Die Utopie von mündigen PatientInnen

„Sauberes Wissen“ ist im Gesundheitswesen Mangelware. Im modernen Gesundheitswesen dreht sich fast alles um Kosten und sehr wenig um Menschen. In der Kette rigider finanzieller Steuerungsmechanismen werden Ärzte vorrangig als Budgetverwalter in die Pflicht genommen, während Kranke vorwiegend als Verursacher von Kosten auftauchen. „Rationalisierung“ nennt sich das Organisationsprinzip, mit dem die Politik versucht, steigenden Gesundheitsausgaben bei gleichzeitig sinkenden Einnahmen der Sozialkassen beizukommen. In der Praxis heißt das, dass medizinische Behandlungen unter dem Primat des Kosten-Nutzen-Denkens durchgeführt werden sollen. Doch es fehlt nicht nur an Menschlichkeit, sondern auch an Rationalität.

Irrationale Rationalisierung
Schon seit Jahren macht der Bildungsforscher Gerd Gigerenzer mit Hartnäckigkeit und einer Prise Humor auf einen eklatanten Wissensmangel in der medizinischen Versorgung aufmerksam. So auch jüngst bei seiner neuesten Buchvorstellung im Berliner Bundespressehaus, zu der auch der Vorsitzende der Berliner Ärztekammer Günther Jonitz und der Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, Jürgen Windeler, erschienen waren. „Unsere Gesundheitsversorgungssysteme übertreiben systematisch den Nutzen medizinischer Behandlungen, während potentielle Risiken häufig unterschätzt beziehungsweise auch gezielt untertrieben werden“, kritisierte Gigerenzer. So entstünden nicht nur gesundheitliche Schäden bei den Betroffenen, sondern auch vermeidbare Behandlungskosten. Die Crux liege darin, dass alle über Risiken, Häufigkeiten und Wahrscheinlichkeiten, also Statistik reden, aber kaum jemand statistische Aussagen korrekt interpretiere. „Ein Großteil der Ärztinnen und Ärzte und die Mehrheit der Patienten verstehen die verfügbaren medizinischen Daten und Forschungsergebnisse nicht“, so Gigerenzer weiter. Von Industrie und profitorientierten ForscherInnen könnten sie dadurch natürlich umso leichter manipuliert werden. Dafür ist es nicht einmal nötig, dass bewusst falsche Aussagen verbreitet werden. Das Problem beginnt oftmals mit einer zwar korrekten, aber irreführenden Darstellung in Fachzeitschriften. Zum Beispiel kursiert in Deutschland und in den USA die Meinung, dass durch Früherkennungsuntersuchungen, so genannte Screenings, die Lebenserwartung bei Prostatakrebs verlängert wird. Untermauert wird diese Annahme mit Studien, die nachweisen, dass Menschen, bei denen der Krebs früher diagnostiziert wird, die Diagnose länger überleben. Dies erlaubt allerdings nicht den weit verbreiteten Umkehrschluss, dass Männer, die sich keiner Früherkennungsdiagnostik unterziehen, früher sterben. Die Erklärung ist eigentlich banal: Früherkennung führt zu früherer Entdeckung und dies erhöht die Zahl der Menschen, die von ihrem Tumor wissen und mit diesem Wissen weiterleben.

Die Sache mit den Häufigkeiten
Die Irreführung hat System: In einer von drei Veröffentlichungen in einschlägigen Fachzeitschriften (BMJ und Lancet) wird der Nutzen in relativen Verhältnissen, also eher großen Zahlen und der Schaden in absoluten Verhältnissen, also kleinen Zahlen angegeben. Immerhin, so Gigerenzer, gäbe es ein wachsendes Bewusstsein für dieses Problem: So habe die deutsche Krebshilfe auf sein Anraten neue, verständliche Broschüren publiziert. Die Erkenntnis, dass Statistik-ExpertInnen Mangelware sind, muss eigentlich verstören: Denn unsere Gesellschaft ist förmlich auf einem Fundament aus Risiken und Wahrscheinlichkeiten gebaut; das gilt besonders für das Gesundheitswesen: Unzählige Statistiken werden tagtäglich für eine Vielzahl vermeintlich „informierte“ Entscheidungen herangezogen, sei es beim einfachen Blut- oder Gentest, bei der Verschreibung von Medikamenten, oder für die Bewertung neuer Therapiekonzepte bei der Marktzulassung. In der pränatalen Diagnostik oder bei Therapieabbrüchen werden auf dieser Basis sogar potentiell Entscheidungen über Leben und Tod getroffen. „Informierte Entscheidungen“ sollen Schwangere, Krebsgefährdete, Sterbende oder ihre Angehörigen treffen. Dabei wird im Prinzip nicht nur das Gesundheitsrisiko, sondern auch das Risiko, sich „richtig“ oder „falsch“ zu entscheiden, den PatientInnen zugeschoben, und damit „individualisiert“.

