Mein 68 begann 1966


 
Die Jahreszahl 1968 steht für ein globales Aufbegehren gegen Verhältnisse, die in den Jahren zuvor auch in den privilegierten Weltgegenden von vielen als starr und unentrinnbar festgefahren wahrgenommen wurden. Die Blockkonfrontation mit dem atomaren Patt ließ den Menschen kaum eine andere Wahl, als auf die Regierenden mit ihren jeweiligen (Kapital-)Machtarrangements zu vertrauen. Herbert Marcuse schrieb 1964 sein erhellendes Buch „Der eindimensionale Mensch“1: Manipulierte Einzelwesen würden von einer technokratischen Herrschaftswissenschaft eingehegt und lediglich verwaltet, aber nicht tatsächlich zur solidarischen Teilnahme ihrer Angelegenheiten ermächtigt. Die Zustimmung der Massen in diesen als „entwickelt“ geltenden Ländern werde mit Konsumzuwächsen, z. T. auf Kosten der Dritten Welt, abgesichert. Die deutsche Variante hieß „Wohlstand für alle“. Auch wenn der Wohlstand in sehr unterschiedlichen Dosen und bei vielen Unteren kaum ankam, glaubte die große Masse doch lange den Verheißungen eines sich immer glänzender zeigenden „Wirtschaftswunders“. Als es 1965 zu einer leichten Wirtschaftskrise kam, versuchte der damalige Kanzler Ludwig Erhard auf dem CDU-Parteitag in Düsseldorf durch die Propagierung seiner „Formierten Gesellschaft“ die sich regenden Gegensätze noch einmal einzufangen, was aber nur noch für kurze Zeit gelang.

1965 war ich nach Theologiestudium, Vikariat und Schulpraktikum auf dem Predigerseminar und bereitete mich auf den pfarramtlichen Dienst in der Hannoverschen Landeskirche vor. Wir lasen damals nicht Brückner oder Marcuse, standen eher noch unter dem Einfluss Heideggers oder des frühen Sartre, übersetzt und gedeutet von unseren theologischen Lehrern Rudolf Bultmann, Ernst Fuchs etc., kaum Karl Barth. Und wir übten uns in Predigten, die den Einzelnen in seinem „Geworfensein“ und seiner „verlorenen Existenz“ irgendwie „geistlich“ erreichen wollten … Als ich dann im Frühjahr 1966 zuständiger Pfarrer für den 3. Bezirk der Kirchengemeinde Bergen (bei Celle) wurde, brachte der übliche „Praxisschock“ mehrere verstörende Überraschungen, die ich hier aus der Rückschau nach gut vierzig Jahren darstellen möchte. 

Auseinandersetzung mit Krieg und Militär

Da stand z. B. – wenige Tage nach einer kirchlichen Trauung mit üppiger Hochzeitsfeier beim größten Bauern eines Heidedorfes – der Bruder der Braut in meinem Amtszimmer und verlangte Beistand in seinem Verfahren zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerers. Wie war das möglich, ein Kriegsdienstverweigerer von einem Bauernhof hier in der Lüneburger Heide mit ihrer damals noch intakt scheinenden Volksfrömmigkeit? Und wie war er ausgerechnet an mich geraten? Ich hatte mich mit der Kriegsdienstfrage bis dahin nicht auseinandergesetzt, war selber ein sogenannter „Weißer Jahrgang“, d. h. brauchte aus Altersgründen nicht zum Bund. Der junge Mann hat mich bald aufgeklärt und zu einem überzeugten Gegner dieser Art von Einübung in staatlich verordnetes Töten und Morden gemacht. Sein Verfahren haben wir nach einem Jahr im dritten Anlauf vor dem Verwaltungsgericht erfolgreich abschließen können.

Zum Herbst 1967 wurde ich Pfarrer in einer Arbeitergemeinde in Osnabrück und dort gehörte die „Betreuung“ von Kriegsdienstverweigerern bald zu meinen offiziellen Aufgaben. Ab 1968 stieg die Zahl der Antragsteller rapide an, es gab Zeiten, in denen ich zweimal pro Woche in den KDV-Ausschüssen mich mit den dort berufenen Beisitzern und Vorsitzenden, vorwiegend mit konservativen bis reaktionären Ansichten, herumschlagen musste. Die Antragsteller waren in jenen 68er Jahren enorm „politisiert“, aber politische Gründe durften sie in ihren Begründungen nicht vorbringen, es sollte ja nur um das „individuelle Gewissen“ gehen. Die Regel war zunächst eine Ablehnung, die aber mit Hartnäckigkeit, Geschick und Durchhaltewillen der jungen, als wehrpflichtig vom Staat Beanspruchten in den meisten Fällen korrigiert werden konnte.

