Resonanzraum für Interessenvertretung

Konferenz der europäischen Wissenschaftsminister*innen in Tirana

Nach 25 Jahren haben Bildungsgewerkschaften und Studierendenvertretungen dem Bologna-Prozess ihren Stempel aufgedrückt. Das kommt in Festlegungen des Kommuniqués der Konferenz der europäischen Wissenschaftsminister*innen im Mai 2024 in Tirana zum Ausdruck: soziale Dimension, Grundwerte wie Wissenschaftsfreiheit und Mitbestimmung, attraktive Beschäftigungsbedingungen. Andreas Keller fasst die Ergebnisse der Konferenz kritisch zusammen.

Auch bei durchchoreografierten internationalen Gipfeln wie der Konferenz der Wissenschaftsminister*innen des aus dem Bologna-Prozess hervorgegangenen Europäischen Hochschulraums (European Higher Education Area - EHEA) am 29./30. Mai 2024 in Tirana kommt es vor, dass einem der Atem stockt. So geschehen gleich zwei Mal beim Grußwort des albanischen Minister*innenpräsidenten Edi Rama (Sozialistische Partei) an die rund 200 Delegierten aus rund 45 EHEA-Mitgliedsstaaten innerhalb wie außerhalb der Europäischen Union sowie der beratenden Mitglieder des EHEA, unter ihnen das European Trade Union Committee for Education (ETUCE), die europäische Region von Education International (EI), der weltweiten Dachorganisation der Bildungsgewerkschaften, welche der Verfasser die Ehre hatte, als Leiter einer fünfköpfigen Delegation in Tirana zu vertreten.

Schnappatmung Nr. 1 setzte ein, als Rama sich ausgerechnet besonders bei Ungarn und der Türkei für ihr Engagement im EHEA bedankte. Nun mag es bilaterale Beziehungen Albaniens zu den beiden Ländern geben, die den Minister*innenpräsidenten zu dem Lob veranlassten. Im EHEA stehen aber beide Länder dafür, dass sie Grundwerte wie Wissenschaftsfreiheit und Hochschulautonomie, die seit der Pariser Minister*innenkonferenz 2018 auf der Agenda des Bologna-Prozesses stehen, zwar als EHEA-Länder formal mittragen, aber tatsächlich in ihren Hochschulsystemen mit Füßen treten - in der Türkei etwa durch Repressionen gegen Wissenschaftler*innen bis hin zu Entlassungen und Inhaftierungen, die 2016 den Appell "Academics for Peace" unterzeichneten und sich so mit der kurdischen Bevölkerung solidarisierten; in Ungarn sorgten 2017 erst das Verbot von Gender Studies an den staatlichen Hochschulen, dann die Schließung der Central European University (CEU) für Aufsehen, die daraufhin in Wien neu gegründet wurde. Was immer Rama bewegt hat, seine Rede wurde dadurch zu einem impliziten Statement gegen die EHEA-Grundwerte.

Der zweite Atemaussetzer ergab sich beim flammenden Plädoyer des albanischen Regierungschefs, den EHEA zu einer "Bildungs-NATO" weiterzuentwickeln. Nun mag man die Aussage gutwillig dahingehend interpretieren, Bildungs- und Wissenschaftspolitik müsse ebenso hoch priorisiert werden wie Verteidigungspolitik, oder sogar als Bekenntnis zu den Grundwerten, die in Ungarn und der Türkei unterminiert werden. Allein, für einen Hochschulraum, der EU-Mitglieder und Nicht-EU-Mitglieder, NATO-Mitglieder und Nicht-NATO-Mitglieder, ja sogar Russland, wenn auch seit 2022 mit suspendierter Mitgliedschaft einschließt, ist der Vergleich unpassend. Auch wenn der Bologna-Prozess historisch ein Stück weit der Logik eines globalen Standortwettbewerbs folgt, ist ihm militärisches Denken fremd. Die in Tirana erneut beschworenen Grundwerte wie Wissenschaftsfreiheit und Hochschulautonomie können sogar gegen die Militarisierung der Hochschulen ins Felde geführt werden, die nach den jüngsten Attacken von Politiker*innen bis hin zu Bundesbildungs- und -forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) gegen Zivilklauseln auch in Deutschland droht.

