Betrieb besetzt, Arbeitsplätze gerettet. Rainer Thomann erzählt die Geschichte des größten Streiks in der Schweiz seit 100 Jahren.
Betrieb besetzt, Arbeitsplätze gerettet. Rainer Thomann erzählt die Geschichte des größten Streiks in der Schweiz seit 100 Jahren.
Unser Leben zählt mehr als eure Profite!«
Das stand auf einem Spruchband im besetzten Industriewerk Bellinzona.
Im März 2008 drohte die Schließung. Jetzt sind die Arbeitsplätze bis
2013 gesichert.
Unversöhnlich stehen sich die Interessen gegenüber: Auf der einen Seite
die Arbeiterinnen und Arbeiter, deren wirtschaftliches Überleben von
der Weiterführung des Betriebes abhängt, auf der andern Seite der
Kapitaleigentümer, der an dieser Weiterführung nur solange interessiert
ist, wie sie sein Kapital vermehrt. Bei Massenentlassungen und
Betriebsschließungen tritt das Nichtvorhandensein »gemeinsamer
Interessen« von Unternehmer und Arbeitnehmern besonders scharf hervor.
Die Folgen für die betroffenen Arbeiterinnen und Arbeiter sind
besonders einschneidend. In der Regel funktioniert das gesetzlich
und/oder vertraglich vorgesehene Verfahren bei Massenentlassungen und
Betriebsschließungen reibungslos. Die Beispiele, wo dieses »Ritual«
gestört wurde, sind leider alles andere als zahlreich. Noch seltener
sind Beispiele, wo durch einen entschlossenen Kampf die Arbeitsplätze
gesichert werden konnten. Die Officine von Bellinzona im Schweizer
Kanton Tessin ragt hier als eine große Ausnahme heraus.
Ausgerechnet in der Schweiz, im "Land des Arbeitsfriedens", findet ein
Streik statt, der in jeder Hinsicht vorbildhaft ist. Als am 7. März
vergangenen Jahres 430 Arbeiter der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB)
bei der Betriebsversammlung den Vertreter ihres Unternehmens am
Sprechen hindern und einstimmig den unbefristeten Streik beschließen,
erscheint dieser Aufstand als spontaner Protest, wie ein Blitz aus
heiterem Himmel. In Wirklichkeit haben aktive Arbeiter der Officine um
Gianni Frizzo bereits zehn Jahre vorher das Komitee "Giù le mani
dall'Officina di Bellinzona" ("Hände weg von den SBB-Werkstätten in
Bellinzona") gegründet, um dem schleichenden Arbeitsplatzabbau und der
Verschlechterung der Arbeitsbedingungen entgegenzuwirken.
Aus diesem harten Kern aktiver Arbeiter, erweitert um
Gewerkschaftsvertreter und Berater aus Politik und Wissenschaft, wird
das Streikkomitee gebildet, das während des Streiks und auch danach den
Kampf organisiert und alle Verhandlungen mit der Gegenseite führt.
Legitimiert wird dieses durch die Arbeiterversammlung, die sich nicht
damit begnügt, bereits gefasste Beschlüsse abzusegnen, sondern schon
vorgängig in allen wichtigen Fragen entscheidet, insbesondere über
Verhandlungsangebote der Gegenseite. Diese radikale Arbeiterdemokratie
- das Streikkomitee spricht in diesem Zusammenhang von »democrazia
assoluta« - ist die Grundlage, das Rückgrat der Bewegung und die
wichtigste Voraussetzung für den erfolgreichen Kampf.
Meinungsverschiedenheiten innerhalb des erweiterten Streikkomitees
werden konsequent der Vollversammlung aller Arbeiter unterbreitet und
sind dort bis jetzt immer durch einstimmig gefasste Beschlüsse gelöst
worden. Eine mögliche Spaltung der Bewegung hat auf diese Weise nie
entstehen können.
Der am 7. März von Streikkomitee und Arbeiterversammlung ausgerufene
Streik gilt als »wilder Streik«, da nicht von einer offiziellen
Gewerkschaft beschlossen und angekündigt. Das bei Massenentlassungen
und Betriebsschließungen übliche Verfahren wird damit entscheidend
gestört, zumal das Streikkomitee den Gewerkschaften verbietet,
Sozialplanverhandlungen zu führen, solange der Streik andauert. Für
einmal geht es nicht darum, wie viele Arbeitsplätze gestrichen, wie
viele erhalten bleiben und zu welchen Bedingungen Leute entlassen
werden. Vielmehr lautet die unmissverständliche Forderung der Arbeiter:
Die SBB müssen den Entscheid, das Industriewerk Bellinzona zu
schließen, rückgängig machen! Erst danach kann über dessen Zukunft
verhandelt werden.
