Eine kritische Juristin, die Geschichte schrieb

Elisabeth Selbert (1896-1986)

Die Geschichte des Rechts ist auch eine Geschichte des Patriarchats. Fortschritte bezüglich rechtlicher Gleichstellung mussten Frauen immer erkämpfen - zumeist außerhalb der ihnen versperrten gesetzgebenden Strukturen. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg war die Verankerung des Grundsatzes "Männer und Frauen sind gleichberechtigt" im deutschen Grundgesetz. Dieser Fortschritt wäre kaum denkbar ohne den engagierten Einsatz der sozialdemokratischen Juristin Elisabeth Selbert. Gisela Notz zeichnet ihr Leben und Wirken nach.

Auf Elisabeth Selbert geht der eindeutige Satz zur Gleichstellung von Mann und Frau im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland zurück. Als eine von vier Frauen unter 65 Parlamentariern hat die Sozialdemokratin während der neun Monate der verfassungsgebenden Beratungen in den Jahren 1948/1949 wie eine Löwin für die Durchsetzung von Artikel 3, Abs. 2 des Grundgesetzes gekämpft; auch gegen ihre eigenen Geschlechtsgenossinnen aus anderen Parteien: "Männer und Frauen sind gleichberechtigt", das sollte unmissverständlich niedergeschrieben werden. Darin liegt der bleibende Verdienst der kritischen SPD-Politikerin und Juristin.1

Als einzige Frau studierte sie Rechts- und Staatswissenschaften

In die Wiege gelegt war die Juristerei der am 22. September 1896 in eine kleinbürgerliche christliche Familie hineingeborenen Elisabeth Rohde nicht. Eine höhere Schule war für die Familie nicht bezahlbar und für die vier Schwestern auch nicht vorgesehen. Als Auslandskorrespondentin verdiente Elisabeth früh ihr eigenes Geld. Politisiert wurde sie durch ihren Lebensgefährten Adam Selbert (1893-1965), einen gelernten Buchdrucker, Vorsitzenden des Arbeiter- und Soldatenrates und Sozialdemokraten. 1918 - die Frauen hatten gerade das allgemeine Wahlrecht erstritten - trat sie in die SPD ein. Ein Jahr später wurde sie Abgeordnete im Gemeindeparlament in Niederzwehren und Mitglied des Bezirksvorstandes der SPD. 1920 hielt sie eine Rede als Delegierte bei der ersten Reichsfrauenkonferenz in Kassel, während der sie kritisierte, dass die Gleichberechtigung der Frauen "immer noch eine rein papierne ist". Da sie feststellte, dass ihr wichtige Grundlagen für ihre politische Arbeit fehlten, bereitete sie sich in einem zwölfmonatigen Selbststudium auf die Reifeprüfung vor, mit dem Ziel ein Jurastudium zu absolvieren. Sie hoffte, dass "die juristische Ausbildung helfen würde, politisch effizienter wirken zu können."2 1925, sie hatte nun zwei drei- und vierjährige Söhne, entschloss sie sich, an der Luisenschule in Kassel als Externe die Mittlere Reife und das Abitur nachzuholen. Danach studierte sie in Marburg als einzige Frau Rechts- und Staatswissenschaften.3 Nach ihrem Wechsel zur Universität Göttingen war sie immerhin unter rund 300 Studierenden schon eine unter fünf Frauen. 1929 bestand sie das juristische Staatsexamen mit Prädikat und Auszeichnung und promovierte vier Monate später zum Dr. jur.4

In ihrer Dissertation zum Thema "Ehezerrüttung als Scheidungsgrund" setzte sie sich bereits kritisch mit der bestehenden familienpolitischen Rechtsprechung in Deutschland auseinander, indem sie für das sogenannte ›Zerrüttungsprinzip‹ im Scheidungsrecht eintrat, das die Schuldfrage mit der folgenden Benachteiligung einer der beiden Ehepartner abschaffen sollte. Ein Vorschlag, der erst im Rahmen der Eherechtsreform 1977 in der Bundesrepublik umgesetzt wurde. Auf ihre bahnbrechende Arbeit wurde jedoch niemals zurückgegriffen.