Kampf um Fußnoten

Im Übrigen verlief die Tiranaer Minister*innenkonferenz planmäßig und geräuschlos - zumindest nach der Eröffnung durch die albanische Bildungsministerin Ogerta Manastirliu am Morgen des 29. Mai. Zuvor hatte indes der Vatikan, ebenfalls einer der 49 Mitgliedsstaaten des EHEA, in der Sitzung der Bologna Follow-up Group (BFUG) damit gedroht, die Verabschiedung des Tiranaer Kommuniqués platzen zu lassen. Die BFUG, in der alle Mitgliedsstaaten sowie, mit beratender Stimmte, die beratenden Mitglieder vertreten sind, trifft alle wesentlichen Entscheidungen zwischen den EHEA-Minister*innenkonferenzen und bereitet insbesondere die Entscheidungen letzterer vor. Der Vatikan hätte also in der anschließenden Konferenz die Verabschiedung des Kommuniqués ebenso wie Andorra, Liechtenstein, San Marino oder jeder andere der Mitgliedsstaaten blockieren können.

Der Vatikan begehrte - wie in der vorausgegangenen BFUG-Sitzung vergeblich Ungarn - die Aufnahme verschiedener Fußnoten in das Tiranaer Kommuniqué, in der sich der Heilige Stuhl von den Inhalten der Erklärung distanziert hätte. Das betraf etwa die Aussagen zur weiterbestehenden Suspendierung Russlands und Belarus‘, der der Hinweis auf prinzipielle außenpolitische Neutralität des Vatikans gegenübergestellt werden sollte. Ein weiterer, schon in der vorausgegangenen Sitzung geltend gemachter Vorbehalt betraf das im Kommuniqué enthaltene Bekenntnis zur Chancengleichheit der Geschlechter - nicht per se, sondern aufgrund des dem Vatikan fehlenden Hinweises, dass mit den Geschlechtern Frauen und Männer gemeint seien. Auf Drängen insbesondere der nordischen Länder wurde dieser Hinweis aber ganz bewusst unterlassen, da es anerkanntermaßen nicht nur zwei Geschlechter gibt.

Am Ende kam der Vatikan damit nicht durch, weil andere BFUG-Mitglieder messerscharf erkannten, dass eine Serie an Fußnoten mit Vorbehalten weiterer EHEA-Länder die Folge gewesen wäre. Der Heilige Stuhl gab seine Bedenken schließlich außerhalb des Kommuniqués zu Protokoll, verzichtete auf die Fußnoten und ließ den Eklat ausfallen. Der Konflikt zeigt, dass es zunehmend Mühe kostet, im EHEA inhaltlichen Konsens zu hochschul- wie hochpolitischen Fragen zu erzielen. Weiter besteht die Gefahr, dass Verständigungen als Formelkompromisse verstanden oder nur formal hingenommen, aber anschließend nicht mit Überzeugung umgesetzt und vertreten werden, wie ja die angesprochenen eklatanten Beispiele aus Ungarn und der Türkei bereits zeigen.

