Zehn Jahre NS-Staat 1933-1943

Eine kritische Bilanz von Thomas Mann

Unter dem Titel "Deutsche Hörer!" hielt der Schriftsteller Thomas Mann während des Zweiten Weltkriegs 58 antifaschistische Rundfunkreden, die über Radioprogramme der Alliierten das deutsche Publikum erreichen sollten. Karlheinz Lipp würdigt das Schaffen des Literaturnobelpreisträgers mit einem besonderen Blick auf dessen kritische Bilanz zum 10. Jahrestag des NS-Staates 1943.

Für Thomas Mann und seine Familie bedeutete der Beginn der NS-Regierung einen tiefen Einschnitt.1 Im erzwungenen Exil setzte der Träger des Literaturnobelpreises von 1929 (Die Buddenbrooks seine deutliche Kritik am Nationalsozialismus fort. Thomas Manns Radioansprachen von 1940 bis 1945 sind hierfür ein deutlicher Beweis.2 Mann hielt in diesen Jahren insgesamt 58 Reden, die unter dem Titel Deutsche Hörer! über die BBC gesendet wurden, um das verbrecherische System des Nationalsozialismus zu entlarven. Neben diesem Schriftsteller sprachen auch weitere Flüchtlinge über den Rundfunk nach Deutschland, so etwa Paul Tillich und Johannes R. Becher.3

Radioansprachen als Widerstand aus dem Exil4

Über die Annäherung der BBC, gegründet 1922, an Mann äußerte sich der Autor am 15. September 1942 so: "Im Herbst 1940 trat die British Broadcasting Corp. mit dem Wunsche an mich heran, ich möchte über ihren Sender in regelmäßigen Abständen an meine Landsleute kurze Ansprachen richten, in denen ich die Kriegsereignisse kommentieren und eine Einwirkung auf das deutsche Publikum im Sinne meiner oft geäußerten Überzeugungen versuchen sollte.

Ich glaubte, diese Gelegenheit, hinter dem Rücken der Nazi-Regierung, die, sobald ihr die Macht dazu gegeben war, mich jeder geistigen Wirkungsmöglichkeit in Deutschland beraubt hatte, Kontakt zu nehmen - und sei es ein noch so lockerer und bedrohter Kontakt - mit deutschen Menschen und auch mit Bewohnern der unterjochten Gebiete, nicht versäumen zu dürfen - um so weniger, als meine Worte nicht von Amerika aus, auf Kurzwellen, sondern von London, auf Lang-Wellen, gesandt werden sollten und also durch den dem deutschen Volk allein zugestandenen Empfänger-Typ würden gehört werden können. Auch war es verlockend, einmal wieder in dem Bewußtsein deutsch zu schreiben, daß das Geschriebene in seiner angeborenen Gestalt, auf deutsch werde wirken dürfen. Ich sagte monatliche Sendungen zu und erbat, nach ein paar Versuchen, eine Verlängerung der Sprechzeit von fünf auf acht Minuten. […]

Es lauschen mehr Menschen, als man erwarten sollte, nicht nur in der Schweiz und in Schweden, sondern auch in Holland, im tschechischen ›Protektorat‹ und in Deutschland selbst, wie durch aufs sonderbarste chiffrierte Rückäußerungen aus diesen Ländern selbst belegt ist. Auf Umwegen kommen solche tatsächlich auch aus Deutschland. Offenbar gibt es in diesem besetzten Gebiet Leute, deren Hunger und Durst nach dem freien Wort so groß ist, daß er den Gefahren trotzt, die mit dem Abhören feindlicher Sendungen verbunden sind.

