das begehren, die maschine für einen moment lahmzulegen

Gespräch mit Praktiker_innen der Dissidenz und des zivilen Ungehorsams

prager frühling: Nach „Castor schottern“ und „Stuttgart 21“ redeten im vergangenen Jahr alle vom zivilem Ungehorsam. Aber scheinbar versteht jeder etwas anderes darunter. Kim, auf der Webseite von „¡No pasarán!“ bezieht ihr euch explizit auf zivilen Ungehorsam. Andrea, du hast theoretisch zu Electronic Civil Disobedience (ECD) gearbeitet. Was versteht ihr darunter?

Kim Sommer: Wir verstehen unter zivilem Ungehorsam, dass man kollektiv die bestehenden Regeln entweder sehr flexibel ausnutzt oder übertritt. Ich komme aus der autonomen Bewegung, da war es immer ein großes Thema, die Leute zu ermächtigen, den Erfahrungsschatz erweitern, Freiräume schaffen. Nicht nur Häuser besetzen, sondern sich auch sonst trauen, gegen diesen Obrigkeitsstaat vorzugehen und Regeln einfach mal in Frage zu stellen.

Andrea Knaut: Electronic Civil Disobedience ist das Konzept von zivilem Ungehorsam im digitalen Raum. Es gibt eine riesige Spannbreite: Stichworte sind Hacktivism, E-Petitionen, also Petitionen im Netz, oder Distributed Denial-of-Service-Attacken, also das massenhafte Aufrufen einer Seite, um Server zu überlasten. Man könnte sich fragen, ob die Vernetzung von Leuten auf Facebook Teil des Electronic Civil Disobedience (ECD) ist. Dieser Begriff überträgt klassische Protestformen wie Blockaden in das Internet als virtuellen öffentlichen Raum. Die Deportation-Class-Kampagne gegen das Geschäft mit der Abschiebung ist ein gutes Beispiel. Das war ja die Fortführung des Konzepts, das Anfang der 1990er von Ricardo Dominges und Steven Ray entwickelt wurde. Damals war zur Unterstützung der Zapatistas geplant, Server von Regierungsvertretern lahmzulegen, um auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen. Bei der Deportation-Class-Kampagne war es genauso. Man hat versucht, den Lufthansa-Server zu einem bestimmten Zeitpunkt lahmzulegen, um auf das Abschiebegeschäft aufmerksam zu machen.

pf: Gab es in den letzten Jahren in Deutschland überhaupt eine Kampagnen-Praxis? Mir fällt nur die Deportation-Class-Kampagne ein. Haben wir was verpasst?

Andrea: Als richtige Kampagne mit Strategie und Konzept, Flyern, Pressearbeit und ähnlichem fällt mir für Deutschland bezogen auf den digitalen Raum schnell auch keine andere ein, die Öffentlichkeit außerhalb der sogenannten Hacker-Community fand. In dieser läuft das dann sehr netz-basiert: Man schaut beispielsweise in einschlägigen Blogs, ob und auf welche Server Denial-of-Service-Attacken vorgeschlagen werden. Eine solche Aktion gelingt zeitweilig, wenn tatsächlich Leute massenhaft gezielt eine Webseite aufrufen und einen Server damit überlasten. Dazu wird dann meist spezielle Software genutzt. Wird das pressewirksam, trägt es Züge einer Kampagne, die aber vielleicht weniger strategisch vorhersehbar ist. Aus IT-Admin-Perspektive sind Hacktivisten „Angreifer“ oder Skript-Kiddies... .

pf: … Leute, die vorgefertigte Programme ausführen …

Andrea: Ja, aus Spaß und nicht aus einer politischen Motivation.