Grundwerte des EHEA

Dabei war der Bologna-Prozess mit der Pariser Minister*innenkonfenz 2018 ganz bewusst mit der Aufnahme der Grundwerte des EHEA in die dritte Dekade gestartet.1 Bis dahin hatte die Förderung der Mobilität zunächst der Studierenden, bald auch der Hochschulbeschäftigten, und als Voraussetzung die strukturelle Kompatibilität der Studiengänge im Fokus gestanden, die heute als Key Committments des EHEA im Tiranaer Kommuniqué fortgeschrieben werden: erstens Studienstrukturen, die auf drei Abschnitten beruhen: Bachelor, Master und Promotion (wobei die frühere Betonung, dass Promovierende zugleich Forscher*innen in der ersten Phase ihrer wissenschaftlichen Berufstätigkeit sind, leider im Tiranaer Kommuniqué nicht wiederholt wird) und mit dem im Rahmen des ERASMUS-Programms entwickelten European Credit Transfer and Accumulation System (ETCTS) vergleichbar gemacht werden; zweitens die Anerkennung von Studienabschlüssen nach Maßgabe der Lissabon-Konvention von 1997, welche die Beweislast umkehrt: nicht Studierende und Absolvent*innen müssen die Gleichwertigkeit ihrer Abschlüsse nachweisen, sondern umgekehrt die Hochschulen die fehlende Gleichwertigkeit, wenn sie die Anerkennung verweigern; drittens die Garantie von Qualitätsstandards nach Maßgabe der von der so genannten E4-Gruppe - der europäischen Dachorganisationen der Qualitätssicherungsorganisationen (ENQA), der Studierendenvertretungen (ESU), der Universitäten (EUA) sowie der nichtuniversitären Bildunsgseinrichten des tertiären Bildungsbereichs (EURASHE) - erarbeiteten und von den EHEA-Minister*innenkonferenzen 2005 bzw. in revidierter Fassung 2015 bestätigten European Standards and Guidelines for Quality Assurance (ESG).

Eine wichtige Erweiterung erfolgte auf der Berliner Minister*innenkonferenz 2003 durch die Betonung der sozialen Dimension des EHEA, deren Ziel im Londoner Kommuniqué von 2007 eindrücklich beschrieben wurde: "We share the societal aspiration that the student body entering, participating in and completing higher education at all levels should reflect the diversity of our populations. We reaffirm the importance of students being able to complete their studies without obstacles related to their social and economic background."2 Die Bedeutung der sozialen Dimension wurde später, wie bei der Förderung der Mobilität, über Studierende hinaus auf Hochschulbeschäftigte erweitert.

Wurde das Bekenntnis zur sozialen Dimension seit 2003 gebetsmühlenartig wiederholt und in Sonntagsreden beschworen, erfolgten indes auf den Minister*innenkonferenzen nur wenige Schritte zu deren Konkretisierung und noch weniger Schritte zur Umsetzung in den EHEA-Mitgliedsstaaten. Das änderte sich grundsätzlich mit dem Rom Kommuniqué von 2020, das im Rahmen einer pandemiebedingt virtuellen Minister*innenkonferenz verabschiedet wurde. Die als Anhang zum Kommuniqué verabschiedeten Principles and Guidelines to Strengthen the Social Dimension of Higher Education in the EHEA3 buchstabierten in zehn Prinzipien und Richtlinien sowie einem Glossar aus, was soziale Dimension im Einzelnen bedeuten soll. Darin wird die soziale Dimension grundlegend als Diversität, Gleichstellung und Inklusion verstanden. Auf Druck der EUA wurde in den Principles and Guidelines neben der Verantwortung der Politik auf nationaler Ebene auch die der einzelnen Hochschulen betont und auf konkrete Aussagen etwa zur Studiengebührenfreiheit oder Anforderungen an ein Stipendien- oder Darlehenssystem verzichtet. Das Dokument ist die Grundlage für eine umfassende Berichterstattung zur Umsetzung der sozialen Dimension in dem zur Tiranaer Konferenz vorgelegten Implementationsbericht.4