Der schlagendste Beweis dafür, daß dies der Fall ist - ein zugleich erheiternder und degoutanter Beweis - ist durch die Tatsache gegeben, daß mein Führer selbst in einer Bierkellerrede zu München unmißverständlich auf meine Allokutionen [Anreden] angespielt und mich als einen derer namhaft gemacht hat, die das deutsche Volk zur Revolution gegen ihn und sein System aufzuwiegeln versuchten. Aber diese Leute, brüllte er, täuschten sich sehr: so sei das deutsche Volk nicht, und soweit es so sei, sitze es Gott sein Dank hinter Schloß und Riegel. - Aus diesem Munde ist soviel Unrat gekommen, daß es mir leichte Ekelgefühle erregt, meinen Namen daraus zu vernehmen. […]"5

Für die Menschen in Deutschland, die sich kritisch zur nationalsozialistischen "Volksgemeinschaft" verstanden, brachte das Hören sogenannter "Feindsender" einige Risiken mit sich wie die Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen erlassen vom Ministerrat für die Reichsverteidigung zeigte.

Mann sprach seine Reden in Los Angeles im Recording Department der National Broadcasting Corporation zunächst auf eine Schallplatte, die dann per Flugzeug nach New York transportiert wurde, dort über Telefon nach London auf eine weitere Schallplatte überspielt wurde, um schließlich über die BBC ausgestrahlt zu werden.

"Ein düsteres Jubiläum"

Mann nahm den zehnten Jahrestag der NS-Regierung zum Anlass, um am 15. Januar 1943 eine kritische Bilanz zu ziehen, mitten im Zweiten Weltkrieg.

"Deutsche Hörer! Ein düsteres Jubiläum will begangen sein: zehn Jahre Nationalsozialismus. Was haben sie dem deutschen Volke gebracht? Es gibt nur eine, alles-sagende Antwort: den Krieg, diesen Krieg, so wie er heute steht, und wie er für das deutsche Volk ausgehen wird. Den Hitler-Krieg, in dem eure Söhne zu Millionen verbluten, und der den Kontinent - einschließlich Deutschlands - als Wüste zurücklassen wird. An ihn kann man sich halten, wenn nach den Ergebnissen dieser Dekade gefragt wird. Auf ihn lief von Anfang an alles hinaus, auf ihn steuerte alles zu."6

Bereits am 3. Februar 1933, also nur sehr wenige Tage nach seiner Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar, hielt Hitler eine geheime Rede vor den Befehlshabern der Reichswehr, in der er u.a. die Eroberung von "Lebensraum im Osten" forderte. Die Friedensbewegung der Weimarer Republik, die von der NS-Regierung zerschlagen wurde, konstatierte treffend und prophetisch, wer Hitler wähle, wähle den Krieg.

Mann beschäftigte sich mit den Mythen und Lügen, die von alten Nationalsozialisten und jungen Rechtspopulisten vertreten wurden und werden: die Beseitigung der Arbeitslosigkeit durch die deutschen Faschisten, die wunderbare NS-Volksgemeinschaft, die angebliche Verwirklichung des Sozialismus und die Beseitigung der korrupten Weimarer Republik.

"Man hört, Hitler habe Deutschland von der Arbeitslosigkeit befreit. Ja, durch die Aufrüstung zum Kriege. Nationalsozialismus - das heißt, die Lösung der sozialen Frage durch den Krieg. Man hört, er habe Deutschland geeinigt wie nie zuvor und den Sozialismus verwirklicht, indem er eine deutsche Volksgemeinschaft schuf. Diese Volksgemeinschaft war die Diktatur des Gesindels, ein scheußlicher Parteiterror, der eine moralische Verwüstung, einen Menschenverderb, eine Gewissensschändung, eine Zerstörung der natürlichen, ehrwürdigsten Bande mit sich brachte, wie nie ein Volk sie erlebt hat, und der sich auf alles stützte, nur nicht auf das Gute im Menschen. […]

Und der Sozialismus? Er ist die Selbstbereicherung der Bonzen, die Verwandlung der Nazipartei in einen riesigen Wirtschaftskonzern, fett wie Göring. Er besteht außerdem in der reizenden Einrichtung ›Kraft durch Freude‹, d.h. in der Verschiffung entrechteter Arbeiterherden in schöne Gegenden. Aber hat nicht der Nationalsozialismus das Land von republikanischer Korruption gereinigt und Deutschland aus Schmach und Schande wieder zu Ansehen in der Welt gebracht, seine Ehre wieder hergestellt? Es gibt kein Kind mehr in Deutschland, das nicht wüßte, daß gegen die zum Himmel stinkende Korruption der Naziherrschaft die paar kleinen, durch törichte Prozesse aufgeblasenen moralischen Ungeschicklichkeiten der [Weimarer] Republik die Harmlosigkeit selbst waren."7

