Wenn Donald Trump über Atomwaffen twittert oder redet, ist die Verwunderung oft groß. Das wichtigste atomare Rüstungskontrollabkommen mit Russland, den New-START-Vertrag, nannte er kurzerhand ein „einseitiges Geschäft“ zum Vorteil Russlands. Putins Angebot, die Laufzeit dieses Vertrages um fünf Jahre zu verlängern, schlug er aus. Er behauptete, gleich zu Beginn seiner Amtszeit, eine umfassende Modernisierung der Nuklearstreitkräfte in Auftrag gegeben zu haben, von der niemand wusste. Und vor einigen Monaten soll er bei einer Sitzung im Weißen Haus sogar eine Verzehnfachung des Atomwaffenbestandes der USA für notwendig gehalten haben. Oft werden solche Äußerungen schnell widerrufen, uminterpretiert oder zu Fake News erklärt.
Trumps Grundhaltung spiegelt sich wohl am ehesten in einer Aussage vom vergangenen Februar wider: „Es wäre wunderbar, wenn wir vereinbaren könnten, dass kein Land Atomwaffen hat. Wenn und solange aber Länder Atomwaffen haben, werden wir an der Spitze des Rudels stehen.“
In den nächsten Monaten muss Donald Trump konkreter werden. Er muss dem US-Kongress einen Bericht über die Zukunft des Atomwaffenpotentials der USA und über die künftige Rolle nuklearer Waffen vorlegen – den sogenannten Nuclear Posture Review. Das Gesetz fordert von jedem US-Präsidenten, der zum ersten Mal ins Amt gewählt wird, binnen eines Jahres ein solches Dokument. Trump hat die Studie kurz nach seinem Amtsantritt in Auftrag gegeben. Seit April ist sie offiziell in Arbeit. Militärexperten aus Think Tanks und die Generalität betreiben jetzt die Lobbyarbeit für ihre Vorschläge, wie Trumps Nuklearstrategie sich von der seines Vorgängers Obama unterscheiden sollte.
Schon Barack Obamas Nukleardokument hatte es in sich: Es sah vor, in den nächsten Jahrzehnten alle Trägersysteme für Atomwaffen der USA durch neue Systeme zu ersetzen. Die Entwicklung des neuen Langstreckenbombers B21 „Raider“ und neuer luftgestützter Marschflugkörper (LRSO) wurde eingeleitet, die einer neuen landgestützten Interkontinentalrakete vorbereitet. Neue strategische Atom-U-Boote und neue U-Boot-gestützte Langstreckenraketen sind auch geplant. Mit dem Joint Strike Fighter, der F-35, ist zudem ein neues taktisches, nuklearfähiges Kampfflugzeug vorgesehen. Zugleich sollten alle fünf Typen von atomaren Sprengsätzen modernisiert werden, die die USA bis in die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts behalten wollen: Die Serienfertigung von neuen, besseren Atombomben des Typs B61-12 wird vorbereitet, die Entwicklung eines modernisierten Sprengkopfs W80-4 für luftgestützte Marschflugkörper ist eingeleitet. Vorgesehen ist zudem eine Modernisierung von drei Sprengkopftypen für Langstreckenraketen. Zwei davon sollen künftig nicht nur mit einem, sondern mit zwei Typen von Trägerraketen nutzbar sein. Schließlich sollen die Einrichtungen des nuklearindustriellen Komplexes modernisiert und das Kommando- und Kontrollsystem für die Nukleararsenal auf einen modernen Stand gebracht werden. Ein Programm, das über 30 Jahre geschätzt etwa 1200 Milliarden Dollar oder mehr kosten würde, wie das Budgetbüro des US-Kongresses jüngst vorrechnete. Die Schätzung im Einzelnen:
- 25 Milliarden Dollar kosten der Betrieb, die Wartung, die Aufrechterhaltung und die Modernisierung der taktischen Nuklearträgersysteme und die Waffen, die diese tragen;
- 445 Milliarden Dollar werden für die Atomwaffenlaboratorien, die Produktionsanlagen, die das Nuklearwaffenpotential unterstützten, die Führungs-, Kommando und Kontrolleinrichtungen und die Frühwarnsysteme fällig und
- 772 Milliarden Dollar werden der Betrieb, die Wartung und die Modernisierung der strategischen Trägersysteme sowie der Sprengköpfe und die Atomreaktoren der Träger-U-Boote kosten.
Natürlich kann es auch noch teurer werden, zum Beispiel, weil sich Zeitpläne nicht einhalten lassen oder technische Probleme auftauchen. Was also soll unter republikanischer Führung auf dieses allumfassende und irrwitzig teure Vorhaben noch draufgesattelt werden?
Adam Smith, der Sprecher der Demokraten im Verteidigungsausschuss des Repräsentantenhauses, brachte das Dilemma bei einer Konferenz in Washington im Juli auf den Punkt: „Im Grunde versetzen uns die Generäle und die Leute aus den Denkfabriken in Angst und Schrecken, weil wir bei allem und jedem hinterherhinken […]. Die Botschaft, die massiv verbreitet wird, ist Panik: Sie müssen uns mehr Geld geben. […] Was wirklich beunruhigend ist, ist das Fehlen einer Strategie, die Abwesenheit von: Okay, hier ist unser Bedarf, hier sind die Ressourcen, mit denen wir vernünftigerweise rechnen können, und hier sind unsere Prioritäten. Das ist das, was nicht gemacht wurde.“
Es sind vor allem konservative zivile Militärexperten aus dem Umfeld der Republikaner, die versuchen, zusätzliche neue Vorschläge einzubringen. Sie möchten, dass Trump in seinen Nuclear Posture Review die Analyse der weltweiten Bedrohungen in den Vordergrund rückt. Bedrohungen, aus denen Forderungen nach zusätzlichen Waffenprogrammen und Fähigkeiten abgeleitet werden können.