Im Schatten des Hakenkreuzes

Nach der Machtübergabe an die Nazifaschisten legte Elisabeth Selbert unter schwierigen Umständen im Frühjahr 1934 die große Staatsprüfung beim preußischen Prüfungsamt in Berlin ab und beantragte die Zulassung als Anwältin. Genau zwei Monate später trat das Gesetz zur Änderung der Rechtsanwaltsordnung in Kraft, das besagte, dass Frauen als Anwälte nicht mehr zugelassen waren, weil das einen "Einbruch in den altgeheiligten Grundsatz der Männlichkeit des Staates" bedeutet hätte. Tatsächlich wurden ab 1935 nur noch Anträge männlicher Bewerber auf Zulassung zur Rechtsanwaltschaft genehmigt. Auch Elisabeth sollte der Einbruch in den Herrenclub vereitelt werden. Gegen den Willen des nationalsozialistischen Präsidenten, gegen das Votum der Rechtsanwaltskammer und gegen die Entscheidung des Gauleiters und des NS-Juristenbundes wurde sie am 15. Dezember 1934 am Oberlandesgericht zugelassen. Es waren zwei ältere Senatspräsidenten, die sich für sie eingesetzt hatten.5 So konnte sie 1934 ihre anwaltliche Praxis am Kasseler Königsplatz beziehen. Adam Selbert war als stellvertretender Bürgermeister bereits 1933 entlassen und als "Staatsfeind" in "Schutzhaft" genommen worden, blieb bis Kriegsende unter Gestapo-Aufsicht und bekam nach der Haft keine bezahlte Arbeit mehr. Elisabeth ernährte die Familie. Mit "unpolitischen Sachen", wie Fragen des Familienrechts und solcher von kleineren Wirtschaftsvergehen, versuchte sie sich über Wasser zu halten, wie sie später sagte.6 Aufgrund ihrer sozialdemokratischen Vergangenheit wurden ihre Plädoyers von der Gestapo überwacht. Wiederholt musste sie sich wegen angeblich staatsfeindlicher Äußerungen verantworten.

Als kritische Juristin beim Aufbau der BRD

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Elisabeth Selbert von der Militärregierung beauftragt, beim Wiederaufbau der Justiz und der Verwaltung mitzuarbeiten. Selbst war sie fest davon überzeugt, dass sie sich am demokratischen Aufbau der Bundesrepublik beteiligen müsse. Schließlich hatte sie nicht nur reiche Erfahrungen in Beruf und Politik gesammelt, sondern sie wusste auch, dass Politik "nicht aus dem Gefühl heraus", sondern "aus einem Gespür für den Staat und die Gemeinschaft heraus und aus innerer Verantwortung heraus gemacht werden muss".7 Sie wurde Strafverteidigerin bei amerikanischen Militärgerichten, nahm die kommunalpolitische Arbeit als Stadtverordnete wieder auf und baute von ihrer Kanzlei aus die Arbeiterwohlfahrt und den SPD-Ortsverein mit auf. Bereits seit Mai 1945 arbeitete sie im Ausschuss zur Neuordnung der Justizverwaltung in Kassel mit sowie im "überparteilichen Ausschuss", dem Vorläufer des Stadtparlaments. 1946 wurde sie Mitglied im Bezirks- und Parteivorstand der SPD und der Verfassungsgebenden Landesversammlung Groß-Hessen, später kamen ihre Mandate als Abgeordnete im Hessischen Landtag und 1948/49 im Parlamentarischen Rat, der im Auftrag der westlichen Besatzungsmächte eine Verfassung für Westdeutschland ausarbeiten sollte, hinzu.