Besonders arg strapaziert wurde von nationalsozialistischer Seite der Begriff der Ehre. Dazu stellt der Schriftsteller fest. "Und dann die deutsche Ehre. Gebrochen die Würde der Wissenschaft, zu Boden getreten jedes Rechtsgefühl, der deutsche Rechtsrichter ein Knecht des Parteiinteresses, das deutsche Wort zum Spott geworden durch gehäufte Vertragsbrüche und zerrissene Ehrenzusicherungen, durch die infame Auffassung der Politik als einer Sphäre des absoluten Zynismus ; der deutsche Name zum Inbegriff gemacht allen Schreckens, aller geilen Raubsucht, schandbarer Grausamkeit, erbarmungsloser Gewalt, so daß das Gedächtnis der Völker an vieles Gute, Große und Liebenswerte, womit der deutsche Geist einst die Menschheit beschenkt hat, unterzugehen droht in einem Meer von Haß, dessen herandrängende Wogen ihr mit verzweifelter Kraftanstrengung, mit ›Kraft durch Furcht‹, noch eben zurückdämmt, damit sie euch nicht verschlingen. Das ist die wiederhergestellte deutsche Ehre. Das ist die Bilanz von zehn Jahren Nationalsozialismus. Und ich bin froh, daß mir nur fünf bis sechs Minuten gegeben sind, sie zu ziehen. Die Geschichte wird ausführlicher sein."8

Die Feier zum zehnjährigen Regierungsjubiläum verlief für die braunen Machthaber nicht so wie gedacht und geplant. Ganz gezielt am 30. Januar 1943 flog die britische Royal Air Force den ersten Tagesangriff auf Berlin mit Bombern - und der Hitler-Stellvertreter Heß musste in den Keller flüchten.

Schon bald nach Manns Radioansprache kapitulierte Anfang Februar 1943 die 6. Armee der deutschen Wehrmacht in Stalingrad - eine entscheidende Niederlage, die Mann in seiner Rede am 23. Februar 1943 kommentierte.9

Ebenfalls im Februar 1943 wurden die Mitglieder der Widerstandsgruppe Die Weiße Rose hingerichtet. Von den mutigen Aktionen und dem Schicksal dieser antifaschistischen Menschen erfuhr Mann erst im Sommer und würdigte sie in einer Radioansprache am 27. Juni 1943.10

"Das Hitler-Regime ist das Regime der Bücherverbrennungen und wird es bleiben"

Ein weiteres, bitteres Jubiläum des Jahres 1933 behandelte Mann in einer Rede: 10 Jahre Bücherverbrennung, die in 22 deutschen Universitätsstädten am 10. Mai 1933 stattfand.11 Diese Kulturbarbarei des NS-Staates stellte den Höhepunkt der "Aktion wider den undeutschen Geist" dar, und die zentrale Veranstaltung fand in Berlin statt. Tausende von Schaulustigen sahen den Marsch von Professoren in Talaren und den NS-Studierenden sowie die sich anschließende Bücherverbrennung, die sich verzögerte, da es an diesem Abend regnete - und nasses Papier brennt nicht so einfach. Betroffen von dieser spektakulären Veranstaltung waren Werke von Thomas Mann zunächst nicht, wohl aber von seinem Sohn Klaus und dem Bruder Heinrich. Erst als sich Thomas Mann 1936 in einem Brief an den Rektor der Universität Bonn kritisch zur NSDAP äußerte und die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft annahm, kamen auch seine Bücher auf den Index der braunen Machthaber.

Thomas Mann beginnt seine Radioansprache vom 25. Mai 1943 mit einer persönlichen Anekdote.