Die Streikbewegung in den Officine von Bellinzona entwickelt ab dem 7.
März 2008 eine ungeahnte Dynamik und stellt die bisherigen
Machtverhältnisse auf den Kopf. Dies vor allem, weil die Arbeiter nicht
nur in den Streik treten, sondern sogleich den Betrieb besetzen und
rund um die Uhr bewachen. Die Bedeutung dieser Maßnahme und vor allem
deren Zeitpunkt als »Überraschungsangriff« kann nicht genug
hervorgehoben werden: Dadurch, dass die Arbeiter mit der
Betriebsbesetzung das Werk der Verfügungsgewalt des "rechtmäßigen"
Besitzers entzogen und vorübergehend in ihren Besitz gebracht haben,
ist ein eigentlicher Stützpunkt der Arbeitermacht entstanden,
gewissermaßen eine »befreite Zone« oder - aus der Sicht der Gegenseite
- ein "rechtsfreier Raum". Wären die Arbeiter stattdessen einfach zu
Hause geblieben und hätten dort einzeln die "Drohbriefe" des
Unternehmers empfangen, so hätte die Gefahr bestanden, dass Einzelne
dem Druck des Arbeitgebers nachgegeben und wieder zur Arbeit gegangen
wären. Die aufgebotene Polizei hätte dann ihre Aufgabe darin gesehen,
die "Arbeitswilligen" zu schützen und in sattsam bekannter Art
allfällige Streikposten geräumt.
Mit der Betriebsbesetzung kann eine solche Entwicklung gar nicht erst
eintreten, da die Ängstlichen und Unsicheren von den andern gestützt
werden und es stets die Vollversammlung der Arbeiter ist, die über
Weiterführung oder Beendigung des Streiks entscheidet.
Der von den Arbeitern besetzte Betrieb wird in wenigen Wochen nicht nur
zum Symbol des gewerkschaftlichen Kampfes und des Arbeiterwiderstands
gegen Entlassungen und Betriebsschließungen, sondern zu einem sozialen
Zentrum, einem Ort der Begegnung und der Solidarität für die ganze
Bevölkerung.
Die breite Unterstützung, die der Streik in der Tessiner Bevölkerung
findet, äußert sich einerseits in großzügigen Spenden für die
Streikkasse, andererseits in großen Straßendemonstrationen. Diese
ungeahnte Solidaritätswelle, die einen ganzen Kanton erfasst, ist wohl
nicht nur in einer "regionalen Besonderheit" begründet - der tiefen
Verwurzelung der Officine von Bellinzona in der Tessiner Bevölkerung -,
sondern auch im Gefühl, dass es endlich jemand wagt, den "arroganten,
geldgierigen und machthungrigen Managern" entschlossen die Stirn zu
bieten. Unter diesen Umständen hat es sich - vor allem einen Monat vor
den kantonalen Wahlen - keine politische Partei im Tessin leisten
können, den streikenden Arbeitern ihre Unterstützung zu versagen. Das
"Wunder von Bellinzona" besteht also darin, dass mit dem
"Befreiungsschlag" vom 7. März das Kräfteverhältnis von einem Tag auf
den andern massiv zu Gunsten der Arbeiter verschoben worden ist. Auf
diese Weise ist die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst, wie sie
üblicherweise zwischen den Arbeitern verschiedener Nationalitäten und
Kulturen, zwischen Gelernten und Ungelernten, zwischen Festangestellten
und Zeitarbeitern besteht, auf einen Schlag in den Hintergrund
getreten. Das Beispiel der Officine von Bellinzona zeigt nun, dass dies
nicht langsam und allmählich geschieht, sondern schlagartig in dem
Augenblick, wo eine Gruppe entschlossener Arbeiter es versteht, zum
Kampf aufzurufen und die andern mitzureißen.