Ole Frahm: Aus meiner Perspektive wäre klar, dass sich die Organisation von Blockaden – sei es die Blockade von Rechnern oder von Kreuzungen – nur politisch verstehen lässt. Auch wenn die ganze Flashmob-Bewegung darauf bestanden hat, unpolitisch zu sein, artikuliert sie ja das Begehren abzuweichen. Auch wenn es sich nur für zehn Sekunden zeigt. In Berlin gab es mal den Versuch, einen McDonalds-Laden lahmzulegen. Da standen Leute mit Stahlhelmen, die durch Megaphone die Leute angewiesen haben. Gekommen waren 10.000 Leute, die es genossen, McDonalds einmal zu überfordern. So reaktionär und kleinbürgerlich die Aktion war, sie artikuliert den Wunsch, die Maschine für einen Moment lahmzulegen. Es gibt dieses Moment, das ich immer interessant finde: Herauszufinden, wie kann man etwas blockieren oder kaputt machen. Das hat viel davon, wie in den 70er Jahren Graffiti funktioniert hat. Zwischen dem Beton Markierungen setzen — und genauso setzt man heute halt elektronische Markierungen.

pf: Ole, ihr von LIGNA habt das Radioballett als Format entwickelt, das häufig in einem Atemzug mit zivilem Ungehorsam genannt wird. Allerdings grenzt ihr euch stark davon ab. Warum?

Ole: In erster Linie, damit eine bestimmte Verwechslung nicht stattfindet. Und klar, zu zivilem Ungehorsam gehört immer eine massenhafte Praxis, die die Form ihrer Mittel wählt. Das unterscheidet sich von unseren Interventionen. Diese sind eine künstlerische Reflexion, die dann auch Eingriffe versucht, aber nicht das sein will, was in den letzten Jahren als kreativer Widerstand verstanden wurde. Wir sind über die freien Radios politisch sozialisiert worden. Wir haben unsere Form als einen Versuch verstanden, überhaupt Handlungsfähigkeit zu erhalten — aus einer Niederlage heraus: Der Grund des Radioballetts war, dass die Bahn Bahnhöfe an eine Tochtergesellschaft ausgelagert und denen das Hausrecht übertragen hat. Weil dort keine Demonstrationen mehr möglich waren, haben wir überlegt, welche Handlungsmöglichkeiten ein Medium wie das Radio erlaubt. In dem Moment, wo andere Mittel nicht greifen, ist es sinnvoll, die Ebene zu wechseln, um handlungsfähig zu werden. Außerdem war das Radioballet auch immer eine Kritik an den freien Radios. Die meisten Leute in den freien Radios haben diese wie den öffentlich-rechtlichen Rundfunk der 80er Jahren verstanden. Man sendet etwas, das man für wichtig hält. Aber diese Praxis ist noch keine Kritik am Medium.

pf:
Ole, Kim sprach vorhin vom Regelübertritt, worin genau bestand der bei euch? Die Bahn hat versucht, euch zu verklagen. Ein Gericht hat eure Aktion für legal erklärt. Hat die Aktion damit an Symbolkraft verloren?

Ole: Diese Symbolkraft interessiert uns nicht. Wir wollen einen Raum konkret verändern und den Handlungsspielraum erweitern. Für uns war das Radioballett immer legal, nur die Deutsche Bahn sah das anders. Aus unserer Perspektive beginnt der Ungehorsam viel früher. Er besteht darin, sich in eine Situation zu begeben, in der man etwas tut, was man eigentlich nicht tun kann. Das ist eine Frage von Kollektivität, bei der ich zu Anfang des Jahrzehnts noch skeptischer gewesen bin. Zum zweiten geht es darum zu schauen, wie der eigene Körper im öffentlichen Raum geregelt ist, wie ich gehorche, bevor ich überhaupt darüber nachgedacht habe.

pf: Man kann also Disziplinierung spürbar machen? Kann man andersherum dissidentes Verhalten „einüben“?

Kim: Wir waren im letzten Jahr in Dresden über 12.000 Leute. Das war nicht nur der harte Kern der Antifa. Das war ein breites Spektrum von Menschen. Wir haben ja monatelang bundesweit mobilisiert und in Dresden die Aktionskonferenz durchgeführt. Haben uns mit den Leuten auseinandergesetzt und erklärt: Eine Blockade kostet nicht mehr als ein Strafzettel. Wir haben versucht, den Leuten die Angst zu nehmen. Das hat funktioniert.

pf: Eine Frage, die wir in der Redaktion diskutiert haben, lautet: Ist für die Bestimmung von zivilem Ungehorsam politisches Bewusstsein ausschlaggebend? Oder liegt da die Unterscheidung zu anderen Kategorien wie Dissidenz?

