Schlimm scheint es um die so arg geschröderte SPD bestellt zu sein. Zwischen 1990 und heute sind ihr von den damals 950.000 Mitgliedern schon fast
380.000 davongelaufen, ein Schwund von 40 Prozent. Am 1. Oktober diesen Jahres besaßen gerade noch 567 925 ein sozialdemokratisches Parteibuch - wie lange noch? Auch der millionenfache Wählerschwund, den Umfragen zufolge weiter anhaltend, läßt auf allen Ebenen die Abgeordneten und deren viele tausend Mitarbeiter in Bund und Ländern um Wiederwahl und auskömmliches Einkommen fürchten. Hartz IV für ausgeschiedene Bundestagsabgeordnete ist ein Jahr nach der letzten Bundestagswahl in Einzelfällen schon Realität. Selbst in der Berliner Parteizentrale sollen jetzt Stellen gestrichen werden. Und niemand soll Weihnachtsgeld bekommen.
Der Öffentlichkeit wird in Vorbereitung des Ende Oktober in Hamburg stattfindenden Parteitages, wo ein neues Parteiprogramm verabschiedet werden soll, ein verwirrender Richtungsstreit vorgeführt. Alle überregionalen Medien sind mit großem Eifer in die Berichterstattung eingestiegen. Man könnte vermuten, daß den Parteistrategen und ihren Marketing- und Medienverantwortlichen gerade daran gelegen war, denn Streit erweckt Aufmerksamkeit, und selbst eine kritische Berichterstattung ist besser als gar keine.
Doch darf man wohl auch nicht zu viel Gescheitheit in der SPD-Spitze voraussetzen. Eher wird es so sein, daß die Unternehmerverbände dem von ihnen kontrollierten Medienkartell bedeutet haben, daß sie kein Interesse am Untergang der SPD haben. So titelte die FAZ in ihrem Wirtschaftsteil: "Manager sollen für Müntefering kämpfen". Berichtet wurde, daß BDI-Präsident Thumann in Schreiben an mehrere tausend Unternehmer und Manager dazu aufgefordert hat, sich auch in den Wahlkreisen für den Erhalt der Agenda-Gesetze einzusetzen. Es wird also nicht mehr nur "mit den Augen gezwinkert", wie Arno Klönne vor vier Wochen an dieser Stelle vermutet hatte. Die Zeit brachte es fertig, eine Oktober-Ausgabe mit einer riesigen Traueranzeige aufzumachen: "Das Ende von Hartz IV", um dann im Innern Kurt Beck widersprechen zu lassen.
Warum soll es überhaupt ein neues Programm geben? Das noch gültige "Berliner Programm" stammt von 1989. Darin findet sich keine Absicht, die DDR anzuschließen, kein Plan, die Bundeswehr zu Angriffszwecken außerhalb der NATO-Grenzen einzusetzen. Daß die SPD eine Regierung bilden würde, um das System der Solidarrente zu demontieren, die sozialstaatliche Krankenversorgung zu schreddern, die Arbeiterschutzrechte zu kappen, die Gewerkschaftsrechte zu schwächen, die Arbeitslosen auf Sozialhilfe zu setzen, die Reichen mit Steuergeschenken zu überhäufen, die Zahl der Armen zu vermehren und deren Existenzminimum weiter herabzusetzen, ahnt niemand, der etwa noch einmal einen Blick in das gültige Parteiprogramm wirft. Die sozialdemokratischen Kanzler, Minister oder Ministerpräsidenten haben sich in ihrem Regierungshandeln durch Grundsatzerklärungen ihrer Partei so wenig stören lassen wie die Großkirchen durch die Worte der Bergpredigt Jesu Christi. Doch genauso wie es in den Kirchen immer wieder Synoden und Konzile geben muß, die mit neuen Erklärungen die längst vollzogenen Schwenks den Gläubigen zu verkaufen trachten, will auch eine Partei versuchen, ihre verunsicherte Gefolgschaft zu beruhigen. Danach braucht man in die verabschiedeten Dokumente keinen Blick mehr zu werfen.
In der SPD hatten zunächst jene cleveren Strategen das Wort, die die Politik der sieben Jahre Schröder wie auch das Handeln der jetzigen SPD-Minister in der Großen Koalition in modische Formeln packen und für jedes beliebige Werbekonzept kompatibel machen wollten. Ihr sogenannter "Bremer Entwurf" ging Anfang des Jahres an die Parteigliederungen und Ortsvereine. Die Diskussion verlief schleppend und lustlos. Das veranlaßte wohl die Macher um Peer Steinbrück, Frank Walter Steinmeier und Matthias Platzek zu einem Buchprojekt mit dem Titel "Auf der Höhe der Zeit - Soziale Demokratie und Fortschritt im 21. Jahrhundert". In 48 Beiträgen versuchten sich "Netzwerker" und andere SPD-Karrieristen daran, nachzuweisen, daß der Begriff "Demokratischer Sozialismus", wie er sich noch im alten Programm fand, nicht mehr in die globalisierte Landschaft paßt. "Sagt doch einfach ›soziale Demokratie‹" - so die Artikelüberschrift von Ministerpräsident Platzeck.