Somit erweist sich der harte Kern von entschlossenen Arbeiterinnen und
Arbeiter, die das Vertrauen ihrer Kolleginnen und Kollegen genießen,
als die entscheidende Voraussetzung für einen solidarischen Kampf. In
diesem Fall hat sich der harte Kern im Laufe von zehn Jahren gefestigt.
Doch es ist auch denkbar, dass sich je nach den konkreten Umständen ein
solcher Kern auch sehr schnell und spontan bilden kann, wobei es
natürlich ein Vorteil ist, wenn ihm zu seiner Entwicklung eine längere
Zeit zur Verfügung steht.
Obwohl der Streik in den Officine als "wilder Streik" ausgerufen worden
ist, haben ihn die lokalen Gewerkschaften sogleich unterstützt, indem
sie ihre gesamte Struktur in den Dienst des Kampfes gestellt haben.
Damit ist es ihnen für einmal gelungen, sich gewissermaßen aus der
»Geiselhaft« der Unternehmer und ihres Staates zu befreien und zu ihrer
ursprünglichen Aufgabe als Selbsthilfe- und Kampforganisation der
Arbeiter zurückzukehren. Dies ist namentlich der Gewerkschaft Unia, zu
welcher die Mitglieder des Streikkomitees übergetreten sind, nicht
allzu schwer gefallen, da sie keinerlei Verträge mit der Gegenseite
unterzeichnet hat, die ihr hätten zum Verhängnis werden können.
Die organisatorische Unterstützung des Streiks durch die
Gewerkschaften, das wird seitens des Streikkomitees immer wieder
betont, wird zu einem der Erfolgsfaktoren des Kampfes. Es gehört
sicherlich zu dessen Besonderheiten, dass sich der Gewerkschaftsapparat
sogleich bedingungslos in seinen Dienst stellt, während die Führung des
Kampfes nach wie vor in den Händen des Streikkomitees und der
Arbeitervollversammlung liegt. Auch in dieser Hinsicht gilt der Streik
in den Officine von Bellinzona als absolut vorbildlich. Die Zentralen
der beteiligten Gewerkschaften haben zwar nichts getan, um den Streik
auf andere SBB-Werkstätten in der Schweiz auszuweiten. Insofern haben
sie sich »neutral« verhalten, als sie wenigstens auch nichts
unternommen haben, um den Streik möglichst schnell in die Sackgasse von
Verhandlungen ohne Vorbedingungen zu führen oder die weitere
Unterstützung an bestimmte Bedingungen zu knüpfen.
Der Streik in den Officine von Bellinzona hat mit einem Sieg für die
Arbeiter geendet: Konkret mit der Zusage, dass die Arbeitsplätze bis
2010 gesichert seien. Nach dem Ende des Streiks liegt die Macht im
Betrieb noch immer völlig in den Händen des Streikkomitees und der
Arbeiterversammlung. Eine Liste von neun Forderungen des Streikkomitees
wird von der Direktion bedingungslos geschluckt. Deren wichtigste sind:
die Erweiterung der bisherigen Personalkommission um sämtliche
Mitglieder des Streikkomitees; die Verpflichtung, alle Entscheide,
welche die Arbeiter betreffen (z.B. Überstunden) vorgängig mit dem
Streikkomitee abzusprechen; die Anerkennung als Arbeitszeit jener
Stunden, die Mitglieder des Streikkomitees im Zusammenhang mit den
Verhandlungen am so genannten "Runden Tisch" aufwenden; das Recht,
während der Arbeitszeit Betriebsversammlungen abzuhalten.
Es versteht sich von selbst, dass die Direktion der Officine in den
folgenden Monaten alles unternimmt, um die lästige Arbeitermacht im
Betrieb möglichst schnell wieder loszuwerden und die uneingeschränkte
eigene Macht wiederherzustellen. Die Absprachen werden gebrochen - die
Geschäftsleitung verhandelt im Konzern die Loslösung des Industriewerks
Bellinzona, ohne das Streikkomitee beim »Runden Tisch« darüber zu
informieren.
Als Reaktion darauf verweigert das Streikkomitee die Mitarbeit in den
Arbeitsgruppen des »Runden Tisches« und beruft erneut die
Arbeiterversammlung ein, die das Verhandlungsmandat des Streikkomitees
einstimmig verlängert. Das genügt, damit die Gegenseite einlenkt und
sich bereit erklärt, entgegen der ursprünglichen Absicht am nächsten
"Runden Tisch" über die geplante Neuorganisation zu diskutieren.