Aufbruch ins „Jahrhundert des Patienten“?
„Eine effiziente Gesundheitsversorgung braucht gut informierte Ärzte und Patienten. Das Gesundheitssystem, das uns das 20. Jahrhundert hinterlassen hat, erfüllt beide Bedürfnisse nicht“, resümieren der Berliner Bildungsforscher Gerd Gigerenzer und sein Kollege Sir Muir Gray, Leiter des Informationsdienstes des staatlichen Gesundheitsservices NHS in Großbritannien in ihrem gemeinsamen Kapitel des bislang nur auf Englisch erhältlichen Sammelbands „Bessere Ärzte, bessere Patienten, bessere Entscheidungen“. Die über vierzig AutorInnen aus verschiedenen Ländern und Professionen waren 2009 TeilnehmerInnen des regelmäßig in Frankfurt am Main organisierten Ernst-Strüngmann-Forums. Gemeinsam versuchen sie sich an der „Vision eines Gesundheitssystems, das informierte Ärzte und mündige Patienten produziert“.(1) Der „getäuschte Patient (sei) das Opfer einer Kette von unausgewogenen Informationen“, die zum Großteil durchaus strategisch im Interesse der Industrie verbreitet werden, schreiben Gigerenzer und Gray. Sieben „Sünden“ seien für den eklatanten Wissensmangel in Gesundheitsfragen verantwortlich: „profitorientierte Finanzierung, irreführende Berichterstattung in medizinischen Zeitschriften, einseitige Patientenbroschüren, irreführende Darstellung in den Medien, Interessenkonflikte, defensive Medizin und Ärzte, die statistische Evidenz mangelhaft verstehen“.(2) In den nachfolgenden Aufsätzen findet sich fundiertes empirisches Material, um diese These zu belegen. Entsprechend setzen die AutorInnen auch an diesen Stellen an, um den von ihnen beschriebenen Missstand zu beheben: Gefordert werden die konsequente Überprüfung und transparente Aufarbeitung medizinischer Informationen vor ihrer Publikation in Fachzeitschriften und Patientenbroschüren; Statistikkurse für Mediziner und JournalistInnen; eine transparentere und am klinischen Alltag orientierte („evidenz-basierte“) Forschung sowie Finanzierungsmechanismen, die den drastischen Einfluss der Industrie auf Fortbildungsprogramme, Verschreibungsverhalten in Praxen sowie auf Arzneimittelstudien unterbinden.

Die Qualität des Wassers auf den Mühlen der Ökonomisierung Angesichts der „Beharrungskräfte des Systems“ (Jonitz) sollte das gemeinsame Auftreten des Ärztevertreters mit Gigerenzer und Windeler wohl Geschlossenheit und Aufbruch demonstrieren. „Im 19. Jahrhundert war die wichtigste Ressource zur Gesunderhaltung der Bevölkerung sauberes Wasser“, konstatierte Ärztevertreter Jonitz, „heute ist es saubere Information.“ Jonitz verwies vor allem auf das Problem Industrie-gesponserter Fortbildungen für MedizinerInnen: „Wenn das Wasser wäre, würden wir es mit Sicherheit nicht trinken!“ Grundsätzlich wäre eine Art „Wasserfilterung“ sicherlich dringend vonnöten. Politisch scheint sie aber nicht gewünscht. Das beginnt schon mit der Kleinigkeit, dass PatientInnen in Deutschland nicht ohne weiteres auf die Datenbank der international anerkannten Colchrane Bibliothek zugreifen können, um sich über Forschungsergebnisse zu informieren. Statt in unabhängige Forschungsprojekte und Fortbildungen zu investieren, bahnt die Regierung lieber allen Widerständen zum Trotz das nächste Mega-Projekt in Sachen Statistik-Irrsinn an: Im November soll die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) - das Projekt der Volkszählung begleitend - nun mit Zwang vorangetrieben werden. Nachdem viele Ärzte, PatientInnen und zunehmend auch Kassen Einwände gegen das Projekt formulierten und sich in der Vergangenheit quer stellten, soll die Verweigerung zur Kooperation zukünftig bestraft werden: Falls eine Kasse nicht bis Ende 2011 zehn Prozent ihrer Versicherten mit der Karte ausstattet, werden ihr im nächsten Jahr zwei Prozent der Mittel für Verwaltungskosten gestrichen. Organisationen wie das Komitee für Grundrechte und Demokratie protestieren seit Jahren gegen dieses neue „Instrument elektronischen Regierens“ (3) denn, so das Komitee, „das Verhalten von Ärzten und Patienten soll damit umfassend kontrolliert werden“. Programme wie die eGK verdeutlichen auch, dass es längst nicht nur um „Aufklärung“ oder um kosmetische Korrekturen am Gesundheitssystem geht. Die Rede von „mündigen PatientInnen“ kann sich nicht darin erschöpfen, dass mathematisch fortgebildete Kranke und Gesunde medizinische Daten besser verdauen und damit „rationaler“ zwischen verschiedenen Optionen der Maßregelung entscheiden können. Vor dem Hintergrund von Priorisierung und Rationalisierung ist Statistik nicht neutral, sondern erfüllt als „Wissenschaft vom Staat“ die bereits von Foucault beschriebene Funktion einer Regierungstechnologie zur Optimierung, Maximierung und Intensivierung der von der Regierung verfolgten Vorgänge“.(4) Etwas überspitzt formuliert: Solange bei der Behandlung in der Praxis vor allem die Einhaltung von Budgetvorgaben zählt, ist für den einzelnen Patienten vermutlich eher unerheblich, ob sauberes oder schmutziges Wasser auf den Mühlen der Ökonomisierung fließt.

Monika Feuerlein ist Mitarbeiterin des Gen-ethischen Netzwerk im Bereich Medizin und Humangenetik.

Fußnoten:
(1) Gerd Gigerenzer auf der Pressekonferenz am 3. Mai im Haus der Bundespressekonferenz Berlin.
(2) Gigerenzer, Gerd and J. A. Muir Gray: Better Doctors, Kapitel 1, deutscher Vorabdruck, S. 1.
(3) Komitee für Grundrechte und Demokratie: Digitalisierte Patienten, Kapitel. 1, 2011.
(4) Zum Beispiel in Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung - Vorlesungen am Collège de France (1977–1978), Suhrkamp, 2004.