"Als ich mich im Sommer 1932 an der Ostsee aufhielt, bekam ich ein Paket zugeschickt, aus dem mir, als ich es öffnete, schwarze Asche, verkohltes Papier entgegenfiel. Der Inhalt bestand aus einem verbrannten, nur gerade noch erkennbaren Exemplar eines Buches von mir, des Romans Buddenbrooks  - mir übersandt vom Besitzer zur Strafe dafür, daß ich meinem Grauen vor dem heraufkommenden Nazi-Verhängnis öffentlich Ausdruck gegeben hatte."12

Im Jahre 1930 beschäftigte sich Thomas Mann gleich zweimal mit dem Faschismus. In seiner Rede im Berliner Beethoven-Saal am 17. Oktober Appell an die Vernunft, besser bekannt als Deutsche Aussprache wandte sich Mann gegen die NSDAP, die einen Monat zuvor bei der Reichstagswahl am 14. September einen furiosen Sieg davontrug. Das Publikum, das der Rede des Schriftstellers zuhörte, setzte sich überwiegend aus demokratisch und sozialdemokratisch eingestellten Personen zusammen. Es gab jedoch auch Arnolt Bronnen, die Brüder Ernst (In Stahlgewittern) und Friedrich Georg Jünger sowie einige Nationalsozialisten, die durch Zwischenrufe die Rede störten. Manns Novelle Mario und der Zauberer. Ein tragisches Reiseerlebnis problematisiert die suggestive, dämonische Macht eines Verführers und die Auswirkungen auf die Verführten vor dem historisch-politischen Hintergrund des italienischen Faschismus.

Mann fährt dann in seiner Radioansprache zur Bücherverbrennung fort. "Das war das individuelle Vorspiel zu der ein Jahr später, am 10. Mai 1933, vom Nazi-Regime überall in Deutschland in großem Stil veranstalteten symbolischen Handlung: der zeremoniellen Massenverbrennung von Büchern freiheitlicher Schriftsteller - nicht deutscher nur oder nur jüdischer, sondern amerikanischer, tschechischer, österreichischer, französischer und vor allem russischer; kurzum, auf dem Scheiterhaufen qualmte die Weltliteratur - ein wüster, trauriger und ungeheuer ominöser Jux, den übrigens viele daran beteiligte junge Leute sich guter Dinge zunutze machten, um von den Büchern, die sie heranschleppten, möglichst viele zu mausern und so auf billige Art zu förderlicher Lektüre zu kommen."13

Zu der Wahrnehmung der Bücherverbrennung in Großbritannien und in Frankreich bemerkt Mann:

"Sehr bald schon nach stattgehabtem Humbug bildete sich in London eine ›Society of the Friends of the Burned Books‹ an deren Spitze H. G. Wells stand. Sie arbeitete mit Pariser Emigrantengruppen zusammen und stellte die Mittel zur Errichtung einer ›Deutschen Freiheitsbibliothek‹ in Paris zur Verfügung. Am ersten Jahrestag des Autodafés, dem 10. Mai 1934, wurde diese eröffnet und ist natürlich seitdem, samt ihrem ganzen Anti-Nazi-Archiv, ein Opfer der Gestapo geworden."14

Im Jahre 1938 übersiedelte die Familie Mann in die USA. Über die Rezeption der Bücherverbrennung und ihres 10. Jahrestages in seiner neuen Heimat sagte der Autor in seiner Radioansprache:

"Das Datum des 10. Mai aber bleibt in der Erinnerung, zum mindesten der angelsächsischen Völker, unauslöschlich eingeprägt, und die zehnte Wiederkehr jenes 10. Mai hat hier in Amerika zu wahrhaft rührenden und uns deutsche Europa-Flüchtlinge tief beschämenden Kundgebungen geführt.