Kim: Politisches Bewußtsein ist immer ausschlaggebend. Der Begriff der Dissidenz wird aus meiner Sicht im Wesentlichen im Zusammenhang mit autoritären Staaten benutzt. Es stellt sich die Frage, ob Dissidenz in modernen kapitalistischen Gesellschaften möglich ist? Oder ist das nicht „nur“ eine Abweichung, die tendenziell sogar eingemeindet und als Mode aufgegriffen wird?

Andrea: Lohnarbeitsverweigerung? Ohne Ticket fahren?

Kim: Ist Verweigerung schon Dissidenz? Ich kenne den Begriff im Zusammenhang mit der Sowjetunion oder dem Prager Frühling. (lacht) Aber da zahlst du für Dissidenz einen hohen Preis, namentlich intellektuelle Isolation, Freiheitsentzug etc. Das ist für mich mit Dissidenz verknüpft. Das sind ja andere Konsequenzen, als wenn ich nicht arbeiten gehe, mich mit Sozialleistungsbezug durchschlage oder mit anderen Formen von Aneignung. Das ist abweichendes Verhalten. Wenn ich mich erwischen lasse, hat das auch konkrete Folgen. Aber Dissidenz? Ich würde lieber über Widerstand sprechen. Widerstand das beinhaltet eben auch konkrete Aktionen gegen die Verhältnisse, die man ablehnt und die man verändern will.

pf: Zugespitzt: Im liberalen Kapitalismus gibt es keine Dissidenz, weil es diese starren, externen Zurichtungs- und Normierungsinstanzen nicht gibt?

Ole: Weil sie auf einer anderen Ebene stattfinden. Entscheidend ist: Natürlich gibt es eine Regulation von abweichendem Verhalten. Aus meiner Wahrnehmung hat diese Regulation in den letzten 30 Jahren sogar zugenommen. Es ist viel schwerer geworden, sich abweichend zu verhalten oder abweichend zu leben. Wie z.B. Städte umgebaut wurden, wie bestimmte Verhaltensweisen verunmöglicht werden. In Hamburg gab es früher einen Punker-Treffpunkt mitten in der Innenstadt. Sowas wäre heute nicht mehr denkbar. Das heißt noch nicht, dass man dann anfängt, auch politisch was gegen das System zu unternehmen.

Kim: Die These war nicht so absolut gemeint. Ich stelle nur die Frage: Gibt es Dissidenz in dieser Gesellschaft? Und das ist eine Frage, die ich mir noch nicht beantwortet habe. Es gibt viele Dinge, die vor 10 Jahren noch die völlige Abweichung waren und die nun eingemeindet sind. Ich denke, das ist zweiseitig. Einerseits gibt es viel mehr Zugriff auf das Individuum durch Technologien, durch Regulation von Alltag, durch Druck zu Erwerbsarbeit und weil die sozialstaatlichen Leistungen an Sanktionen gebunden sind. Aber andererseits geht heute viel mehr als vor 20 Jahren.

pf:
Kim hat gerade den Zugriff auf das Individuum durch Technologien betont. Andrea, gilt das auch für elektronische Kommunikation?