Bald bildete sich ein Friedenskreis, getragen vorwiegend von den Kriegsdienstverweigerern. Versuche, z. B. über die Greuel des Krieges in Vietnam auch die engere Ostsgemeinde aufzuklären und für Öffentlichkeitsaktionen zu gewinnen, stießen lange Zeit auf wenig Interesse. Das änderte sich erst gegen Ende der siebziger Jahre mit dem lawinenartigen Anwachsen der Friedensbewegung. Zwischen 1978 und bis Mitte der achtziger Jahre gelang es, auch wesentliche Teile der „normalen“ Gemeinde in ein Engagement für Frieden und Abrüstung zu integrieren. Die damalige Friedensbewegung hat auch dazu beigetragen, dass die BRD sich am zweiten Golfkrieg 1990/91 nicht direkt beteiligen konnte (wenn sie auch mittels der Zahlung einer milliardenschweren Kriegssteuer an die USA am Ende doch dabei war…). Aber dann haben wir alle uns zu lange damit beruhigen lassen, dass z. B. Außenminister Genscher immer wieder versicherte: „Von deutschem Boden soll niemals wieder Krieg ausgehen!“ Und wir haben fast tatenlos zugesehen, wie die deutsche Diplomatie in den neunziger Jahren zuerst darauf drängte, dass der Bundesstaat Jugoslawien in Teilrepubliken zerfallen konnte, die bald erbitterte Sezessionskriege untereinander führten, in die nach und nach auch die deutsche Bundeswehr sich hat (gern?) hineinziehen lassen. Am 24. März 1999 war es dann soweit: Der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder gab im Fernsehen bekannt, dass auch deutsche Truppen im Konflikt um das Kosovo beim Überfall auf die Republik Jugoslawien beteiligt seien. Er wollte den Kriegseinsatz noch nicht ganz zugeben und verkündete: „Wir führen keinen Krieg. Aber wir sind aufgerufen, eine friedliche Lösung im Kosovo auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen.“ Krieg ist seitdem der Orwellsche Friede. Das für unsereinen Beängstigende war, dass sich nur wenige dagegen auflehnen wollten, Protestdemonstrationen gegen den Krieg kamen nur schleppend in Gang.

1999 war ich schon einige Jahre im Ruhestand, d. h. nicht mehr zuständig für eine Gemeinde, hatte mich jedoch weiterhin friedens- und sozialpolitisch engagiert, zumeist in nicht kirchlich gebundenen Gruppen. Der Versuch, ehemalige Kollegen sowie mir noch bekannte Friedenskreise in einigen Ortsgemeinden aufzurufen zu Protest und symbolischem Widerstand, lief weitgehend ins Leere. Die Bischöfe und leitenden Gremien beider Großkirchen, evangelisch wie katholisch, gaben verwaschene Stellungnahmen von sich, sprachen von einer „tragischen Situation“, in der „wir alle“ schuldig würden, und u. U. wäre „nur Zuschauen und Nichtstun“ doch die größere Schuld… Nach acht Monaten hat immerhin der damalige leitende Geistliche der Evangelischen Kirche in Deutschland, Präses Kock, vor der Synode der EKD ansatzweise die Einschätzungen der Kirchenleitungen korrigiert: Sie hätten sich „leider zum Teil auch von den Sprachmustern der Politik und des Militärs wie ‚humanitäre Intervention’ anstelle von ‚Gegengewalt’, ‚militärische Operation’ anstelle von ‚Angriff’ oder ‚Luftschläge’ für ‚Bombardierungen’ nicht deutlich genug distanziert“. Aber dann verkündet er dreist und forsch als „Unsere friedenspolitische Grundposition1“: „Anders noch als zu Zeiten der Ost-West-Konfrontation und der nuklearen Abschreckung wird der Einsatz militärischer Gewalt als ultima ratio anerkannt …“2. – Wer soll das „anerkannt“ haben? Ein allgemeinverbindliches Lehramt kennt unsere evangelische Kirche nicht: Jede Christin und jeder Christ und jede Gemeinde haben das Recht und die Pflicht, sich zu informieren und –belehrt durch Bibel und Heiligen Geist – ihrem Gewissen zu folgen!
 
Der Auschwitzschock

Die nächste, schon im Mai mich in Bergen bis ins Innerste verstörende Begegnung war jene mit Bergen-Belsen. Das kleine Dorf „Belsen“ hatte damals nur wenige Häuser und gehörte zu einem mir zugewiesenen Gemeindebezirk. Ich habe im Mai 1966 zunächst einen älteren Bauern im Ort besucht, der auch Kirchenvorsteher war. Höflichkeiten wurden ausgetauscht, wie sich das gehört, natürlich. Als ich ihm beim Abschied sagte, ich wolle mir noch die Gedenkstätte des Konzentrationslagers, wenige Kilometer außerhalb des Dorfes ansehen, nahm sein Gesicht einen verbitterten Zug an: Nein, er wolle über das KZ nicht reden. Aber ob der Besuch gut für mich sei, müsse er sehr bezweifeln…

Ich fand, hinter Tannen und Birken versteckt, eine gerade fertiggestellte kleine Dokumentationsstätte mit damals zwei öffentlich zugänglichen Informationswänden. Schautafeln zeigten Aufnahmen, die von den Soldaten der britischen Armee bei ihrer Einnahme des Lagers im April 1945 gemacht worden waren, mit den unvorstellbaren Leichenbergen, den ausgemergelten Gestalten, dem Hungersterben ausgeliefert. In Bergen-Belsen, so las man auf den Tafeln, waren die Menschen, vor allem im letzten Kriegsjahr, fast gänzlich ohne Nahrung und ärztliche Betreuung zu Zehntausenden dem Verhungern ausgesetzt worden. Insgesamt schätzte man über 50 000 Tote, 14 000 starben noch nach der Befreiung.

