Eine kleinteilige große Arbeitswelt

Editorial zum Themenschwerpunkt

Die Welt ist informell. In Deutschland hätte das vermutlich niemand gedacht – und tatsächlich liegt hier der Anteil der informellen Ökonomie ‚nur‘ bei gut zehn Prozent der aufgebrachten Arbeitszeit. Weltweit sind 61 Prozent der Lohnarbeitenden in der informellen Ökonomie beschäftigt. Sie wird auch informeller Sektor oder legale Schattenwirtschaft genannt.

Die Arbeit, die Menschen dort leisten, ist nicht regulär und in offiziellen Statistiken erfasst. Andererseits entspricht sie auch nicht der illegalen Schattenwirtschaft im kriminellen Sektor. Dennoch sind Übergänge zwischen illegaler, formeller und informeller Ökonomie in einigen Bereichen fließend. Letztere ist rechtlich nicht reguliert und generiert keine Steuern. Sie wird von Menschen geprägt, die handwerklich Produkte herstellen, Carearbeit leisten, Schuhe putzen, Nahrungsmittel verkaufen oder sonst wie wirtschaften, um zu (über)leben. Der Sektor erstreckt sich über Landwirtschaft, Hausarbeit und Handel bis in die Industrie, einschließlich digitaler Jobbörsen – letztlich überall hin.

Die meisten würden lieber einen regulären Job haben, der mehr Einkommen, Absicherung und soziales Prestige bringt. Informelle Jobs finden in kleinen Produktionseinheiten mit geringer Kapitalgrundlage statt. Entsprechend wird von der Hand in den Mund gewirtschaftet. Wer heute nur eine Karre Kaktusfrüchte verkauft, muss morgen das Gleiche tun. Das ist das Gegenteil des Wirtschaftens in technisch fortgeschrittenen Sektoren. In Industrieländern wird mit ausreichendem Kapital und entsprechender technischer Ausstattung Gewinn generiert, der ausreicht, um durch neue Investitionen die Produktivität immer weiter zu erhöhen. Dies findet in der kapitalarmen informellen Ökonomie kaum statt – und wenn dort noch so findig und digital unterstützt agiert wird. Denn in der informellen Ökonomie gibt es kein nennenswertes Kapital für technische Neuerungen. Fehlende Steuergelder verhindern Ausgaben für Bildung und Infrastruktur, was die Schattenwirtschaft weiter festigt. Sie verfestigt so auch die Asymmetrie zwischen Süd und Nord.

Die Ambivalenz: Einerseits ist der informelle Sektor ein höchst relevanter Bereich, der das Überleben zahlreicher Menschen sichert, deren mannigfaltige Lebensleistungen (endlich) anzuerkennen sind. Andererseits führt er viele in eine Sackgasse perspektivloser Plackerei.

Für die Einzelnen heißt Informalität Rechtlosigkeit. Der informelle Sektor steht exponiert für das Leid in der Arbeitsgesellschaft. Die Leute rackern für Niedriglöhne bis zur Arbeitsunfähigkeit. Wer krank oder alt wird, fällt ohne Absicherung aus dem System heraus.

Die falsche (aber gängige) Bekämpfung der Informalität ist: Repression. In zahlreichen Ländern bekämpfen Regierende informelle Arbeiter*innen, anstatt unsoziale Rahmenbedingungen zu ändern. Wir legen in diesem Themenschwerpunkt einen Fokus auf informell Arbeitende, ihr Schaffen und ihre Unterdrückung. Der Wind kann sich aber drehen: Als tunesische Polizisten im Dezember 2010 den lizenzlosen Straßenhändler Mohamed Bouazizi demütigten und seine Ware sowie die elektronische Waage konfiszierten, zündete sich der Obst- und Gemüsehändler an und starb drei Wochen nach seiner schrecklichen Verzweiflungstat. Es war der Beginn einer zornigen Revolte, die Tunesiens Diktator Zine el-Abidine Ben Ali wegfegte und den »Arabischen Frühling« initiierte.

Die Revolte ist beachtlich, denn Menschen in der informellen Ökonomie sitzen in einer Falle. Erstens sind sie täglich vollauf mit dem Überleben beschäftigt. Zweitens ist eine kollektive Organisation dieser Scheinselbstständigen schwer möglich. Ein wichtiges Ziel wäre schon, eine angemessene Bezahlung und soziale Absicherung durchzusetzen.

Derweil hat der Kapitalismus flächendeckend gesiegt. Was geschieht in Armutsmilieus, wenn eine Person im Mangel dringend etwas »unternehmen« muss? Sie sammelt, organisiert auf eigene Rechnung. Auf jedem Flecken der Erde wächst aus Geldmangel das ‚unternehmerische Selbst‘ heraus.

Ist die »Formalisierung« der informellen Ökonomie der Ausweg? Organisationen wie die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) nennen dafür gute Argumente. Sie rennen damit überall offene Türen ein, nur die informelle Ökonomie »boomt« weiter.

Die Formalisierung genügt also nicht. Karl Marx schlug in seiner »Deutschen Ideologie« eine Regelung des tätigen Lebens vor, in der »die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.« Das hört sich ziemlich informell an. Aber nicht nach Ökonomie oder Arbeit.

 

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