Andrea: Da gibt es zwei entgegengesetzte Sichtweisen auf die Frage, ob elektronische Kommunikation den Menschen steuert und insofern zurichtet: Die einen sagen, das Internetprotokoll sei an sich frei, es ermögliche eine nur sehr schwer regulierbare Kommunikation. Schließlich es gibt immer wieder so eine Art „Darknet“, wo selbst unbedarfte User sich irgendwelche Dateien herunterladen können. Sowas kann natürlich nur unglaublich autoritär kontrolliert werden, um Kommunikation darüber langfristig zu verhindern – beispielsweise durch Komplettabschaltung aller größeren Provider, Kappen der großen Breitbandkabel, der Wireless-Technologien etc. Die anderen sagen im Sinne von Bruno Latour, „Technik ist stabilisierte Gesellschaft“. Und je nachdem, wie man die Gesellschaft beurteilt, richtet Technik in dem Maße zu, wie es die Form der Gesellschaft mit sich bringt. Postfordistische Zurichtung könnte z.B. eine Komplettüberwachung meinen, die keine planende Zentrale hat, sondern durch die Eigendynamik des Zusammenspiels zwischen technischen wie menschlichen Akteuren entsteht. Gemeint sind die Mechanismen, mit denen sich Menschen in ihrem Verhalten zurichten lassen. Weil sie überall Automaten benutzen müssen: für Tickets, fürs Bezahlen mit Geld oder Abheben von Geld, für die Orientierung, weil an Flughäfen Kontrollen sind, weil Menschen plötzlich überall ihre Fingerabdrücke für halbautomatische Kriminalitätsprävention hinterlassen sollen, weil im Alltag die Kommunikation und selbst die Kontrolle durch Technik ersetzt wird. Da kann ich noch nicht mal gegen eine Institution protestieren, weil selbst bei der politischen Überwachung auf Grund der Automatisierung irgendwann nicht mehr klar ist, wer da eigentlich verantwortlich ist.

Ole:
Würdest du aus deiner Perspektive z.B. illegale Downloads als Form zivilen Ungehorsams im Alltag sehen?

Andrea: Das würde ich so sehen. Das ist individueller ziviler Ungehorsam.

pf: Das führt zu der Frage zurück, ob politisches Bewusstsein eine Bedingung für Dissdenz ist. Also noch einmal: Ist ziviler Ungehorsam inhaltlich bestimmt oder ist es nur eine Form.

Andrea: Es geht mir schon darum, dass es z.B. um Freiheitsrechte geht. Wenn, wie in deinem Beispiel, Ole, Faschisten McDonalds besetzen, ist das kein Ungehorsam.

Kim: Ich würde sagen, ziviler Ungehorsam ist ein Mittel, eine Form. Mir fallen Aktionen ein, die ich Scheiße finde, die trotzdem Ungehorsam sind — Sachen, die ich überhaupt nicht emanzipatorisch finde. Ich würde zivilen Ungehorsam vor allem an der Verneinung von Gehorsam festmachen. Ungehorsam ist, zu sagen: „Nö, so nicht.“ Ziviler Ungehorsam ist eine Form, die man mit bestimmten Zielen heranziehen kann. Wir wollten in Dresden die Nazis blockieren, aber wir wollten auch unsere Inhalte unterbringen. Wir finden z.B., dass in Dresden ein unglaublicher Geschichtsrevisionismus und Opfermythos vorherrscht. Und das war uns ein Dorn im Auge, dieser Geschichtsrevisionismus der Mitte, der sich wie Kaugummi überall reinlegt. Letzten Endes ging es auch darum, bei Leuten den Gedanken anzustoßen, dass es vielleicht Gründe gibt, warum Nazis nach Dresden kommen. Im Aufruf dieses Jahr gibt es ein klares Bekenntnis zu zivilem Ungehorsam, zum kollektiven Regelübertritt.

Ole:
Für mich würde ziviler Ungehorsam da beginnen, wo man anfängt, den autoritären Charakter der eigenen Persönlichkeit hinter sich zu lassen. Bei Adorno heißt es: „Der Kleinbürger glaubt, wenn er das Radio ausschaltet, habe er dem Diktator das Maul gestopft“. Das ist natürlich der Punkt, wo man sich selbst in seinem autoritären Charakter einfindet. Man tut etwas, aber nur aus einem Ressentiment heraus. Ungehorsam muss darüber hinaus weisen. Das ändert nichts daran, dass es trotzdem um die Form geht und man sich auch reaktionären zivilen Ungehorsam vorstellen kann. Ich finde es im übrigen entpolitisierend, wenn man sagt, ziviler Ungehorsam sei eine genuin linke Form wäre. Man muss immer schauen, was in der historischen Situation möglich ist und mit welcher Perspektive es gemacht wird.

Andrea: So gesehen stimmt das. Als Form ist ziviler Ungehorsam verschieden anwendbar. Andererseits, gegen welche Form von Autorität verstößt denn der Ungehorsam, wenn er reaktionär verwendet wird?