Ich war an jenem warmen Frühlingstag 1966 der einzige Besucher, auch keine Aufsichtsperson war sichtbar. Nach den Schautafeln ging ich noch in Richtung des ehemaligen KZ-Lagers, wovon aber nichts mehr zu sehen war. Die Baracken waren 1945 von den Engländern völlig niedergebrannt worden, um der Ausbreitung von weiteren Seuchen zu begegnen, wie es hieß. Nach 21 Jahren erlebte ich nur noch eine fast idyllisch zu nennende Heidelandschaft mit Büschen und Bäumen im Wind, Finken zirpten, Lerchen schwangen sich in die Luft, die Idylle war kaum zu ertragen. Nach einer Wegbiegung dann doch in der Landschaft ein großer Gedenkstein, teilweise mit hebräischen Schriftzeichen. Und hier und da aufgeschüttete Gräberfelder, mit Aufschriften wie „2 000 Tote“, „5 000 Tote“, größtenteils von Gras schon überwachsen.

Das durfte doch nicht wahr sein! Da im Sand der Heidelandschaft, die ich so sehr liebte, bin ich doch 60 km weiter im Norden in dieser Gegend aufgewachsen, war die Asche von unzähligen Menschenkindern vergraben, die zum größten Teil ja alle 1966 noch leben könnten, viele bei ihrem elenden Sterben noch Kinder, vielleicht in meinem Alter. Jetzt schon über 20 Jahre ausgelöscht, Staub, von Sand und Gras und Busch und Strauch der Heide überdeckt. Konnte das noch meine Heimat sein? Und warum hatte ich erst jetzt mich hierher getraut? Vage Andeutungen musste es gegeben haben, als ich Jugendlicher war und wir die ersten Fahrten mit dem Rad bis Celle unternahmen, Zeltlager aufschlugen. Zu Hause, in meinem Dorf und der kleinbäuerlichen Familie, wurde über die Naziverbrechen kaum geredet. Wir waren froh, dass unsere Familienmitglieder die Bomben auf das nahe Hamburg wie auch den Einmarsch der Engländer unverletzt überlebt hatten. Und dann begann die Nachkriegszeit und wir mussten uns ranhalten, da unseren Weg zu finden. Wir in unserer Familie wussten ja noch und beruhigten uns damit, dass unser Vater immer „gegen Hitler“ eingestellt gewesen war, sozusagen ein „kleinbäuerlicher Anarchist“. Damit ließen sich die gelegentlich aufkommenden Fragen wohl besänftigen.

„Abstrakt“ hatte ich als 1966 Dreißigjähriger ja doch das meiste gewusst: Auschwitz, 6 Millionen ermordete Juden, Vernichtungskrieg gegen die UdSSR, Angriffskrieg gegen die halbe Welt, allein in Europa insgesamt wohl über 50 Mio. Tote. Auch las man in den sechziger Jahren gelegentlich über den Auschwitzprozess in Frankfurt. Aber in den 10 Jahren Vorbereitung auf das Pfarramt mit 5 Jahren Theologiestudium waren diese ungeheuerlichen Menschheitsverbrechen der Deutschen im Nationalsozialismus so gut wie kein Thema gewesen.

Hannah Arendt berichtet von Reaktionen junger deutscher Studenten nach ihren Vorträgen in den frühen sechziger Jahren, die ihr immer wieder erklären wollten, wie „schuldig“ sie sich als Deutsche fühlten. Doch, so merkt sie sarkastisch an, „wenn diese Jugend von Zeit zu Zeit – bei Gelegenheit des Anne-Frank-Rummels oder anlässlich des Eichmann-Prozesses – in eine Hysterie von Schuldgefühlen ausbricht, so nicht, weil sie unter der Last der Vergangenheit, der Schuld der Väter, zusammenbricht, sondern weil sie sich dem Druck sehr gegenwärtiger und wirklicher Probleme durch Flucht in Gefühle, also in Sentimentalität entzieht.“ Und sie hat eine wohl treffende Erklärung: „Die normale Reaktion einer Jugend, der es mit der Schuld der Vergangenheit ernst ist, wäre Empörung. Und Empörung wäre zweifellos mit gewissen Risiken verbunden - nicht gerade eine Gefahr für Leib und Leben, doch entschieden ein Handicap für die Karriere.“3

