Lebensformen

Warum wir keinen neuen Familismus brauchen

„Kinder kriegen. Wir brauchen einen Familismus!“, schrieb Larissa Boehing am 15. Februar 2014 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ). Sie schrieb über die Ängste, die damit verbunden sind, in dieser unübersichtlichen Welt Kinder zu bekommen. Seit die Rollenmodelle in unserer Gesellschaft verhandelbar sind, so ihre These, ist alles viel komplizierter geworden, in „Beziehungen und in Gesellschaft“, in der Frage Ja oder Nein zum Kind und zur „Vereinbarkeit von Kind und Beruf“. Deshalb schlägt sie eine Emanzipation von diesen Ängsten vor. Da wird ihr der Familismus (1) nicht weiter helfen. Schließlich prägt er seit Jahrhunderten Politik und Sozialstruktur in „unserem“ und in anderen westlichen Ländern wesentlich. Denn Familismus ist nicht nur ein soziologischer Begriff, sondern eine Ideologie, die die bürgerliche Kleinfamilie als „naturgegebene“ Leitform einer Sozialstruktur bezeichnet.

 

Im Familismus nimmt die Familie, das heißt, die heterosexuelle, monogame Vater-Mutter-Kind-Familie, die Funktion einer die Existenz des Einzelnen sichernden sowie den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang stützenden Instanz ein. Sie ist der Dreh- und Angelpunkt aller sozialen Organisationen und Institutionen und unterstützt den Rückzug der Individuen ins „Private“ und das Hintanstellen der individuellen Bedürfnisse gegenüber denen der Familie, die immer auf der heterosexuellen Ehe basiert und möglichst mit einem kirchlichen Segen versehen ist. Das System aller Familien bildet das Gemeinwesen. Das Gemeinwesen ist nach der Ideologie des Familismus auf den Nationalstaat bezogen.

Mir geht es weniger um den theoretischen Begriff, sondern vor allem um die Wirkmächtigkeit dieser Ideologie, die häufig zu Versagens- und Schuldgefühlen bei denjenigen führt, deren soziale Realität an dem ideologischen Gemälde, das bis heute an jede Wand gemalt wird, vorbeigeht.

 

Geschlechtsspezifische Rollenverteilung

 

Nach der familistischen Ideologie herrschen in der Familie komplementäre Rollenaufteilungen entlang der Geschlechterlinien. Der Vater ist der „Haupternährer“, die Mutter die Hausfrau oder Dazuverdienerin. Sie ist für die biologische und soziale Reproduktion des Nachwuchses vorgesehen, nicht nur für die Erziehung der Kinder, sondern auch für die Pflege von alten, kranken und behinderten Familienmitgliedern zuständig und für die Versorgung des Ehemannes, auch wenn er gesund ist. Auch heute wird von SoziologInnen die Wichtigkeit des intergenerativen Fürsorgezusammenhangs, der auf Dauer angelegt ist, hervorgehoben. Damit wird die Familie als Keimzelle der kapitalistischen Gesellschaft und der Familismus als Komplize des Patriarchats weiter ideologisch unterstützt.

 

Ein Blick in die Geschichte des Familismus

 

Familismus war nicht immer auf die Kleinfamilie bezogen. Die Ideologie des Familismus galt bis zur 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts für die Großfamilie, die auch damals von vielen anderen Formen des Zusammenlebens unterwandert wurde. Auch die vorwiegend großbürgerlichen und großbäuerlichen Großfamilien im sogenannten „Ganzen Haus“ waren keine „heilen“ Familien. Der Vater konnte sein Patriarchat notfalls mit dem Faustrecht verteidigen. Von der Rolle des Gesindes, vor allem der Mägde, die den jungen und alten Herren ausgeliefert waren, ist in den Geschichtsbüchern kaum die Rede. Der heute als erster Familiensoziologe bezeichnete Wilhelm Heinrich Riehl sah in seinem Buch von 1855 in der Rolle der Hausfrau „einen positiven politischen Beruf“. Sie sollte die Sitten des Hauses pflegen, auch im Sinne „unserer Nationalität“. Frauen sollten „wirken für das öffentliche Leben, aber man soll ihrer dabei nicht ansichtig werden, denn sie sollen zu Hause bleiben“. Klare Rollenzuweisungen galten als Naturgesetz. Aus dem „Zerfall“ dieser Familienform ist mit fortschreitender Industrialisierung das entstanden, was heute als Idealfamilie bezeichnet wird.