Verbindliche Zusicherungen über die Zukunft der Officine nach 2010
werden jedoch konsequent abgelehnt. Bereits zeichnet sich ab, dass
Verhandlungen allein nicht genügen werden, um den mit dem Streik
errungenen Erfolg zu sichern.
Als sich im November die SBB-Verhandlungsdelegation noch immer weigert,
dem Streikkomitee schriftliche Garantien über das Jahr 2010 hinaus zu
geben, beschließt wiederum eine Arbeitervollversammlung das weitere
Vorgehen, und zwar ganz konkret: Am Freitag, 28. November werden die
Arbeiter, statt arbeiten zu gehen, nach Bern fahren und Bundesrat
Leuenberger einen »Höflichkeitsbesucht« abstatten. Die Drohung mit dem
Warnstreik genügt, zumal die seit Ende Mai aufgebaute
gesamtschweizerische Vernetzungsinitiative den Demonstrationsaufruf in
Windeseile weiterverbreitet. Die SBB-Führung schlägt dem Streikkomitee
für den gleichen Tag ein klärendes Gespräch mit dem Verwaltungsrat vor,
falls die geplante Manifestation abgesagt werde. Am gleichen Abend
liegt bereits eine SBB-Presseerklärung vor, worin die Zukunft des
Industriewerks bis 2013 zugesichert wird.
Die Entwicklung in den Monaten nach dem Ende des Streiks unterstreicht
die Bedeutung der geschaffenen »Basisstrukturen«. Die »democrazia
assoluta«, die radikale Arbeiterdemokratie in den Officine, erlaubt es,
sowohl die Einheit der Arbeiter untereinander, als auch jene zwischen
der Arbeiterbasis und dem Streikkomitee zu erhalten und bei jeder
Gelegenheit wieder neu zusammenzuschweißen. Obwohl die Direktion der
Officine als Arbeitgeber ihr gesetzliches Weisungsrecht natürlich
weiterhin ausüben kann, wird sie sich hüten, den Freiraum, den sich die
Arbeitermacht erkämpft hat, offen anzugreifen und zu versuchen, ihn
ganz zu zerstören. Damit haben die Arbeiter der Officine zusammen mit
ihrem Streikkomitee einen Sieg errungen, von dem andere von
Massenentlassungen und Betriebsschließung bedrohte Belegschaften nur
träumen können.
Weiterlesen:
Dieser Artikel ist ein überarbeiteter Auszug aus der im Januar 2009
erschienenen Broschüre "Betriebsbesetzungen als wirksame Waffe im
gewerkschaftlichen Kampf. Eine Studie aktueller Beispiele" von Rainer
Thomann. Die Broschüre kann für 3 Franken (bzw. 2 Euro) plus
Versandkosten bezogen werden unter indiana.thomann [ät] bluewin.ch.
Zum Autor:
Rainer Thomann ist Mitglied der größten Schweizer Gewerkschaft Unia,
Unterstützer des Streikkomitees der Officina von Bellinzona und
Aktivist im Netzwerk für eine kämpferische Bewegung der Arbeiterinnen
und Arbeiter.
Jetzt das neue Heft bestellen!
marx21 Heft 10 hat den Schwerpunkt "Kampf um jeden Arbeitsplatz. Gegenwehr, Mitarbeiterbeteiligung, Verstaatlichung - Strategien gegen die Jobkrise." In dieser Ausgabe unter anderem:
- Interview mit dem ehemaligen Opel-Betriebsrat Wolfgang Schaumberg zur Frage: "Ist Opel noch zu retten?"
- Elmar Altvater mit Teil 7 seiner Serie "Marx neu entdecken"
- Neue Serie: 20 Jahre Mauerfall 1989. In diesem Heft mit Statements von Julia Bonk, Gabriele Engelhardt, Barbara Fuchs, Nicole Gohlke, Gregor Gysi, Victor Neuss, Alexis J. Passadakis, Sybille Stamm, Klaus Steinitz, Hans-Jochen Tschiche und Klaus Wolfram
- Edeltraut Felfe meint, das Modell des schwedischen "Sozialstaates" taugt nicht als Vorbild
- Klaus-Dieter Heiser über 60 Jahre Grundgesetz
- Der Archäologe Neil Faulkner über die Varusschlacht