Analog wurde 2024 in Tirana für die Umsetzung der Grundwerte des EHEA das Statement for Fundamental Values als Anlage zum Tiranaer Kommuniqué verabschiedet.5 Die 2018 in Paris benannten und 2020 in Rom und 2024 in Tirana bestätigten und weiter ausgeführten Grundwerte - Wissenschaftsfreiheit (academic freedom), Hochschulautonomie (institutional autonomy), Redlichkeit (integrity), Mitbestimmung von Studierenden und Beschäftigten (participation of students and staff in higher education governance) sowie die öffentliche Verantwortung (public responsibility) sowohl der Hochschulen als auch für die Hochschulen - werden darin im Einzelnen ausbuchstabiert, auch als Grundlage für den nächsten Implementationsbericht. Bemerkenswert ist beispielsweise das weitgehende Verständnis des Grundwerts der Mitbestimmung, das, so auch im Tiranaer Kommuniqué selbst zitiert, das Recht von Studierenden und Beschäftigten einschließt, in allen Diskussionen und Entscheidungen in allen Gremien beteiligt zu werden und initiativ zu werden. Dagegen hatte namentlich die EUA, in den vorausgegangenen Bund-Länder-Abstimmungen in Deutschland die Hochschulrektorenkonferenz, Bedenken geäußert - vergeblich. Auch wenn das Tiranaer Kommuniqué völkerrechtlich nicht bindend ist, dürfte das abstrakte Bekenntnis zu Grundwerten aufgrund seiner Konkretisierung durch das Statement in den nächsten drei Jahren eine größere Wirkung erzielen, da sich die Regierungen an den klaren Vorgaben werden messen lassen müssen. Der Grundwert der Wissenschaftsfreiheit wird im Kommuniqué indes eher formal interpretiert. Offensichtliche Verletzungen der akademischen Freiheit wie die aus Ungarn oder der Türkei berichteten, dürften in den künftigen Implementationsberichten mit tiefroter Farbe auf den europäischen Landkarten angeprangert werden. Doch wie verhält es sich mit indirekten Verletzungen der Wissenschaftsfreiheit, die sich daraus ergeben können, dass Wissenschaftler*innen, um überhaupt forschen zu können, Drittmittel einwerben und sich an die inhaltlichen Vorgaben und Fragestellungen der Zuwender*innen anzupassen?

Aufwertung der sozialen Dimension

Dass die soziale Dimension neben den Grundwerten diese zentrale Bedeutung im Bologna-Prozess erlangen konnte, ist maßgeblich auf das kontinuierliche Engagement sowohl der European Students Union (ESU) als auch der durch EI/ETUCE repräsentierten Bildungsgewerkschaften zurückzuführen. Letztere haben sich auch erfolgreich dafür eingesetzt, dass die Beschäftigungsbedingungen an den Hochschulen auf der Agenda des Bologna-Prozesses gelandet sind. So heben die europäischen Wissenschaftsminister*innen im Tiranaer Kommuniqué die zentrale Rolle der Lehrenden für die Qualität von Lehre und Studium sowie Innovationen hervor. In diesem Zusammenhang werden die Hochschulen aufgefordert, den Lehrenden angemessene und attraktive Arbeitsbedingungen zu bieten, Personalentwicklung zu betreiben berechenbare Karrierewege zu eröffnen. Die Trias aus sozialer Dimension, Grundwerten und attraktiven Beschäftigungsbedingungen stellt eine gute Grundlage für die kommenden Jahre im Bologna-Prozess dar, sowohl für die Bildungsgewerkschaften im EHEA als auch in den EHEA-Mitgliedsstaaten, deren Wissenschaftsminister*innen in Tirana ein entsprechendes Committment abgegeben haben.

Der Bologna-Prozess ist mithin schon deshalb ein guter Rahmen für fortschrittliche Wissenschaftspolitik in Europa und in den europäischen Nationalstaaten, weil er Studierendenvertretungen und Bildungsgewerkschaften als beratenden Mitgliedern des EHEA besondere Beteiligungsrechte gibt - der EHEA ist zu deren Resonanzraum geworden. ESU und EI/ETUCE sitzen nicht nur in den Minister*innenkonferenzen, sondern auch in der BFUG und deren Arbeitsgruppen mit am Tisch. Das gleiche gilt grundsätzlich für EHEA-Begleitprozesse in den EHEA-Mitgliedsstaaten, in Deutschland ist das die Bund-Länder-Arbeitsgruppe "Fortführung des Bologna-Prozesses", in der der fzs und die GEW vertreten sind. Auch die Qualitätssicherung ist im EHEA nach Maßgabe der ESG als Prozess mit Stakeholder-Beteiligung gedacht. Der im Tiranaer Kommuniqué erteilte Auftrag zur Überarbeitung der ESG richtet sich an die E4-Group, der ESU angehört, jedoch ausdrücklich in Zusammenarbeit mit EI/ETUCE. Entsprechend sind im deutschen Akkreditierungsrat, der nach Maßgabe des Studienakkreditierungsstaatsvertrags der Länder für die Qualitätssicherung von Studiengängen verantwortlich ist, Studierendenvertreter*innen sowie, als Repräsentant*innen der beruflichen Praxis, Vertreter*innen der Gewerkschaften, aktuell Hans-Jürgen Urban für die IG Metall sowie der Verfasser für die GEW vertreten.