Hausvater und Hausmutter sind geblieben, wenn auch in veränderter Form. Die Ideologie des Familismus dominiert in allen westlichen Staaten, auch in der Bundesrepublik, wo sie als „Schutz der Familie“ in der Verbindung mit Ehe fest im Grundgesetz verankert ist. 

Obwohl nach dem Zweiten Weltkrieg 2,5 Millionen Kriegerwitwen mit ihren Kindern alleine lebten und vier Millionen Frauen ohne Mann wirtschafteten, wurde die bürgerliche heterosexuelle Kleinfamilie zum Vorbild für die Nachkriegsgeneration und prägt bis heute die Leitlinien der Politik. In dieser bürgerlichen Kleinfamilie – wo Geborgenheit und Liebe versprochen werden – herrschen oft Gewalt, Missbrauch und Unterdrückung.

 

Kritik am Familismus

 

An der Ideologie des Familismus wurde schon früh Kritik geübt. Sei es von sozialistischer, marxistischer, anarchistischer oder feministischer Seite. Seit dem 19. Jahrhundert gründeten AnarchistInnen Lebens- und Arbeitsgemeinschaften als Alternativen zum kapitalistischen und zum familistischen System. Einige waren erfolgreich, andere gingen wieder unter – an eigenen inneren Widersprüchen oder durch den Druck des Staates. Die Gemeinschaften beruhten auf freier Assoziation von selbstbestimmten Individuen und sollten zu größtmöglicher Unabhängigkeit und Selbstbestimmung führen, zu einer Ordnung, „die keine andere Grundlage hat als die Interessen, Bedürfnisse und die natürliche Affinität der Bevölkerung“ (Michail Bakunin). Kein Mensch sollte über den anderen herrschen, Frauen sollten gleichgestellt sein. An die Stelle der durch Staat und Kirche legalisierten „bürgerlichen Ehe“ trat die „freie Ehe“, ein freiwilliger Bund zweier Menschen ohne Besitzansprüche (Gustav Landauer). Staat, Kirche und Familie sollten in der klassenlosen, herrschaftslosen, von allen Institutionen befreiten Gesellschaft der Vergangenheit angehören. An die Stelle des Staates sollte der „Bund freier Gemeinden und Verbände: die Gesellschaft“ treten. Erich Mühsam sah „Frauenrecht und Frauenfreiheit“ darin, dass Frauen ihre Männer frei wählen dürfen, ohne dass diese Vaterrechte bekämen. Die Anarchistin Margarethe Faas-Hardegger lebte wie Emma Goldman und viele andere Anarchistinnen das Ideal der „freien Liebe“, die auf gegenseitiger Achtung, nicht aber bürgerlichen Zwängen basieren sollte.

Auch die „neuen“ Frauenbewegungen der 1970er Jahre in Westdeutschland haben mit ihrer harschen Kritik an der tradierten Familienideologie zumindest einen Stein ins Rollen gebracht. Sie suchten nach kollektiven Modellen und entwickelten Gegenmodelle zur heterosexuellen Kleinfamilie, die geeignet waren, die enge Fixierung zwischen Vater, Mutter und Kind aufzulösen und für Frauen und Kinder Freiräume zu schaffen. Die Kritik der staatlichen Familienpolitik als Bevölkerungspolitik, die als Frauenpolitik ausgegeben wird, sie jedoch untergräbt, hält bis heute an.

 

Wie sieht die Situation heute aus?

 