Nach meinem „Belsen-Schock“ war ich einige Tage kaum in der Lage, meinen Pfarramtsgeschäften nachzugehen. Dann begann ich zu fragen, zuerst einige der älteren Kirchenvorsteher: Was habt ihr gewusst? Wie habt ihr Euch verhalten, wenn ihr die Züge mit den Elendsgestalten durch den Bahnhof habt fahren sehen? Was haben Eure damaligen Pastoren gesagt? Nichts, sie hatten angeblich wenig bis gar nichts mitbekommen und waren immer noch erbost, dass man ihnen nach 45 da habe etwas anhängen wollen. Noch heute, so sagte mir einer, sagten sie im Urlaub niemanden, woher sie kamen. Aber dann hörte ich: doch, der Bäcker z. B. habe Brot ins KZ bringen müssen, wohl für die Wachmannschaft, und habe gelegentlich was erzählt; auch einige Bauern mussten dort etwas abliefern. Aber darüber durfte ja nur hinter vorgehaltener Hand geredet werden, sonst wäre man selber ins KZ gekommen…

Und dann erfuhr ich, da habe es in den dreißiger Jahren einen von den drei Pastoren gegeben, der habe sich bei den Nazis unbeliebt gemacht, wohl auch mal kritische Anmerkungen in seiner Predigt untergebracht. Doch der habe schlimm darunter leiden müssen, eines Abends sei ein Trupp junger SA-Leute gekommen und habe ihn vor seinem Haus mit Spaten zusammengeschlagen. Ja, der musste dann ganz schnell zusammen mit Frau und Kindern den Ort verlassen. Die Landeskirche habe bald einen anderen, sehr frommen Mann geschickt, der „nichts Politisches“ im Sinn hatte. Übrigens habe der erste Pfarrer in demselben Pfarrhaus gewohnt, das mir jetzt mit meiner Familie zugewiesen worden sei. – Sollte das eine Warnung sein? Der ältere Kollege erwies sich als sehr verständnisvoll für meine kritischen Anliegen, aber er warnte mich: Man solle das alles nicht mehr aufrühren, es gäbe unnötigen Ärger. Und tatsächlich hielt ich nach einigen Wochen einen Protestbrief in der Hand – von der örtlichen NPD. Ich hätte in Predigten „politisch“ geredet und ihre Partei verunglimpft! Sie würden sich bei den zuständigen Stellen darüber beschweren. Meine Antwort war, sie würden sich irren, den sogenannten „Kanzelparagrafen“ aus der Kaiserzeit, der den Pastoren verbot, sich politisch zu betätigen und zu äußern, gäbe es spätestens seit dem Untergang des 3. Reiches nicht mehr. Da war dann Funkstille. Ja, diese Partei gab es damals auch schon wieder in Bergen, ich hatte das bis dato nicht wahrgenommen. 

In den folgenden Jahren und Jahrzehnten ist die Auseinandersetzung mit Auschwitz und den anderen deutschen Menschheitsverbrechen in der Nazizeit immer zentral für unser Theologie- und Politiktreiben gewesen. Dazu gehörte ganz wesentlich die Aufarbeitung der eigenen Frömmigkeits- und Kirchengeschichte, die wir ab 1968/69 zuerst im Kollegenkreis in Osnabrück begannen, später auch in Gemeindeversammlungen betrieben und dann in der Studentengemeinde in Münster, wo ich ab 1982 tätig war. Die Judenfeindschaft des sogenannten christlichen Abendlandes, speziell für uns Evangelische den Judenhass eines Martin Luther und dann fast durchgehend im Luthertum, galt es zur Kenntnis zu nehmen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Aber genauso die unchristliche und abgöttische Verbindung von „Thron und Altar“, speziell in Preußen. Die Staatsvergötterung ist - zumindest in den deutschen lutherischen Landeskirchen – fast bruchlos auch auf Hitler und sein Reich übertragen worden.

Mitte 1941 waren neben den Kommunisten und anderen Antifaschisten vor allen die Juden schon jahrelang ausgegrenzt und völlig rechtlos gemacht worden, Zehntausende ermordet; die rassistische Selektion und Eliminierung schon auf viele besetzte Länder Europas übertragen. Da geschah der Überlall auf die Sowjetunion. In der Nazipropaganda ging es jetzt gegen den „jüdisch-bolschewistischen Todfeind“ Deutschlands. Der „Geistliche Vertrauensrat der Deutschen Evangelischen Kirche“ sandte am 30. 6. 1941 ein Telegramm an den „Führer und Reichskanzler“: „Sie haben, mein Führer, die bolschewistische Gefahr im eigenen Land gebannt und rufen nun unser Volk und die Völker Europas zum entscheidenden Waffengange gegen den Todfeind aller Ordnung und aller abendländisch-christlichen Kultur auf. Das deutsche Volk und mit ihm all seine christlichen Glieder danken Ihnen für die Tat (…) Die deutsche Evangelische Kirche (…) ist mit all ihren Gebeten bei Ihnen und unseren unvergleichlichen Soldaten, die mit so gewaltigen Schlägen darangehen, den Pestherd zu beseitigen, damit in ganz Europa unter ihrer Führung eine neue Ordnung entstehe und aller inneren Zersetzung und Beschmutzung des Heiligsten, der Schändung aller Gewissensfreiheit ein Ende gemacht werde“. 

