Abendland

Die Pegida-Bewegung hat einen Begriff wieder ins Zentrum des Interesses gerückt, der aus der politischen Diskussion über Jahrzehnte verschwunden zu sein schien: das Abendland. Ein Terminus, der in gleicher Weise assoziations- und emotionsbeladen wie schwammig ist. Das macht seine Integrationskraft wie seine Gefahr aus. Drei Assoziationskreise seien benannt: Abendland und Morgenland, Abendland und Christentum, Abendland und Europa.

Abendland und Morgenland: Die drei Weisen der Weihnachtsgeschichte kommen aus dem Morgenland. Das Abendland ist nicht der Quell der Weisheit, aber ihr letzter Schluss. Ex oriente lux – aber westliche Aufklärung. Das sind Stereotype einer Nordwestpassage des Geistes, uralt und dadurch eingebrannt, latent präsent und immer wieder zu aktivieren. Luther hat davon geredet, dass das Evangelium erst den Juden, dann den Griechen, darauf den Römern und endlich den Deutschen anvertraut worden sei – wenn sie es nicht zu behalten wüssten, würde es auch ihnen wieder abgenommen werden. Hegel hat seine Religionsphilosophie von Ost nach West aufgebaut: Von Indien über den vorderen Orient, Ägypten, die Griechen und Römer bis zum Christentum, dessen eigentlicher Gehalt dann in seiner eigenen, Hegels, Philosophie kulminiert – von der Religion der Phantasie über die des Guten, der Erhabenheit und der Schönheit bis zur absoluten Religion. Der Islam kommt in diesem Geschichtsbild nicht vor – käme er vor, wäre er ein Rückschritt, vermutlich in Richtung der Erhabenheit. Das Abendland als Schlusspunkt einer vom Osten ausgehenden kulturellen und geistigen Entwicklung – diese Sicht haben auch Sultan Murad V., der Wiener Walzer komponierte, und Atatürk geteilt.
Zugleich wird das Morgenland mystifiziert. Die schwülen Haremsphantasien und Odaliskenbilder des 19. Jahrhunderts sind nur ein sichtbarer Ausdruck dafür, dass man sich einen Orient schafft, den es nie gab. Edward Said hat den abendländischen Blick auf den Nahen Osten als Konstrukt mit dem Ziel einer usurpativen Aneignung entlarvt; Orientalismus nennt man ihn seither. Man mag darüber verschiedener Meinung sein, ob jede geistige Morgenlandfahrt kulturimperialistisch ist (für den späten Goethe möchte ich das bestreiten) – aber Sehnsucht trübt den Blick und aus enttäuschter Liebe kann schnell Hass werden.
Abendland und Christentum: Das Abendland ist christlich, so habe ich es auf der Schule gelernt und so propagiert es Josef Ratzinger bis heute. Der Islam gehört eben nicht hinzu: Immer wieder stand das Abendland in der Gefahr, seine christliche Identität zu verlieren – die es durch militärische Siege bewahrten, sind Helden: Karl Martell, der die Araber 732 in Poitiers besiegte, Jan Sobieski in der Schlacht am Kahlenberg, der Türkenlouis und Prinz Eugen, die Heilige Liga unter Don Juan d’Austria in der Schlacht von Lepanto. Manchmal bleibt ein schlechtes Gewissen: Die Kreuzzüge und die Reconquista haben eine überlegene Kultur zerstört. Trotzdem: Die Angst überwiegt. Die beiden Belagerungen von Wien haben sich tief eingegraben ins kollektive Gedächtnis, auch wenn ihre Daten niemand mehr weiß.
Es gibt ein abendländisches und ein morgenländisches Christentum. Das morgenländische im engeren Sinne umfasst jene Kirchen, die die Beschlüsse des Konzilien von Ephesos (Assyrer) beziehungsweise von Chalzedon (Monophysiten) nicht mittragen. In einem weiteren Sinne und aus einem Gegensatz zum Abendländischen heraus verortet man aber auch die orthodoxen Ostkirchen im Morgenland, sind sie doch in ihrer Lehre und Liturgie von den meisten Entwicklungen abgeschnitten gewesen, die die abendländische Theologiegeschichte ausgemacht haben. Das hat seinen Grund: Das westliche Christentum hat im hohen Mittelalter das eine Wörtchen filioque in sein Glaubensbekenntnis eingefügt: dass der Heilige Geist nicht nur vom Vater, sondern auch vom Sohne ausgehe – und damit eine dynamische, dialektische Denkstruktur geschaffen (These, Antithese, Synthese), ohne die Hegel und Marx nicht denkbar wären. Das Abendland reicht so weit, wie die lateinische Messe gelesen wird, hat mein Geschichtslehrer einst gesagt – und damit einen kulturellen Raum bezeichnet wissen wollen, der bei aller Verschiedenheit nationaler Traditionen eine gemeinsame Identität stiftet.
Abendland und Europa: Für Novalis war das noch dasselbe. Die Christenheit oder Europa lautet der Titel seines Essays, der 1799 entstand und unter diesem Titel erst postum vollständig publiziert wurde. Es stellt sozusagen die Summe jener romantischen Geschichtsdeutung dar, die in deutlichem Widerspruch zum Geschichtsbild der Aufklärung in der angenommenen Einheit des christlichen Mittelalters die glücklichste Phase des Kontinents erblickt und für die Zukunft eine die Naturphilosophie mit der Theologie vereinende christliche Ökumene erhofft. Das war immerhin eine Vision. Heute ist der Begriff Europa desavouiert – mit ihm assoziiert man Brüssel und Bürokratie, Verordnungswesen und Volksferne, Subventionen und Zentralbank. Der Begriff Abendland füllt eine Lücke, die die völlig auf EU-Institutionen reduzierte Verwendung des Wortes Europa hinterlassen hat. Übersichtskarten, die irgendwelche statistischen Größen in Europa aufzeigen und dabei die Schweiz behandeln wie die Malediven, dienen nicht gerade der Identitätsstiftung. Das rächt sich nun, indem ein Begriff der politischen Romantik entsprechende Aufgaben zugewiesen bekommt – vermutlich, ohne dass die, die ihn benutzen, sich über die Folgen im Klaren sind. Denn das Abendland lebt nicht von dem, was es ausgrenzt, sondern von dem, was es positiv ausmacht – und das ist das Christentum. Wer Ratzingers, wer des Novalis Ideologie übernimmt, muss ihnen auch in der Praxis folgen. Nähmen die Dresdner Demonstranten ihren eigenen Slogan ernst, müssten sie jeden Sonn- und Feiertag die Kirchen der Stadt füllen – die katholischen zuerst, denn in der protestantischen Theologie hatte man dem Begriff Abendland gegenüber immer Vorbehalte. Doch das scheint nicht der Fall zu sein. Und so fällt die Rede vom Abendland schnell in das zusammen, was sie ist: leere, unwahrhaftige Rhetorik.
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