In Tirana wurde beschlossen, dass die nächste EHEA-Minister*innenkonferenz 2027 gemeinsam von Rumänien und Moldawien ausgerichtet werden soll. Das ist schon deshalb spannend, weil die derzeitige rumänische Wissenschaftsministerin Ligia Deca noch bei der Minister*innenkonferenz 2009 in Leuven und Louvain-la-Neuve ESU vertreten hat und einiges vom Esprit und der fachlichen Expertise als Studierendenvertreterin bewahrt hat. Gleichzeitig soll 2027 über die Einrichtung eines dauerhaften EHEA-Sekretariats entschieden werden. Damit würden auch die Weichen für die Fortführung des Bologna-Prozesses über 2030 hinaus und damit in die vierte Dekade hinein gestellt.

Zukunft des EHEA: Privatisiert und Professionell?

Vordergründig werden organisatorische Defizite bei der Vorbereitung und Durchführung der Tiranaer Konferenz als Grund für ein dauerhaftes Sekretariat angeführt. Tatsächlich hat der Umstand, dass die Konferenz erst drei Monate vor ihrer Durchführung exakt terminiert wurde und nur wenige Tage vorher das Programm vorlag, wesentlich dazu beigetragen, dass nicht mehr als zehn von 47 Minister*innen vor Ort waren, die sich im Übrigen von Vizeminister*innen, Staatssekretär*innen oder Regierungsbeamt*innen vertreten ließen. Auch Deutschland war nicht etwa durch Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP), sondern durch den saarländischen Wissenschafts- und Finanzminister Jakob von Weizsäcker (SPD) sowie BMBF-Staatssekretär Jens Brandenburg (FDP) vertreten. Tatsächlich geht es aber bei der Debatte um die "Professionalisierung" des EHEA darum, die politische Steuerung des Prozesses nicht den jeweiligen Sekretariaten der die kommende Konferenz ausrichtenden Länder zu überlassen, sondern einer unabhängigen und möglicherweise von der EU-Kommission geförderten Stiftung zu übertragen. Hinter den Kulissen wurde dafür schon die Bertelsmann-Stiftung als mögliche Kandidatin für das dauerhafte Sekretariat genannt und als dessen Sitz Bonn. Als erster Schritt hin zu einer weiteren Institutionalisierung des EHEA wurden als Anlage zum Kommuniqué in Tirana ausführliche Rules of Procedure beschlossen, die erstmals einen Katalog an Tatbeständen für Mehrheitsentscheidungen in der BFUG vorsehen.6

Mehrheitsentscheidungen erscheinen einerseits plausibel, damit nicht einzelne Länder wichtige Weichenstellungen blockieren könnten - Ungarn oder der Vatikan haben ja bereits mit entsprechenden Vetos gedroht. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass Mehrheitsentscheidungen die Tendenzen verstärken, dass sich zwar Staaten unter dem Dach des EHEA versammeln, aber nach dem Prinzip der Rosinenpickerei einzelne Entscheidungen nicht mittragen und schlicht nicht umsetzen. Die "Privatisierung" des Managements des Bologna-Prozesses in Verbindung mit der Einführung von Mehrheitsentscheidungen könnte weiter dazu führen, dass der harte Kern des EHEA mit Ländern wie Frankreich, Deutschland, aber möglicherweise auch Italien und trotz Brexits Großbritannien, also letztlich die Unterzeichnerstaaten der der Bologna-Erklärung von 1999 vorausgegangenen Sorbonne-Erklärung, in enger Abstimmung mit der Europäischen Kommission eine Führungsrolle beanspruchen. Gleichzeitig könnten so Entwicklungen hin zu einem EHEA erster und zweiter Klasse vorangetrieben werden, wie sie heute schon mit den von der EU geförderten Europäischen Universitätsallianzen begünstigt werden.