Hans Kristensen, Nuklearexperte bei der Vereinigung Amerikanischer Wissenschaftler, beschreibt diesen neuen Ansatz so: „Ein Punkt hat mit dem internationalen Klima zu tun. Sie werden wahrscheinlich argumentieren, dass sich die Lage geändert hat, dass es nicht länger eine positive Beziehung zu Russland gibt, sondern dass Russland jetzt ein Gegner ist. Das wird wohl den Ton des Nuclear Posture Reviews bestimmen.“
Daneben sei vor allem mit zwei Vorschlägen zur Atomwaffenmodernisierung zu rechnen: Zum einen sollen künftig auch die Langstreckenraketen der USA mit Atomwaffen ausgestattet werden, deren Sprengkraft variabel und für kleine Explosionen eingestellt werden kann. Außerdem sollen die Waffen deutlich zielgenauer werden. Solche Waffen brauche man, um ungewollte Kollateralschäden zu vermeiden. Das würde diese Waffen deutlich flexibler nutzbar machen, dem Präsidenten mehr Handlungsmöglichkeiten an die Hand geben. Es würde aber auch die Schwelle vor einem Atomwaffeneinsatz absenken.
Kristensen hält das für überflüssig: „Was da natürlich fehlt, ist die Angabe, dass die USA bereits mehr als 1000 nukleare Sprengköpfe besitzen, Sprengköpfe für Marschflugkörper und für Atombomben, die schon über eine sehr niedrige Sprengkraft verfügen. Das Neue wäre also, diese Fähigkeiten auch noch bei ballistischen Raketen einzuführen. […] Es ist eine grundsätzliche Strategie im amerikanischen Militär, dass sie versuchen, die Zielgenauigkeit und die Effizienz nuklearer Waffen zu vergrößern, damit die Sprengkraft der Waffen verkleinert werden kann. So bekommt der Präsident die Möglichkeit, Atombomben einzusetzen, die geringere Kollateralschäden verursachen.“
Ein zweiter Vorschlag resultiert aus dem wiederholten Vorwurf, Russland verletze den vor 30 Jahren geschlossenen Vertrag über das Verbot landgestützter Mittelstreckenraketen mit Reichweiten von 500 bis 5500 Kilometern. Moskau habe einen landgestützten Marschflugkörper dieser Reichweite getestet und stationiere diesen inzwischen, so die Behauptung. Auch wenn der Öffentlichkeit dafür bislang kein klar nachvollziehbarer Beweis vorgelegt wurde, folgt daraus eine Forderung: Washington soll ebenfalls ein solches landgestützes Marschflugkörper-System entwickeln und für eine potentielle Stationierung in Europa vorhalten. Im Hintergrund dieses Vorschlags stehen zwei Überlegungen: Einerseits wird argumentiert, die ernsthafte Drohung mit einer solchen Möglichkeit könne Moskau vielleicht dazu veranlassen, seine landgestützten Marschflugkörper großer Reichweite wieder aus dem Verkehr zu ziehen. Andererseits bedient dieser Vorschlag ein jahrzehntealtes Motiv der US-Diskussion über am besten geeignete Nuklearstrategie: Washington müsse jederzeit die Waffen und die Möglichkeit haben, einen Atomkrieg regional zu begrenzen – zum Beispiel auf Europa.
Bundesaußenminister Sigmar Gabriel hat diesen seit mehreren Jahren hörbaren Schuss jetzt auch wahrgenommen und auf seine letzten Amtswochen Klartext geredet: „Neue atomare Mittelstreckenraketen mitten in Europa – das ist leider mehr als wahrscheinlich“, sagte er Anfang November der Bild am Sonntag.
Die zuständigen amerikanischen Generäle reagieren überwiegend zurückhaltend. Sie sind sich zwar einig, dass sie erheblich mehr Geld wollen. Das „Wofür“ bleibt aber meist vage. Sie wollen sich keine Verpflichtungen aufhalsen, spezifische neue Kernwaffensysteme einzuplanen. Sie gehen sogar davon aus, dass sie die nukleare Abschreckung auch mit einem deutlich kleineren als dem heutigen Atomwaffenpotential garantieren können. Und sie wissen zu genau, dass Mehrausgaben für atomare Waffen auf Kosten des für konventionelle Waffen verfügbaren Geldes gehen würden. Zudem wollen sie keinen neuen atomaren Rüstungswettlauf hervorrufen und nicht Gefahr laufen, gegen geltende Rüstungskontrollabkommen zu verstoßen.
Die Militärs haben zudem erkannt, dass viele der atomaren Modernisierungsvorhaben, die sie der Regierung Obama verkauft haben, deutlich teurer werden als geplant und auch länger dauern als angekündigt. Sie wollen keine unbegrenzte, maßlose und nicht finanzierbare nukleare Aufrüstung in Gang zu setzen.
Wird Trumps Nuclear Posture Review Auswirkungen für Europa haben? Unweigerlich. Die USA sind die entscheidende Nuklearmacht in der NATO. Obamas Bericht fand 2010 unmittelbar Widerhall in der westlichen Allianz. Er schrieb die nukleare Teilhabe und die Stationierung US-amerikanischer Nuklearwaffen in Europa auf Jahrzehnte neu fest und stellte damit auch Weichen für die geplante Modernisierung der US-Nuklearwaffen in Europa. Die NATO wird über die Auswirkungen des Trumpschen Nuclear Posture Reviews beraten. 2018 ist ein NATO-Gipfel geplant, bei dem erste Konsequenzen für das Bündnis beschlossen werden könnten.