Im Parlamentarischen Rat 1948-1949

Im Parlamentarischen Rat fanden sich für neun Monate 61 Männer und vier Frauen in Bonn zusammen, um die Verfassung für die neue Bundesrepublik Deutschland zu formulieren.8 Hinzu kamen fünf nicht stimmberechtigte Berliner Mitglieder. Von diesen Parlamentarier:innen war es vor allem Elisabeth Selbert, die mit ihrem leidenschaftlichen Einsatz, großem Engagement und Sachverstand und oft unter großen Entbehrungen dazu beigetragen hat, die Gesellschaft nachhaltig zu verändern.

Sowohl mit ihrer Arbeit an der hessischen Verfassung als auch im Parlamentarischen Rat verteidigte sie den SPD-Antrag zur Gestaltung der Wirtschaft nach sozialistischen Grundsätzen und zur Sozialisierung der Schlüsselindustrien. Elisabeth Selbert strebte außerdem die Nicht-Einmischung des Staates in die Rechtspflege, die Unabhängigkeit der Richter, den Schutz der Staatsbürger:innen gegen Übergriffe des Staates an und forderte ein oberstes Gericht zur Normenkontrolle aller politischen Gremien, das spätere Bundesverfassungsgericht. Nie wieder sollten - so wie sie es in jüngster Vergangenheit selbst erfahren hatte - die Gesetze der Menschlichkeit, der Gleichheit vor dem Gesetz und der Menschenwürde mit Füßen getreten werden. Vor allem sollte der Schutz des zarten Pflänzchens der Demokratie gesichert werden. Dafür verlangte sie klare Formulierungen.

Es war vor allem ihr Engagement, dem wir den Gleichberechtigungsgrundsatz im Grundgesetz verdanken. Unterstützt wurde sie von der Fürsorgerin Frieda Nadig (1897-1970), die ebenfalls während der Zeit der Weimarer Republik politisch in der SPD sozialisiert worden war und heute fast ganz in Vergessenheit geraten ist. Auf sie konnte sich Elisabeth Selbert verlassen, nachdem sie ihr klar gemacht hatte, wie mit dem befürchteten "Gesetzeschaos" umzugehen war. Helene Wessel und Helene Weber wollten auf keinen Fall eine, wie sie es nannten, ›schematische‹ Gleichstellung, sondern den "Eigenwert" der Frau bewahrt wissen.9 Die Konservativen hatten stets damit argumentiert, dass fast alle Bestimmungen über Ehe- und Familienrecht durch den Gleichstellungsgrundsatz über den Haufen geworfen und außer Kraft gesetzt werden würden. Genau das hatte Elisabeth Selbert im Sinne. Nach der Verfassung der Weimarer Republik hatten Frauen und Männer lediglich "die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten". Elisabeth Selbert wollte eine weitergehende Regelung, denn kaum jemand hatte aus der Weimarer Formulierung die vollständige Geschlechtergleichheit vor dem Gesetz abgeleitet.

Nachdem Frauen während der Kriegsjahre ihre Kompetenz auf allen Ebenen bewiesen hatten, sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, für Frauen einen Gleichberechtigungsgrundsatz in die Verfassung zu bringen, der jede Zweideutigkeit ausschloss. Da hatte sich Selbert gründlich geirrt. Für manchen Konservativen war die Vorherrschaft des Mannes gottgewollt. Aber auch mancher Sozialdemokrat fürchtete, dass die totale Gleichberechtigung im Chaos enden könne. Auch in ihren eigenen Reihen musste sie um Zustimmung ringen. Besonders enttäuscht schien sie darüber, dass es nicht nur die männliche Übermacht war, die in der verfassungsberatenden Versammlung gegen die von ihr gewünschte Eindeutigkeit votierte, sondern es waren auch die konservativen Frauen, die ihren Antrag abgelehnt hatten, immer mit den alten Argumenten von den biologischen Unterschieden zwischen Frau und Mann.