Um zwölf Uhr mittags gingen an diesem Tage in der New York Public Libary und in dreihundert der größten öffentlichen Bibliotheken im ganzen Lande die Flaggen auf Halbmast, und an all diesen Stätten versammelte man sich, um den Ansprachen von Vertretern der Literatur und der Wissenschaft zuzuhören, die der Nazi-Untat gedachten und die Unantastbarkeit des freien menschlichen Gedankens bekräftigen. Der ›Council of Books in Wartime‹ brachte eine Broschüre heraus, die eine Liste der bekanntesten der verbrannten und verbannten Buchtitel enthält und an dreißigtausend Bibliotheken, außerdem an alle Schulen, Colleges, Universitäten und Buchhandlungen des Landes versandt worden ist. Das amerikanische Propaganda-Amt hatte künstlerische Plakate herstellen und verbreiten lassen, die Symbol mit Symbol beantworten: Man sieht darauf, wie Rauch und Flammen aus dem Bücher-Scheiterhaufen den Kulturschänder Hitler ersticken. Ein Komitee für die ›Wiederherstellung verbrannter und verbannter Bücher in Europa‹, zu dessen Sponsoren erste Namen des Landes gehören, gab eine Liste der Werke in Auftrag, die als erste wieder in die Bibliotheken eines befreiten Europas eingereiht oder neu aufgelegt werden sollen. Hörspiele und Reden der bekanntesten Radio-Kommentatoren gingen über die Netzwerke und gedachten der barbarischen Lustbarkeit, die dem alten Kulturvolk der Deutschen vor zehn Jahren geboten wurde."15

"Der Nationalsozialismus ist so tot wie der Faschismus"

In seinen Radioansprachen orientierte sich Mann an den jeweils aktuellen politischen und militärischen Entwicklungen während des Zweiten Weltkrieges. Zum zehnjährigen Jubiläum der NS-Regierung gehörte auch, dass ausgerechnet in diesem Jahr der italienische Faschismus politisch besiegt wurde. So nahm der Schriftsteller die Entmachtung und Verhaftung des Faschisten Mussolini durch König Viktor Emanuel III. am 27. Juli 1943 in einer Radiorede auf.

"Deutsche Hörer! Der italienische Faschismus ist tot. Längst nahm kein Hund mehr ein Stück Brot von ihm - geduldet war er dortzulande immer nur gerade gewesen, und als er seinen Bund mit Hitler, seinen schäbigen Krieg gegen Frankreich machte, das Land zum Nazigau degradierte, als in Rußland italienisches Blut in Strömen floß, die Niederlagen kamen, das Imperium zum Teufel ging, da kannte die Verachtung der Jugend, der Intelligenz, des ganzen Volkes keine Grenze mehr. Die Invasion Siziliens, das Bombardement von Rom haben ihm den Rest gegeben. […]

Deutsche, die Welt hofft und betet, daß ihr euch nicht dümmer, nicht allzuviel dümmer erweisen werdet als die Italiener, deren musikalische Intelligenz dermaßen falsche Sirenenklänge nicht duldet, sondern darauf mit dem Ruf ›Alla porta!‹ antwortet. Das ist ein politisches Volk, das den Augenblick erfaßt, da ein über und über kompromittiertes, ein völlig unmöglich gewordenes Regime fallenzulassen, über Bord zu werfen ist, und es nicht mit sich schleppt, bis alles verloren ist. Deutsche, wenn ihr euch nicht zu diesem politisch-intelligenten Entschluß aufzuraffen vermögt, wenn ihr es nicht im letzten Augenblick fertigbringt, euch des Gesindels zu entledigen, das euch und der Menschheit so Schandbares angetan hat, so ist alles verloren, Leben und Ehre. […]"16

Am 8. September 1943 erfolgte die militärische Kapitulation Italiens. Mit deutscher Rückendeckung konnte Mussolini eine kleine, unbedeutende Repubblica Sociale Italiana am Gardasee ins Leben rufen. Der Begründer des Faschismus hatte seinen letzten öffentlichen Auftritt im Teatro Lirico in Mailand am 16. November 1944. Kommunistische Widerstandskämpfer erschossen den ehemaligen Duce bei Dongo am Comer See am 28. April 1945. Einen Tag später wurde seine Leiche und die seiner Geliebten Claretta Petacci öffentlich zur Schau gestellt und geschändet.17

