Freie Mobilität der Produktionsfaktoren oder Demokratisierung der Ökonomie

Bemerkungen zu Wolfgang Heins

in (23.12.2005)

Wolfgang Hein konstruiert, Michael Hardt und Antonio Negri (2002) weiterdenkend, das idealtypische Modell einer Weltwirtschaft, in der vollständige Mobili-tät sämtlicher Produktionsfaktoren herrsch

Wolfgang Hein konstruiert, Michael Hardt und Antonio Negri (2002) weiterden-kend, das idealtypische Modell einer Weltwirtschaft, in der entsprechend den Annahmen der "klassischen", "von vielen konkreten Gegebenheiten abstrahierenden ökonomischen Theorie" vollständige Mobilität sämtlicher Produktionsfaktoren herrscht - nur eben weltweit, nicht mehr auf nationale Ökonomien beschränkt. In der aktuellen weltgesellschaftlichen Realität widerspricht dem selbstredend v.a. die Begrenzung der Mobilität der Arbeitskräfte durch zwischenstaatliche Grenzen. Durch diese werden unter anderem auch das durch die Kämpfe der Arbeiterschaft in den Kernstaaten erreichte Reallohnniveau und die korrespondierenden sozialstaat-lichen Errungenschaften geschützt. Wenn die Grenzen fielen und die uneinge-schränkte Mobilität der Arbeitskräfte verwirklicht wäre, würden dem Modell gemäß die Reallöhne in den Zentren notwendig drastisch nach unten nivelliert und die sozialstaatlichen Leistungen ebenso drastisch reduziert werden. Daraus resul-tiert ein bedrückendes ethisches Dilemma: Soll man sich im Interesse der Armuts-migranten aus der Peripherie für weltweit uneingeschränkte Mobilität der Ar-beitskräfte einsetzen oder soll man im Interesse menschenwürdiger Lebensführung der Arbeiterschaft in den Kernstaaten an der nationalstaatlichen Begrenzung die-ser Mobilität festhalten? Das Dilemma scheint unausweichlich - und es trifft zu, dass die Linke bislang generell ziemlich ängstlich davor zurückgeschreckt ist, sich ihm zu stellen. Den Finger auf die Wunde gelegt zu haben, ist Wolfgangs Verdienst. Trotz der zuzugestehenden "prinzipiellen Radikalität" der "klassischen öko-nomischen Theorie" fällt in Wolfgangs Beitrag in meinen Augen jedoch ein zentra-ler Mangel dieser Theorie unter den Tisch: Die "reine Ökonomie" ihrer Modelle ist gar keine wirklich reine (i.S. von formationsunspezifische), sondern immer noch eine kapitalistische. Die zentrale Ursache dafür ist, dass der kapitalisti-sche Staat entgegen dem Augenschein aus dem Modell keineswegs verbannt ist, son-dern darin versteckt, aber in entscheidender Funktion weiter agiert - und zwar nicht nur, wie Wolfgang schließlich zugesteht, als quasi neutraler Schützer von Eigentumsrechten überhaupt, sondern als Garant der spezifisch kapitalistischen Institution des privaten Kapitaleigentums und damit der kapitalistischen Klas-senverhältnisse. Die Marxsche Kritik der "trinitarischen Formel" (vgl. MEW 25, Kap. 48) der klassischen politischen Ökonomie, die auch für die etwas modernere, auf die Wolfgang sich bezieht, noch ihre Geltung hat, kann verdeutlichen, was ich meine. Auch für die letztere steht außer Frage, dass der Profit die natürli-che (oder raffinierter: raumzeitlos gültige) Remuneration des Produktionsfaktors Kapital darstellt, die Rente die des Produktionsfaktors Boden, der Lohn die des Produktionsfaktors Arbeit - wo doch die Rente nicht an den Boden und der Kapi-talzins nicht an "das Kapital", sondern jeweils an deren Eigentümer gezahlt wird, die in beiden Fällen von "ihren" Produktionsfaktoren prinzipiell abtrenn-bar sind, was bei der Arbeitskraft eben nicht der Fall ist.(1) In Einzelfällen hat sich dies sogar bis zu gut bürgerlichen Nationalökonomen hin herumgespro-chen, zu Paul A. Samuelson etwa, der ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass eine jede Gesellschaft (gleich welcher Wirtschaftsordnung) "bei der Entscheidung über die Verwendung von Kapital so etwas wie einen Kalkulationszinssatz verwen-den müsste, um die Projekte herauszufinden, die der Gesellschaft den höchsten Nutzen bringen", dann aber fortfährt: "Das hat selbstverständlich nichts damit zu tun, dass diese Zinsen irgend jemand als Einkommen zufließen müssten" (zit. n. Hunt & Sherman 1974, Bd. 1: 58). Dass sie dies eben doch tun, liegt nicht an den Gesetzmäßigkeiten einer "reinen Ökonomie", sondern an der Kapitaleigentums-garantie durch den kapitalistischen Staat - welche nicht von ungefähr bei jedem sich ankündigenden Regimewechsel in der Dritten oder ehemaligen Zweiten Welt immer die erste und entscheidende Forderung der G7 wie der Internationalen Fi-nanzorganisationen an die jeweils Neuen darstellt. Das idealtypische Modell, das Wolfgang aufmacht, ist eben keines der "reinen Ökonomie", sondern eines, in dem sich der Staat aus dem Schutz der (gesetzlichen, tarifvertraglichen etc.) Errun-genschaften "seiner" Arbeiterschaft zurückgezogen hat, nicht aber aus dem Schutz des Kapitaleigentumsprivilegs der Bourgeoisie - eine kapitalistische Weltwirt-schaft. Dass in einer solchen die uneingeschränkte Mobilität der Arbeitskraft zu einer Nivellierung der Reallöhne nach unten führen muss, ist angesichts der weltweit riesigen industriellen Reservearmee alles andere als überraschend. Die-se Gesetzmäßigkeit auch noch zu befördern, kann sicher jedenfalls kein vorrangi-ges Ziel linker Politik sein. Die linke Utopie für den Produktionsbereich kann nicht die freie Mobilität der Produktionsfaktoren sein, es muss die Demokratisierung der Ökonomie bleiben, weltweit, an der Peripherie (in der es ja auch gewaltige Kapitalkonzentrationen gibt) wie in den Metropolen - der von Karl Marx anvisierte (und auch von Wolf-gang angestrebte) "Verein freier Menschen", in dem alle Betroffenen (nicht nur private Kapitaleigentümer) in demokratischer Weise über die Produktions- und Investitionsziele wie über die Verteilung des erarbeiteten Gesamtprodukts auf Konsum, Akkumulation und Kapitalerhaltung entscheiden. Dass auch in einer sol-chen Ökonomie der Spielraum für die Höhe der Reallöhne ein begrenzter bleiben würde, versteht sich von selbst. Aber es wäre eben nicht mehr der Umfang der privat angeeigneten, der demokratischen Disposition entzogenen, Profite von Ka-pitaleigentümern, welcher die Obergrenze festlegen würde; die würden wegfallen. Und noch eines am Rande: Auch die mutmaßlichen "Privilegien" der Arbeiter-schaft des Nordens gewinnen im Lichte der Marxschen Analyse ein ganz anderes Gesicht als in den gängigen Vergleichen der Nationalökonomie. Wenn jeder kapita-listische Lohnarbeiter - an der Peripherie wie in den Metropolen - einen über seinen Lohn hinausgehenden Mehrwert produzieren muss, der vom Kapitalisten un-entgeltlich angeeignet wird (anders würde er gar nicht erst beschäftigt), dann erschöpft sich jenes Privileg darin, dass die Arbeiterschaft des Nordens weniger stark ausgebeutet wird als die des Südens. Der durch den bloßen Lohnvergleich nahe gelegte Interessengegensatz zwischen beiden relativiert sich, Lenins Arbei-teraristokratiethese zum Trotz, gewaltig, die gemeinsame Frontstellung gegen das - weltweit agierende - Kapital wird sichtbarer.