Der Redaktionsausschuss für das Grundgesetz hatte die, im Gegensatz zur Weimarer Verfassung, noch lapidarere Formulierung vorgeschlagen: "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Das Gesetz muss Gleiches gleich, es kann Verschiedenes nach seiner Eigenart behandeln".10 Elisabeth Selbert fand, dass das eine gefährliche Formulierung war, die Ausnahmebestimmungen, die sich gegen Frauen richten können, verfassungsrechtlich legitimierte. Als juristische Expertin erkannte sie sofort, dass auf diese Art und Weise Frauen aufgrund ihrer "biologischen Eigenart" nicht auf allen Gebieten gleichgestellt werden konnten. Tatsächlich betonten zahlreiche Männer des Parlamentarischen Rats, dass ihnen lediglich die "besondere Schutzwürdigkeit" der Frauen am Herzen gelegen habe. Die Frau in der Sowjet-Union werde dem Manne gleichgestellt und man nehme dort "keine Rücksicht auf die biologische Grundlage und auf die seelische Haltung der Frau". Das gelte vor allem für die Einbeziehung der Frauen in den Produktionsprozess.11

Elisabeth Selbert kämpfte wie eine Löwin dafür, dass Frauen die Gleichberechtigung auf allen Gebieten erhalten sollten, und dazu bedurfte es des klaren Satzes: "Männer und Frauen sind gleichberechtigt". Nachdem ihr Antrag am 30. November 1948 durch den Ausschuss für Grundsatzfragen abgelehnt worden war, wurde er am 3. Dezember 1948 im Hauptausschuss behandelt. Nun war es Elisabeth Selbert, die den Antrag begründete. Sie erklärte u.a.: "Die Frau, die während der Kriegsjahre auf den Trümmern gestanden und den Mann an der Arbeitsstelle ersetzt hat, hat heute einen moralischen Anspruch darauf, so wie der Mann bewertet zu werden." Der Sozialdemokrat Carlo Schmid versuchte ihr in der gleichen Sitzung beizustehen, indem er psychologisch argumentierte. Er sagte: "Es geht den Frauen letzten Endes um die Ehre und nicht um ›Besserstellung‹." Und er fügte hinzu, dass er glaube, "dass man nichts zu fürchten braucht, dass man getrost, ohne etwa an Rechtsnachteile oder faktische Nachteile denken zu brauchen, diesem Artikel zustimmen kann." Aber auch diese unpolitische Untertreibung der Ziele der Frauen zog nicht. Der Antrag wurde zum zweiten Mal, diesmal durch den Hauptausschuss mit 11 gegen 9 Stimmen abgelehnt. Nun wusste Elisabeth Selbert, dass sie eine breite Frauenöffentlichkeit benötigte, um ihr Anliegen durchzusetzen. Sie machte wirklich, womit sie schon in der 17. Sitzung gedroht hatte: "Sollte der Artikel in dieser Fassung heute wieder abgelehnt werden, so darf ich Ihnen sagen, dass in der gesamten Öffentlichkeit die maßgeblichen Frauen wahrscheinlich dazu Stellung nehmen werden, und zwar derart, dass unter Umständen die Annahme der Verfassung gefährdet ist". Sie mobilisierte die Frauen in Stadt und Land, indem sie bei unzähligen Veranstaltungen darüber aufklärte, welche Folgen ein solches "Ausnahmegesetz" für Frauen haben werde.