Der Charme von Bologna ist aber, dass im EHEA alle europäischen Staaten unabhängig von Größe, wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und EU-Mitgliedschaft auf Augenhöhe mit den beratenden Mitgliedern wissenschaftspolitische Grundsatzentscheidungen aushandeln. Diesen Charme gilt es zu bewahren und weiterzuentwickeln.

Anmerkungen

1)  Die Erklärungen und Kommuniqués der Minister*innenkonferenzen seit der Sorbonne-Erklärung von 1998 sind samt Anhängen auf der EHEA-Website dokumentiert: https://www.ehea.info/page-ministerial-declarations-and-communiques.

2) https://www.ehea.info/Upload/document/ministerial_declarations/2007_London_Communique_English_588697.pdf: 5.

3) https://www.ehea.info/Upload/Rome_Ministerial_Communique_Annex_II.pdf.

4) European Commission/EACEA/Eurydice: The European Higher Education Area in 2024: Bologna Process Implementation Report, Luxembourg 2024, https://op.europa.eu/de/publication-detail/-/publication/54542f20-1986-11ef-a251-01aa75ed71a1/language-en.

5) https://ehea2024tirane.al/wp-content/uploads/2024/05/ANNEX-1-EHEA-STATEMENTS-ON-FUNDAMENTAL-VALUES.pdf.

6) https://ehea2024tirane.al/wp-content/uploads/2024/06/Annex-2-to-the-Tirana-Communique.pdf.

 

Auszug aus der Ansprache von Andreas Keller an die EHEA-Minister*innenkonferenz, Tirana, 29.05.2024

Ministers, delegates, distinguished guests,

Quality teaching and research at higher education institutions are not possible without highly qualified and motivated teachers. This is our fundamental conviction as the voice of teachers and researchers in the European Higher Education Area. Thus we, the European Trade Union Committee for Education (ETUCE), which is the European region of Education International, representing 11 million members of 127 education unions in 51 countries throughout Europe, appreciate very much that teachers as well as other staff members of higher education institutions are addressed clearly in the draft Tirana Communiqué, where is stated: "institutions need to offer adequate and attractive working conditions."

On the other hand, over the past 25 years since the launch of the Bologna Process, we have observed an erosion of tenure and a growth of fixed-term contracts among academics at higher education institutions across Europe. The trend to casualisation and precarisation of academic work throughout Europe undermines the continuity and quality of teaching and research. Therefore, to foster and maintain high quality in teaching and learning, higher education teachers need permanent jobs, job security, reliable career paths, a supportive working environment and appropriate continuous professional development.

Furthermore, we are absolutely convinced that quality teaching requires academic freedom - freedom in relation to teaching and discussion, freedom in carrying out research, disseminating and publishing its results, freedom to express freely opinions about the institution and system in which academics work. ETUCE, therefore, welcomes that the draft Communiqué stresses again the importance of academic freedom as one of the fundamental values in the entire EHEA - along with participation of students and staff. In this context, we welcome the work on creating a technical monitoring framework for the next Ministerial Conference in 2027. The European higher education and research sectors and their personnel have a key role in defending the fundamental values of higher education, human rights, democracy and equality, passing on these values from generation to generation and building bridges between nations.

Quality education and quality teaching are two sides of the same coin. Along with students, we, the teachers, are the key stakeholders in higher education - in the classrooms, in the laboratories, in online-courses, in the institutions. Bring us to the centre of the EHEA. so that, together, we can ensure supportive environments as well as equal opportunities for both students and teachers.
 

 

Dr. Andreas Keller ist stellvertretender Vorsitzender und Vorstandsmitglied für Hochschule und Forschung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Als Vizepräsident der europäischen Dachorganisation der Bildungsgewerkschaften EI/ETUCE hat er im Mai an der EHEA-Konferenz in Tirana teilgenommen.