Doch der Parteienforscher Franz Walter diagnostizierte, die von solchen neoliberalen Modernisierern geforderte "neue SPD" sei "kalt und streberhaft", sie argumentiere "zackiger und verlangender, ihre Postulate klingen kühl, hart und technologisch".
Da hatten sich die Modernisierer wohl zu weit vorgewagt. Gäbe die einstige Arbeiterpartei so offen zu, daß sie das untere Drittel der Gesellschaft längst abgeschrieben und nur noch eine imaginäre flexible "moderne Mitte" im Blick hat - mit kräftigem Schielen nach oben -, dann würde sie noch größere Teile der alten Anhängerschaft erschrecken und in die Resignation oder gar in die offenen Arme der Linkspartei treiben. Ottmar Schreiner, der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen in der SPD, meinte, seine Stunde sei gekommen. Ausgerechnet die FAZ stellte ihm eine ganze Seite zur Verfügung für seine Abrechnung: "... die Parteispitze hat in den Schröderjahren Â… sich mit Agenda 2010 und Hartz IV von einer fortschrittlichen, emanzipatorischen Reformpolitik endgültig verabschiedet. Eine kleine Clique an der Spitze (›die Nachlaßverwalter Gerhard Schröders‹, O. Sch.) wollte die reformistische Tradition der SPD als linker Volkspartei entsorgen." Die "Entsozialdemokratisierung" müsse spätestens auf dem Parteitag "programmatisch und personell gestoppt werden".
Solch ein radikaler Schwenk geht allerdings den meisten Mandatsträgern, auch wenn sie sich vage noch als "links" einordnen, viel zu weit. Vor einem Bruch haben sie noch mehr Angst als vor den vielen "Bauchschmerzen", die ihnen bisher schon der reale Konter-Reformkurs bereitete. Sie geben überwiegend dem Genossen Ottmar einen Korb, aus Angst vor politischem Neuland, das ja zumeist ohne sicheren Listenplatz anzusteuern wäre. Der wackere Streiter für die Arbeitnehmerinteressen hat sich geirrt, es ist eben nicht nur "eine kleine Clique an der Spitze", die längst Verrat begangen hat und weiter begehen wird. Er wird wohl seinen Weg in die Linkspartei ziemlich alleine antreten müssen.
Schon länger war die Crew um den Parteivorsitzenden Kurt Beck alarmiert durch das Anwachsen des Unmuts an der Basis. Also mußte ein neuer Programmentwurf her, in kürzester Zeit erarbeitet von Andrea Nahles, Wolfgang Thierse und Hubertus Heil. Er gilt als guter Kompromiß - nun also ein freundlich nach allen Seiten lächelndes Gesicht, versehen mit einigen Ehrfurcht einflößenden Falten. Der alte Markenname "Demokratischer Sozialismus" wurde reaktiviert. Und auch Parteienforscher Franz Walter ist diesmal sehr zufrieden: "Gerechte Wohlstandsverteilung, Kritik an der Globalisierung, Schulterschluß mit den Gewerkschaften."
Kurt Beck, der Mann mit guten Ohren für Stimmungen im Pfälzer Volk, hat jetzt kurz vor dem Parteitag noch mal kräftig in den Schminktopf gelangt. Das Bild der SPD erhält ein Zusatzlächeln für ältere Arbeitnehmer, die arbeitslos werden. Ihnen soll in Zukunft doch einige Monate länger Arbeitslosenhilfe gezahlt werden, bevor sie zum Sozialfall nach Hartz IV werden. Das wurde der Medienhype fast für eine ganze Woche. Beck, vom Zeit-Interviewer gefragt, ob das nicht eine Abkehr vom durch die Hartz-Gesetze verordneten Druck zum Mentalitätswechsel bei den Arbeitslosen sei, antwortete: "Aber das steht doch nicht infrage, nur weil in Zukunft drei Monate länger Arbeitslosengeld gezahlt wird. Man muß Druck aufrechterhalten auf diejenigen, die sonst ihre Eigenverantwortung nicht wahrnehmenÂ…" Kurt Beck hat sich hier verplappert, er gibt zu Protokoll, daß er ganz fest zu den Hartz-Gesetzen steht und zum eingeschlagenen Schröderkurs, der die Leute durch Androhung noch größerer Verarmung in Billig-Jobs zwingen will. Mit seinem bisher letzten Griff in den Schminktopf wollte er doch nur "die Leute auch emotional abholen", wie er ebenfalls noch verriet.