Wie ein "Wanderprediger", so sagte sie von sich selbst, sei sie durchs Land gezogen. Der Erfolg ihrer Kampagne war sensationell und unübersehbar. Es gelang ihr, unterstützt durch Frieda Nadig und durch viele andere Frauen, breiten Frauen-Widerstand zu provozieren. Es regnete Eingaben der unterschiedlichsten Frauenverbände gegen die Ablehnung ihres Antrags durch den Parlamentarischen Rat. Die Frauenöffentlichkeit formierte sich rascher, als sie es sich erträumt hatte. Die Post kam waschkörbeweise und wurde förmlich nur so in die Verhandlungen des Parlamentarischen Rates hineingeschüttet. Dieser massive Protest von Frauen, der über Partei-, Konfessions- und Klassengrenzen hinausging und von autonomen wie organisierten Frauen getragen wurde, war einmalig in der Geschichte und er musste Erfolg haben. "Und ich wusste, in diesem Augenblick hätte kein Abgeordneter mehr gewagt, gegen diese Fülle von Protesten anzugehen und bei seinem Nein zu bleiben."12 Die Frauen hatten verlangt, dass die eindeutige Formulierung akzeptiert werde. Später sagte Elisabeth Selbert, "Das hat natürlich eingeschlagen wie ein revolutionärer Akt."13

Nach einer öffentlichen Debatte wurde der Gleichheitsgrundsatz am 18. Januar 1949 in der Sitzung des Hauptausschusses einstimmig gebilligt und als unveräußerliches Grundrecht in das Grundgesetz eingeschrieben. Einige Parlamentarier:innen bezeichneten ihre vorangegangene Ablehnung als Missverständnis. Im gesamten Parlamentarischen Rat trat ein Sinneswandel ein. Manche Männer waren offensichtlich durch ihre Frauen beeinflusst worden. Zudem waren die Mitglieder des Parlamentarischen Rates um ein harmonisches Bild in der Öffentlichkeit bemüht. Plötzlich wollte keiner und keine dagegen gewesen sein. Anscheinend sahen jetzt alle ein, was sie den Frauen nach dem Zweiten Weltkrieg schuldig waren, warnten aber noch immer vor einem bevorstehenden Rechtschaos, weil die übrigen Gesetze alle noch von der grundsätzlichen geschlechterspezifischen Ungleichheit ausgingen. Der spätere Bundespräsident Theodor Heuss sprach gar amüsiert von einem "Quasi-Stürmlein", das völlig unnötig gewesen sei, weil der Sinn der Parlamentarier von Anfang an so gewesen sei, "wie sich die aufgeregten Leute draußen das gewünscht haben."14

Mit ihrem Sieg setzten sich die Sozialdemokratinnen nicht nur gegen die konservativen männlichen Abgeordneten, sondern auch gegen ihre eigenen Geschlechtsgenossinnen durch. Die Hartnäckigkeit der beiden Sozialdemokratinnen und die überparteiliche Aktion hatten dazu geführt, dass Frauen in der neu gegründeten Republik de jure die gleichen Rechte wie Männer haben. Den Sieg beschrieb Elisabeth Selbert später als "Sternstunde" ihres Lebens.15

Wie ging es weiter?

Nach dem Willen der Mütter und Väter des Grundgesetzes sollte der Gleichberechtigungsgrundsatz auch Konsequenzen für die Gleichstellung in der übrigen Gesetzgebung, also auch im Familien- und Arbeitsrecht haben. Das GG Art. 117 sah daher vor, dass bis März 1953 alle Gesetze, die dem Gleichberechtigungsparagrafen entgegenstanden, geändert sein mussten.