„Klassische Familie auf dem Rückzug“ oder „Wandel im Familienleben“, so oder ähnlich titeln die Medien seit Jahren, wenn das Statistische Bundesamt die aktuellen Zahlen aus dem Mikrozensus veröffentlicht. Die aktuellen Zahlen wirken für sie alarmierend, weil man aus ihnen lesen kann, dass die traditionelle heterosexuelle Kernfamilie, wenn nicht ein Auslaufmodell, so doch keinesfalls das vorherrschende Lebensmodell in Deutschland ist. Die Zahl der Menschen, die diese Lebensform wählen, nimmt nach den Angaben des Amtes ständig ab. Im Jahr 2014 lebten von 40,2 Millionen Haushalten mit rund 80,8 Millionen Haushaltsmitgliedern 28 Prozent in der klassischen Kleinfamilie, also im Zweigenerationenhaushalt, in dem Eltern und ihre Kinder zusammenleben. Dabei sind Stief-, Pflege-, Adoptivkinder und die Großeltern, die mit ihren Enkeln leben, mitgezählt. Rechnet man die Familien mit minderjährigen Kindern, so waren es nur 20,3 Prozent aller Haushalte. Drei- und Mehrgenerationen-Haushalte sind mit 0,5 Prozent eine statistisch kaum erfassbare Größe. Hingegen sind alleinerziehende Eltern eine ständig wachsende Familienform. Sie machten nach dem Mikrozensus von 2011 bereits 22,9 Prozent aller Haushaltsformen aus. 90,1 Prozent dieser Haushaltsform sind Mütter mit ihren Kindern. Der häufigste Haushaltstyp ist mit 37,2 Prozent der Singlehaushalt. Der Rest der Haushalte besteht aus gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften, Wohngemeinschaften, Heimen und Lebensformen, für die es noch keinen Namen gibt.

Familien- und BevölkerungspolitikerInnen und FamiliensoziologInnen trösten sich damit, dass Menschen bei Umfragen stets angeben, dass man eine Familie zum Glück braucht. Sie schließen daraus, dass die Befragten die „Normalfamilie“ meinen. Die gelebte Realität ist jedoch bereits vielfältiger, als es aus der Statistik ersichtlich wird.

 

Ausblick

 

Das Verständnis von Familie hat sich gegenüber früheren Zeiten eingeengt. Warum sollte die Familie sich nicht wieder ausdehnen? Nicht in die ursprüngliche Form, sondern in viele Richtungen zugleich? Für die Zukunft sollte es nicht darum gehen, sich häufende „neue Lebensformen“ den Normen der bürgerlichen Kleinfamilie anzupassen, sie in „geordnete Bahnen zu lenken“, mit staatlichem Segen zu versehen und damit wiederum anders lebende Erwachsene und Kinder zu diskriminieren.

Es geht um die Gleichstellung aller Lebensformen, und die wäre erst dann erreicht, wenn keine Lebensform bevorzugt und damit keine benachteiligt wird. Voraussetzung ist freilich, dass niemand ausgebeutet, unterdrückt oder seinen eigenen Interessen widersprechend behandelt wird. „Ehe für alle“ ist eine Schimäre, weil sie nur für jene gilt, die sich den bürgerlichen Normen fügen und als Paare zusammenleben wollen. Es sollte aber nicht darum gehen, die Privilegien noch weiter auszudehnen, sondern sie aufzuheben. Es sollte keine Rolle spielen, ob Menschen alleine, zu zweit oder zu mehreren, mit oder ohne (eigene) Kinder, monogam oder polygam, homo-, hetero-, bisexuell oder in anderen (nicht-)sexuellen Beziehungen friedlich zusammenleben, und auch nicht, aus welchem Land sie kommen, wo sie hingehen, welche Hautfarbe sie haben und welchem Geschlecht sie sich zugehörig fühlen wollen. Es geht um die Möglichkeit von freien Zusammenschlüssen unter freien Menschen ohne Unterdrückung und Gewalt. Man könnte den emotional belasteten Begriff „Familie“ aufgeben und etwa durch „Lebensformen“ ersetzen. Überflüssig würde auch die staatliche Familienpolitik, denn es genügte eine Politik für Menschen. Das wäre das Ende des Familismus.

 

Gisela Notz

 

Anmerkung:

  1. Familismus ist ein soziologischer Begriff, der die Familie als Leitform einer Sozialstruktur beschreibt. Zum Nach- und Weiterlesen: Gisela Notz: „Kritik des Familismus. Theorie und soziale Realität eines ideologischen Gemäldes“, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2016, 222 Seiten, 10 Euro. Siehe auch Rezension in Graswurzelrevolution Nr. 407 (Libertäre Buchseiten), März 2016.

 

 

Dr. Gisela Notz ist Sozialwissenschaftlerin und Historikerin. Kontakt: www.gisela-notz.de

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 410, 45. Jahrgang, Sommer 2016, www.graswurzel.net