)    Zitiert in Aurora Plomer, The Law and Ethics of Medical Research: International Bioethics and Human Rights, Routledge-Cavendish, 2005, S.116.
(24)    Glickman et. al., „Ethical and Scientific Implications of the Globalization of Clinical Research”, NEJM (19. 2. 2009), 360: S.816-823.
(25)    Petryna, 2007, S.27.


Kasten:
Registrierung klinischer Studien
Rund 77.000 klinische Studien sind derzeit in der Datenbank der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde NIH eingetragen.(1) Wieviel höher die tatsächliche Zahl weltweit stattfindender Studien liegt, lässt sich schwer sagen, denn eine Registrierungspflicht gibt es nicht. Dabei fordern Patientengruppen, WissenschaftlerInnen und politische Initiativen schon seit Jahren, die wesentlichen Informationen aller geplanten, laufenden und abgeschlossenen klinischen Studien zu sammeln und in Form systematisierter Register sowohl Forschern als auch der Öffentlichkeit uneingeschränkt zugänglich zu machen. Mit einem solchen Instrumentarium soll nicht nur eine bessere politische Kontrolle und Transparenz erreicht werden; auch wissenschaftliche und ethische Argumente sprechen für eine öffentliche Datenbank: Auf diese Weise könnten WissenschaftlerInnen aus den Erfahrungen ihrer KollegInnen lernen und zudem das große Problem der Durchführung überflüssiger Doppel-Studien angegangen werden.
Erste Ansätze gab es beispielsweise in den USA, in Großbritannien und den Niederlanden,  wo bereits vor einigen Jahren Informations-Datenbanken eingerichtet wurden. 2005 führte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) das erste dem Anspruch nach globale Register ein, die International Clinical Trials Registry Platform (ICTRP). Zwei Jahre später ergänzte sie dieses um ein globales Suchportal, mit dem Ziel, die existierenden nationalen Register miteinander zu vernetzen.(2)
Der Versuch einiger Unternehmen, sich durch eigene Studienregister das Transparenz-Prädikat zu verleihen, stößt hingegen auf Kritik: Anstatt sich der WHO und ihrer eindeutigen und global gültigen Kennung aller Projekte anzuschließen, entstünde durch die Vielzahl an privaten Datenbanken eine Unüberschaubarkeit, die der prinzipiellen Absicht von Studienregistern zuwiderlaufe, moniert der Vorsitzende des deutschen Wissenschaftsrats, Karl Max Einhäupl.(3) Ohnehin dürfte hinter Initiativen wie dem gsk-Register (www.gsk-clinicalstudyregister.com) vor allem das Motiv der Produktwerbung und der Rekrutierung von Studienärzten und Probanden stehen.
Entsprechend den Register-Standards der WHO ist im Oktober 2008 auch das „Deutsche Register Klinischer Studien“ (DRKS) eingerichtet worden.(www.germanctr.de) Hier „soll zukünftig eine nationale Studienregistrierung, die Recherche nach klinischen Studien sowie der Informationsaustausch zu Studien für alle Gesundheits- bzw. Krankheitsbereiche insbesondere für die in Deutschland durchgeführten klinischen Studien möglich sein“.(4) Geführt und betreut wird das DRKS vom Institut für medizinische Biometrie und medizinische Informatik (IMBI) am Universitätsklinikum Freiburg. Auch das International Committee of Medical Journal Editors (ICMJE), ein internationaler Verbund der Herausgeber führender medizinischer Fachzeitschriften, hat mit seiner Empfehlung, die Veröffentlichung einer Studie von deren Vorab-Registrierung abhängig zu machen, die Notwendigkeit einer verpflichtenden und standardisierten Registrierung unterstrichen.(5)

(Tom Bartneck)

Fußnoten:
(1) http://clinicaltrials.gov/
(2) www.who.int/ictrp/en/
(3) www.zm-online.de/m5a.htm?/zm/17_05/pages2/bpol1.htm
(4) http://bcag.twoday.net/topics/Studienregistierung/
(5) www.germanctr.de/generalinfo_de.html#context