Wer als kirchlich bestallter Pfarrer derartige Ungeheuerlichkeiten im Namen seiner Kirche um 1968 entdeckte und sie zunächst mit den eigenen Vorgesetzten diskutieren wollte, stieß auf eine Mauer der Ausflüchte und faulen Ausreden. Er begann sich zu fragen, ob er in einem solchen Verein überhaupt noch bleiben dürfe. Nicht wenige Kollegen, vor allen die noch jüngeren VikarInnen, z. B. aus der „Celler Konferenz“4, haben damals die Theologenkarriere aufgegeben. Sie sind vorwiegend in pädagogische oder sozialpädagogische Berufsfelder gewechselt, bevor ab 1972 die Politik der „Berufsverbote“ diesen Ausweg in vielen Fällen unmöglich machte. Ich hatte das Glück, für fast anderthalb Jahrzehnte einen Freundes- und Kollegenkreis zu finden, wo wir solidarisch den Streit um eine andere Theologie und eine andere Kirche klären und vorantreiben konnten, und in zwei Gemeinden arbeiten zu dürfen, die sich diesen Anfragen und Neuanfängen nicht verschlossen haben, sondern mitgegangen sind, zumindest in ihren aktiven Teilen. 

Die Lügen und Halbwahrheiten mussten auf den Punkt gebracht und für gegenwärtige Konsequenzen ausgewertet werden: Die beiden großen Volkskirchen in Deutschland waren keine Widerstandsorganisationen gewesen im 3. Reich, als die sie sich aber nach 45 gerne den Siegermächten angedient hatten. Sie haben die wenigen aufrechten Christinnen und Christen, die es gegeben hat, kaum bis gar nicht unterstützt, aber später von deren Martyrium gern profitiert. Dietrich Bonhoeffer verlangte, dass nur der ein Recht zum Gebet habe, der auch für die Juden schreie. Er ist nicht gehört worden, wurde stattdessen von den meisten „Intakten Kirchen“ als Verräter am deutschen Volk diffamiert.5 Die Evangelische Kirche hat nach 45 in Wahrheit wenig bereut, ihr sogenanntes „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ vom 19.10.1945 war kein Neuanfang, sondern ein Dokument der Anbiederung an die anwesenden Vertreter des Ökumenischen Rates der Kirchen, von denen man sich Hilfslieferungen erhoffte. …

Auch der sogenannte Kirchenkampf der „Bekennenden Kirche“ erwies sich weithin als ein in der Nachkriegszeit gut gepflegter Mythos. Was soll man von einer Bekenntnis-Theologie des sog. „Bruderrates“ halten, der noch 1948 ein „Wort zur Judenfrage“ verabschiedete, wo es u. a. heißt: Die Kirche müsse grundsätzlich dem „Selbstverständnis des Judentums“ widerstehen, „als sei es Träger oder Künder einer allgemeinen Menschheitsidee...“. Im weiteren Text finden sich drei Jahre nach Auschwitz dann diese ungeheuerlichen Sätze: „Indem Israel den Messias kreuzigte, hat es seine Erwählung und Bestimmung verworfen. (…) Dass Gott nicht mit sich spotten lässt, ist die stumme Predigt des jüdischen Schicksals, uns zur Warnung, den Juden zur Mahnung, ob sie sich nicht bekehren möchten zu dem, bei dem allein auch ihr Heil steht.“6

Der Schaden des christlichen Antijudaismus und Antisemitismus – wie des Rassismus überhaupt – sitzt sehr tief. Ich bezweifle, dass wir mit den jahrzehntelangen Bemühungen um christlich-jüdische Zusammenarbeit schon bis zum Kern vorgedrungen sind. 

Für alle Opfergruppen gilt – für die zig Millionen in den eroberten Gebieten Osteuropas, für die Sinti und Roma, die Homosexuellen, die Behinderten ebenso wie für die Juden –, dass sie um ihr Leben gebracht wurden in einem Weltmarkt-Konkurrenzkampfprogramm, das als imperialistische Entscheidungsschlacht der „germanischen Rasse“ um Macht und „Reinheit“ betrieben wurde. Hinzu kommt eine spezielle Absurdität in Bezug auf die Juden: Sie galten als besonders „schädliche“ Spezies der Menschheit, indem sie für die Verkörperung eines unbegriffenen Geldfetisches gehalten wurden – eine Pseudo-Identifizierung des ansonsten anonymen Kapitals.: Die hässliche Fratze des Geldjuden. personalisierte das schädliche „Raffende Kapital“ in den Vertretern einer „jüdischen Rasse“, die das gute deutsche „Schaffende Kapital“ daran hindere, seinen ihm gebührenden Platz im Kampf um die Weltherrschaft zu gewinnen.