Der erste deutsche Bundestag ließ die Frist zur Anpassung der Gesetze tatenlos verstreichen. 1953 wurde der Versuch gemacht, die Frist zu verlängern. Und auch während der zweiten Wahlperiode schien man es nicht besonders eilig zu haben. Der Stichentscheid des Mannes, sein letztes Entscheidungsrecht in ehelichen Streitfällen, wurde erst zehn Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik abgeschafft. In der Realität bedeutete es, dass das patriarchalische Familienrecht bis zur Verabschiedung des sog. "Gleichberechtigungsgesetzes" 1958 gültig war. Es brachte die rechtliche Anerkennung der Familienarbeit der Frau. Bis dahin hatte de jure der Mann das Entscheidungsrecht, die Frau die "Folgepflicht", sobald beide eine Ehe eingegangen waren. Der Mann konnte über den Wohnsitz der Frau und der Kinder, den Namen der Kinder, die Berufstätigkeit der Gattin entscheiden und sogar über deren Vermögen verfügen. Bis 1977 dauerte es, bis das Scheidungsrecht wirklich im Sinne des Gleichbehandlungsgrundsatzes liberalisiert wurde und erst 1991 griff das Bundesverfassungsgericht schließlich beim Namensrecht ein. Erst dann konnten auch verheiratete Frauen ihren Geburtsnamen, bzw. den ihres Vaters, behalten. Auch mit der Änderung im Sozialrecht und des Arbeitsrechts ließ man sich Zeit. Dass die Umsetzung des Gleichheitsparagraphen so große Schwierigkeiten bereitete, machte Elisabeth Selbert mit zunehmenden Alter ungeduldiger. Die mangelnde Präsenz von Frauen in öffentlichen Ämtern und in den Parlamenten bezeichnete sie als "Verfassungsbruch in Permanenz".16

Anmerkungen

1) Siehe auch: Gisela Notz 2005: Frauen in der Mannschaft. Sozialdemokratinnen im Parlamentarischen Rat und im Deutschen Bundestag 1948/49-1957, Bonn: 80-111.

2) Margarete Fabricius-Brand u.a. 1982: Juristinnen: Berichte, Fakten, Interviews, Berlin: 187.

3) Frauen waren erst seit 1922 zum Jurastudium zugelassen.

4) Ursula Lenkewitz 1996: "Elisabeth Selbert, eine der ›Mütter des Grundgesetzes‹, wäre jetzt 100 Jahre alt geworden", in: Das Parlament vom 27.09.1996: 15.

5) Richard Ley 1986: "Elisabeth Selbert gestorben", in: Neue Juristische Wochenschrift, 39. Jhg. Vom 10.09.1986.

6) Antje Dertinger 1996: "›In die Parlamente müssen die Frauen!‹ Elisabeth Selbert: Hundertster Geburtstag im September, zehnter Todestag im Juni", in: Frankfurter Rundschau Zeitungsausschnitt, AdsD, Sammlung Personalia Elisabeth Selbert.

7) Zit. nach Ursula Lenkewitz 1996 (s. Anm. 4): 15.

8) Die vier Frauen waren Helene Weber (CDU), Helene Wessel (Zentrum), Frieda Nadig und Elisabeth Selbert (beide SPD).

9) Gisela Notz, Christl Wickert 2024: Die geglückte Verfassung, Berlin: 58.

10) Parlamentarischer Rat, Hauptausschuss, 17. Sitzung, 3. Dezember 1948, Erste Lesung: 206.

11) Dies brachte das Mitglied des PR Theophil Kaufmann (CDU) vor. Aber auch Carlo Schmid (SPD) verwies darauf, dass die Bestimmungen des BGB, die die Frau in ihren Rechtshandlungen an bestimmte Genehmigungen bindet, getroffen worden seien, um die Frau zu schützen. Ebd.: 208.

12) Barbara Böttger 1990: Das Recht auf Gleichheit und Differenz, München: 165.

13) Zit. nach Thea Reis 1984: "Die Durchsetzung der Gleichberechtigung - gestern und heute", in: Generalanzeiger Bonn vom 14./15.01.1984: XVIII.

14) Parlamentarischer Rat, Hauptausschuss, 42. Sitzung vom 18.1.1949, Zweite Lesung: 542.

15) Barbara Böttger 1990 (s. Anm. 12): 166.

16) Antje Dertinger 1996 (s. Anm. 6).

Dr. Gisela Notz lebt und arbeitet in Berlin. Sie ist Historikerin und Sozialwissenschaftlerin und beschäftigt sich u.a. mit der Geschichte der Arbeiter:innenbewegung. Sie gibt den Wandkalender "Wegbereiterinnen" heraus und ist Mitglied im Beirat des BdWi.