Thomas Manns Wunsch erfüllte sich nicht. Sehr viele Deutsche folgten dem katastrophalen Weg ihres "Führers". Nach 1945 wollte Mann seinen Wohnsitz nicht in einem der beiden deutschen Staaten nehmen, sondern übersiedelte von den USA in die Schweiz. Zu tief saß die Verletzung durch den NS-Staat. Der Literaturnobelpreisträger änderte seine ablehnende Haltung zum Militarismus, zur Aufrüstung und zu einem deutschen Hegemoniestreben auch im nun beginnenden Zeitalter des Kalten Krieges nicht - und äußerte sich skeptisch zur NATO, zu atomaren Massenvernichtungswaffen und zur Wiederbewaffnung der Bundesrepublik. Stattdessen plädierte Mann für einen Weltföderalismus und eine Verständigung über Blockgrenzen hinweg.18

Anmerkungen

1) Zur Zeit ab dem Jahr 1933 vgl. Gert Heine / Paul Schommer 2004: Thomas Mann Chronik, Frankfurt am Main: 242ff.

2) Vgl.: Heike Weidenhaupt 2001: Gegenpropaganda aus dem Exil. Thomas Manns Radioansprachen für deutsche Hörer 1940 bis 1945, Konstanz; Martina Hoffschulte 2003: "Deutsche Hörer!" Thomas Manns Rundfunkreden (1940 bis 1945) im Werkkontext. Mit einem Anhang: Quellen und Materialien, Münster; Sonja Valentin 2015: "Steine in Hitlers Fenster." Thomas Manns Radiosendungen Deutsche Hörer! 1940-1945, Göttingen.

3) Vgl.: Winfrid Halder 2002: Exilrufe nach Deutschland: Die Rundfunkreden von Thomas Mann, Paul Tillich und Johannes R. Becher, Münster; Matthias Wolbold 2005: Reden über Deutschland. Die Rundfunkreden Thomas Manns, Paul Tillichs und Sir Robert Vansittarts aus dem Zweiten Weltkrieg, Münster; Carolin Hagen 2008: Deutsche Gegenpropaganda im Auslandhörfunk. Motive, Ziele und Wirkungsweise am Beispiel von Thomas Mann und Paul Tillich, Saarbrücken; Paul Tillich 1973: An meine deutschen Freunde. Die politischen Reden Paul Tillichs während des Zweiten Weltkriegs über die "Stimme Amerikas", Stuttgart.

4) Vgl.: Conrad Pütter 1986: Rundfunk gegen das "Dritte Reich". Deutschsprachige Rundfunkaktivitäten im Exil 1933-1945. Ein Handbuch unter Mitwirkung von Ernst Loewy, München u.a.; Bernhard Wittek 1962: Der britische Ätherkrieg gegen das Dritte Reich. Die deutschsprachigen Kriegssendungen der British Broadcasting Corporation, Münster.

5) Thomas Mann <^>5<^*>2013: Deutsche Hörer! Radiosendungen nach Deutschland aus den Jahren 1940-1945, Frankfurt am Main: 7f.[/i]

6) Ebd.: 87.

7) Ebd.: 88. Zur Korruption im NS-Staat vgl.: Frank Bajohr 2001: Parvenüs und Profiteure. Korruption in der NS-Zeit, Frankfurt am Main; Gerd R. Ueberschär / Winfried Vogel 1999: Dienen und Verdienen. Hitlers Geschenke an seine Eliten, Frankfurt am Main.

8) Thomas Mann <^>5<^*>2013 (s. Anm. 5): 89.

9) Vgl. ebd.: 91-93.

10) Vgl. ebd.: 103f.

11) Vgl.: Werner Treß (Hg.) 2009: Verbrannte Bücher 1933, Bonn; Dort wo man Bücher verbrennt. Stimmen der Betroffenen. Hg. von Klaus Schöffling. Frankfurt am Main 1983.

12) Thomas Mann <^>5<^*>2013 (s. Anm. 5): 99.

13) Ebd.

14) Ebd.: 100.

15) Ebd.: 100f.

16) Ebd.: 104f.

17) Vgl. Wolfgang Schieder 2014: Benito Mussolini, München.

18) Vgl. Karlheinz Lipp 2022: "Der Himmel gewähre uns Zeit. Thomas Mann als Friedensdenker im Kalten Krieg", in: Wissenschaft und Frieden, Heft 1/2022: 44-46.

Dr. Karlheinz Lipp ist Historiker.