Dass Geld im Kapitalismus zu einem Fetisch und anonymen Gott wird, der das gesellschaftliche Leben auf allen Ebenen durchdringt und zu immer größeren Opfern zwingt, hätte man gerade auch als Theologe bei Marx verstehen lernen können. Schon Adam Smith sprach von der „unsichtbaren Hand“ des Marktes – eine Umschreibung des neuen Gottes. Karl Marx war zwar christlich getauft, jedoch geborener Jude, also auch Angehöriger der als „schädlich“ und „gottfeindlich“ geltenden „Rasse“. Dies mag einer der Gründe dafür sein, dass in den christlichen Kirchen, selbst nach 1945, das Tabu gegen Marxismus und Sozialismus/Kommunismus besonders hartnäckig aufrecht erhalten wurde. Weshalb es auch später in Kirchenkreisen keine tatsächliche Buße an Haupt und Gliedern geben konnte, und die dann noch folgenden, bis heute nicht verstummten unzähligen Schuldbekenntnisse durchweg folgenloses Gerede blieben – wie Hannah Arendt hellsichtig diagnostiziert hatte.

Politische und sozialistische Konsequenzen

Nach Bergen-Belsen hatte bei mir ein Prozess der Konversion begonnen, seither sagten wir: Ja, wir möchten politisch engagierte Christen und Pfarrer sein und nicht einer Frömmigkeit dienen, die meint, sie könne sich aus dem Streit der Welt heraushalten. Nach einigen Jahren akzeptierten wir auch die Zuschreibung „sozialistisch“ und schlossen uns auch der 1973 gegründeten deutschen Gruppe der „Christen für den Sozialismus“ an. Einer der wenigen unserer theologischen Lehrer, der mit den Protesten der Studenten sich solidarisierte, war Helmut Gollwitzer, der es so formulierte: „Sozialisten können Christen sein – Christen müssen Sozialisten sein!“ Wir hatten auch nichts gegen die Bezeichnung „kommunistisch“ oder, wie Gollwitzer es nannte, „christliche Kommunisten“. Als in den siebziger Jahren – ausgerechnet an Pfingsten, dem Gedenktag der ersten Zusammenkunft der Urchristen – am Morgen vor dem Gottesdienst unser Kirchengebäude mit weißer Farbe beschmiert die Aufschrift zeigte, „dies ist eine Kommunistenkirche!“, bat ich die ängstlichen Küsterin, das nicht sogleich abzuwaschen. Den etwa fünfzig etwas aufgeregten Kirchenbesuchern las ich aus der Apostelgeschichte 2 den Text vor, wonach die erste Gemeinde vor 2000 Jahren in Jerusalem ja auch eine „Kommunistenkirche“ gewesen war, denn es steht geschrieben, dass sie „alle Dinge gemeinsam“ hatten7, was auf Lateinisch „communis“ heißt. In der Predigt musste allerdings auch erklärt werden, inwiefern wir als Gemeinde unter den Bedingungen des noch herrschenden Kapitalismus diesen Ehrentitel wohl noch nicht tragen dürften, und wir deshalb die Wand leider bald wieder säubern müssten …

Das systematische Umdenken begann für uns 1967/68. So sollten z. B. in der Weihnachtszeit wir die Gemeinden dazu animieren, „Brot für die Welt“ zu sammeln. Zugleich war man empört über Bombardierungen in Vietnam, einem Land der 3. Welt. Wir solidarisierten uns z. B. mit Rudi Dutschke und seinem Versuch, den Heiligabendgottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche für Protestaktionen zu nutzen. Dutschke wurde während der Christmette 1967 von einem erregten Rentner mit dem Handstock blutig geschlagen und weitere fromme Christenmenschen sorgten dafür, dass die Studenten aus der Kirche vertrieben wurden. Wie sollte das alles zusammenpassen: In vielen Ländern des Südens hungerten Millionen; wir mildtätigen Christinnen und Christen wurden zu Spenden aufgerufen, und zugleich wurden Länder, die sich von der Ausbeutung durch Kolonialmächte lösen wollten, mit todbringenden Kriegen überzogen. Stimmten denn die gut gemeinten Sprüche von „Brot für die Welt“ und der „Hilfe zur Selbsthilfe“, wonach wir „reichen Menschen“ des Nordens den „unterentwickelten Ländern“ die Möglichkeit geben sollten, sich endlich auch so zu entwickeln wie wir?

Eins unserer wichtigsten Bücher wurde damals „Kapitalismus und Unterentwicklung in Lateinamerika“ von André Gunder Frank8. Die sog. Unterentwicklung war in Wahrheit eine gestörte, eine zerstörte Entwicklung. Frank wies nach, dass z. B. die Länder Lateinamerikas, auch wenn sie u. U. schon vor Generationen ihre Unabhängigkeit erkämpft hatten, tatsächlich in großen Abhängigkeiten verblieben sind. Diese sog. „Dependenztheorie“ war und ist für mich bis heute überzeugend, die Imperialismustheorien von Lenin und Rosa Luxemburg verwiesen in die gleiche Richtung: it’s the economy, stupid! Das gilt trotz einiger Differenzierungen, die in den letzten Jahrzehnten z. B. Immanuel Wallerstein oder Samir Amin ausgearbeitet haben. Fakt bleibt: Die europäischen Kolonialmächte (und als ihr Erbe die USA) haben die Menschen des Südens seit Jahrhunderten zu großen Teilen ausgerottet, versklavt, rechtlos gemacht, beraubt und schließlich instrumentalisiert für ihre eigenen Machtinteressen.