Anmerkung (1) Marx hebt gemäß seiner Arbeitswertlehre in der Erläuterung vor allem darauf ab, dass nur die Arbeit, nicht aber Kapital und Boden tauschwertschaffend seien. Für den Fortgang des Arguments ist dies jedoch nicht entscheidend und soll deshalb hier auch nicht weiter vertieft werden - zumal es angesichts der prinzipiellen Ablehnung der Arbeitwertlehre durch die bürgerliche Nationalökono-mie Erörterungen nötig machen würden, die den Rahmen eines Kurzartikels bei wei-tem sprengen würden; vgl. hierzu Hauck 1992: 15f, 251.

Literatur Hardt, Michael; Negri, Antonio (2002): Empire. Die neue Weltordnung. Frank-furt a.M. Hauck, Gerhard (1992): Einführung in die Ideologiekritik. Hamburg. Hunt, Emery K.; Sherman, Howard J. (1974): Ökonomie aus traditioneller und radikaler Sicht. 2 Bde. Frankfurt a.M. Marx, Karl (1979/1981/1983): Das Kapital. 3 Bde. MEW 23-25. Berlin (DDR). Anschrift des Autors: Gerhard Hauck gihauck@t-online.de

Aus PERIPHERIE 100 "100 PERIPHERIEN - Die Welt von den Rändern her den-ken", Münster 2005, S. 465-467

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