So weit, so richtig. Doch hier lauert eine tiefe Fallgrube, insbesondere für uns brave Christenmenschen. Hellmut Gollwitzer schrieb damals ein mehrfach verlegtes Taschenbuch mit dem Titel „Die reichen Christen und der arme Lazarus“9. Er nannte es wohlweislich nicht „Wir reichen Christen“, doch so wurde es oft rezipiert: Wir alle hier sind schuldig, wenn unsere Schwestern und Brüder in der 3. Welt verhungern. Uns bleibt nur, durch unsere Spende für „Adveniat“ oder „Brot für die Welt“ uns von Zeit zu Zeit ein wenig freizukaufen - nichts anderes als ein auf Dauer gestellter, vergeblicher Ablasshand. „Wir alle“ bilden so eine große „Schuldgemeinschaft“ – wer wollte da noch von der Verantwortlichkeit von Transnationalen Konzernen oder den Schuldenanpassungsauflagen von Weltbank und IWF etwas wissen? Wagt da vielleicht gar jemand, zu reden von der Verderbtheit des kapitalistischen Gesamtsystems? Nur selbstgerechte Weltverbesserer, die nicht akzeptieren wollten, dass „der Mensch ein Sünder ist von Anfang an“, können so dreist sein und auf andere hinweisen als die eigentlich Schuldigen; und sich gar anmaßen, man könne die Welt „retten“. Als ich in den achtziger Jahren in der Universitätskirche zu Münster einmal in diese Richtung eine Predigt gehalten hatte, warnte mich ein Theologieprofessor, mit solchen Reden würde man dort enden, wo hier schon einmal „messianische Propheten“ geendet seien und wies dabei in Richtung der Lambertikirche, wo am Turm noch heute die eisernen Käfige zur Abschreckung – und Touristenattraktion – hängen, in denen die Täufer 1535 zu Tode gefoltert worden waren.

Wir haben gelernt, dass viele der hoch und heilig gehaltenen Lehrsätze, insbesondere auch der protestantischen Theologie, ihren Praxistest schon in den Anfängen, z. B. in Luthers Verrat an Thoman Müntzer und den aufständischen Bauern, nicht bestanden haben und neu analysiert, zu großen Teilen korrigiert werden mussten. Ungemein hilfreich war dabei die in Lateinamerika entwickelte „Theologie der Befreiung“. Sie lenkte den Blick z.B. auf den biblisch so zentralen Topos des Exodus, den Auszug aus der Sklaverei zu einem solidarischen Gesellschaftsentwurf. Sie zeigte, dass auch Jesus Christus gekommen war, um sehr reale Befreiung aus Schuldknechtschaft und Despotie für sein Volk und letztendlich für alle Menschen zu gewinnen.

Die Versuche, eine Theologie der Befreiung auch für Europa auszuarbeiten, können hier nicht ausgeführt werden. Dabei haben viele von uns – wie unsere Kollegen und Freunde aus der 3. Welt - sich unvermeidlich auch vom Marxismus belehren lassen. Es war z. B. im Berufsschulunterricht (den ich von 1967–1970 nebenamtlich zu geben hatte) und auch im Konfirmandenunterricht nicht schwer, die Frage der strukturellen Klassenzugehörigkeit zu thematisieren und tendenziell auch Formen der solidarischen Gegenwehr als exemplarische Möglichkeit aufzuweisen. Wenn Stahlarbeiter im Klöckner-Werk Osnabrück über Weihnachten im Streik standen, wurde der Heiligabendgottesdienst auch zu einer Solidaritätsaktion genutzt bis hin zu einer öffentlichkeitswirksam übergebenen Spende für die Streikkasse. Im Arbeitskreis „Kirche und Arbeitnehmerschaft“ des KDA (Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt) konnten selbst Texte von Karl Marx oder Friedrich Engels traktiert werden.Die Marxlektüre half beim Wegräumen fataler Verschleierungsmechanismen, wie sie besonders gern in kirchlichen Kontexten verbreitet sind.10
 
Nach 40 Jahren

Abwehr und Versuche der Ausgrenzung (nicht nur von Kirchenoberen) blieben bei unseren Versuchen zu basisgemeindlicher Arbeit natürlich nicht aus; einige mussten unliebsame Versetzungen hinnehmen. Dafür aber haben wir eine Lebendigkeit und vor allen neue Formen der Kommunikation erfahren, um die uns auch unsere konservativen Kollegen beneideten (wie bei Gelegenheit eines vertraulichen Gesprächs zu vernehmen war).Durch unsere Mitarbeit in Stadtteilprojekten, Bürgerinitiativen, Friedenskreisen, Gewerkschaften (die „Fachgruppe kirchliche Mitarbeiter in der ÖTV“ wurde 1972 initiiert), oder Streiks etc. veränderte sich die gesamte Gemeinde, zumindest in ihren aktiven Teilen. Unter provinzstädtischen Bedingungen und durchsetzt mit volkskirchlichen Gewohnheiten sind so auch ganz neue, basisgemeindliche Strukturen entstanden, wo das Heil nicht mehr vom Pastoren erwartet, sondern zu einem Ereignis gegenseitiger Hilfe und Ermutigung wird, nicht zuletzt für den Theologen.

Man wird behaupten dürfen, dass in gewisser Weise beide immer noch großen Volkskirchen in Deutschland nicht zuletzt durch die 68er Bewegung ihr kulturelles und auch ihr soziales Profil entscheidend verändert haben..

In den Fragen der sozialen Gerechtigkeit schien es für einige Jahrzehnte so, als hätten auch die Bischöfe und Präsides einiges dazugelernt. Der ökumenische Slogan „Für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ fand nicht nur auf den Kirchentagen überwiegend Zustimmung. Noch 1997 gaben beide Kirchen das auch von Basisgruppen erarbeitete, viel gerühmte „Sozialwort“ heraus, worin sie sich für den weiteren Ausbau des Sozialstaates aussprachen. Für unsereinen enthielt auch dieses Kirchenwort zu viele Kompromissformeln und moderate Appelle und zu wenig klare Analysen oder präzise Forderungen. Aber immerhin. Was seither uns fast im Jahresrhythmus an offiziellen Kirchenworten zugemutet wird, könnte einen zum Abfall vom Glauben verleiten - sofern unser Glaube von Kirchenleitungen abhängen würde. Ihr Einstimmen in den Chor der neoliberalen Konterreformer, ihre Ausrichtung auf Regierungs- und Arbeitgeberprogramme, die alles bisher Soziale am Staat dem Diktat von Wettbewerb und Kapitalrentabilität unterstellen, ist beschämend und nur noch erbärmlich: Sie wollen ihre weitere staatliche Alimentierung retten durch Anpassung und Gleichschaltung. Kennt denn keiner das Jesuswort: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon!“?

Entgegen seinen düsteren Beschreibungen bundesdeutscher Verhältnisse von 1965 hatte Peter Brückner nach 1968 gewisse Hoffnungen, dass es wieder eine „westdeutsche Linke“ gebe, und dass in ihr die „Auseinandersetzungen mit Vergangenheit, Realität und ihre Veränderung nicht bloß Sorge und Sache weniger sind“.11 In Anbetracht der ersten größeren Konjunktureinbrüche hieß seine Diagnose 1978: „Parlamentarische Demokratien wie die BRD können die Bedürfnisse der Unternehmer und ihres philosophischen Anhangs ohne Legitimationsverlust jedoch nur solange privilegieren, als den Nicht-Privilegierten materielle Entschädigungen für ihre Lage und bestimmte politische Rechte gesichert sind.“ Gegen diese Einsichten hat die Schröder-Fischer-Connection massiv verstoßen und die Merkel-Müntefering-Steinmeier-Crew versucht sich in Schadensbegrenzung, jedoch bei flexibler Fortsetzung des eingeschlagenen Verarmungskurses für die Masse auch der Arbeiterschaft. Die Achtundsechziger sind alt oder zu großen Teilen mit Träumereien zivilgesellschaftlicher Pazifizierungsstrategien in den neoliberalen Mainstream integriert. Die Zeit wäre reif für einen Neuanfang,nach 40 Jahren wäre genügend Platz da für eine erneuerte Linke aus Jungen und Alten, sofern sie noch reaktivierbar sind.

(Dieser Aufsatz ist redaktionell gekürzt. Der vollständige Text erscheint demnächst in einem Sammelband: „68 und die Religion – Zwischen Medellin und Paris“, hrg. von Kuno Füssel und Michael Ramminger. Edition Exodus und ITP-Kompass. Fribourg / Münster 2008. Preis 24,80 Euro)



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1 Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, 2.Auflage 1967, Neuwied u. Berlin.
2 epd-Dokumentation 48/1999, S. 6.
3 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem, München 1964, S. 298/9.
4 Initiiert von ‘Theologiestudenten und Assistenten aus dem Umfeld des SDS fanden in Celle drei Konferenzen statt (30.9.— 3. 10. 1968, 17.3.— 20. 3. 1969 u. 8. 9. 1969), auf
denen letztendlich keine Einigung über eine gemeinsame Strategie zu finden war. Sollte man z.B für eine andere, sozialistisch befreite Kirche in der Institution arbeiten oder radikale Institutionskritik von außerhalb betreiben?
5 Das hatte Nachwirkungen für Jahrzehnte: Als wir 1967 unsere neu entstehende Kirchengemeinde in Osnabrück nach Bonhoeffer benennen wollten und ich deshalb bei der Landeskirche anfragte, hat man uns das untersagt.
6 „Christen und Juden — Dokumente der Annäherung‘, Hrg. v. Ulrich Schwemmer, Gütersloh 1991,S. 89f.
7 Apostelgeschichte 2,44.
8 André Gunder Frank, Kapitalismus und Unterentwick lung in Lateinamerika, Frankfurt/M. 1968.
9 Helmut Gollwitzer, Die reichen Christen und der arme Lazarus, München 1968.
10 Vgl. MEW 23, S. 738 u. 621
11 Peter Bruckner, Versuch, uns und anderen die Bundesrepublik zu erklären, Berlin 1984, S. 34/35.