Kim: Es gab Anfang der 1990er Jahre im brandenburgischen Dolgenbrodt BürgerInnen, die Sitzblockaden organisiert haben, um zu verhindern, dass ein AsylbewerberInnenheim eingerichtet wird. Das ist verachtenswert, aber eine Form zivilen Ungehorsams.

pf: Eine andere Frage der politischen Praxis ist die nach Vereinnahmbarkeit. Gerade in Hamburg gibt es ja eine Diskussion darüber, ob auch jede kritische künstlerische Äußerung, nicht schon Stadtmarketing des „kreativen Hamburg“ ist.

Ole: Wir fanden die Vereinnahmung für „kreativen Widerstand“ viel gravierender. Für alles andere war das viel zu unbedeutend und zu sehr in postautonomen Strukturen verankert. Problematischer erscheint mir die andere Seite. Dass man glaubt, nur weil man kreativer oder bunter ist, sei man schon auf der richtigen Seite. Man übersieht damit, dass man sich perfekt in diese postfordistische Kreativitätsökonomie einfügt und Karriere darüber macht, dass man bunte Aktionen organisiert. Aber klar, wie kann man als jemand, der an einer bestimmten Praxis interessiert ist, eine Abweichung leisten, wenn man schon immer in sowas wie Stadtmarketing einbezogen wird? Wir kommen da nicht raus. Sobald wir gute Arbeit machen, kann Hamburg damit für sich werben.

pf: Noch eine ethische Frage: Gibt es Formen zivilen Ungehorsams, die ihr nicht legitim findet oder die ihr aus ethischen Gründen ablehnt?

Andrea: Auf den ersten Blick könnte man meinen, Formen von elektronischem Ungehorsam können nicht so schlimm sein, es sind ja nur Maschinen betroffen. Wenn Server von Großunternehmen down sind, finde ich das nicht sooo schlimm. Wenn man allerdings an den Stuxnet-Virus z.B. denkt, der gegen die Siemens-Software iranischer Atommailer programmiert war, sieht das anders aus. Die Software von Atomkraftwerken lahmzulegen wäre gefährlich und könnte schnell eine ethische Grenze überschreiten. Wenn Menschen zu Schaden kommen, wäre für mich eine Grenze erreicht.

Kim:
Ich finde, es gibt Mittel und es gibt Ziele. Ich denke, man muss bei jeder Aktion überlegen: Was mache ich, wie erreiche ich es und wo sind meine Grenzen?

Ole: Das Interessante bei zivilem Ungehorsam ist doch, dass man versucht, Handlungsfähigkeit zu erreichen, die einen nicht sofort in den Knast bringt — die dem Staat keine Repression ermöglicht. Das war ja auch bei unserer Aktion eine Überlegung. Man kann im Bahnhof tausend Sachen machen, bei denen man abgeführt wird, die Personalien festgestellt werden und fertig. In den 1980er Jahren war ich bei verschiedenen Sachen, wo ich den Eindruck hatte, dass es genau darum ging. Da hat man sich schon immer selbst zum Opfer staatlicher Gewalt gemacht. Man hat ein Haus besetzt, hat gewartet bis die Polizei kommt, hat sich festnehmen lassen. Und wenn dann das Verfahren kam, hat man versucht, den Prozess politisch zu führen. Das kann eine politische Praxis sein. Ich fand es immer interessanter herauszufinden, wo man den Apparat aushebeln kann, wo es eine bestimmte Ohnmacht des Apparats gibt, weil er das, was man tut, nicht erfassen kann. Da würden mir jetzt auch wenig ethische Grenzen einfallen.

pf: Letzte Frage: Was haltet ihr für die gelungendste Aktion zivilen Ungehorsams der letzten 10 Jahre?

Kim:
G8 war super – die Überwindung von Polizeisperren. „Castor schottern“ war toll. Aber die Blockaden in Dresden würde ich auch ganz weit oben einordnen. Was mir noch einfällt: Eine gelungene Form von zivilem Ungehorsam ist, wenn sich Menschen in einem Passagierflugzeug nicht hinsetzen und damit Abschiebungen verhindern.

Andrea: Das stimmt. Von der Naturfreundejugend Berlin fand ich die antinationalen Kampagnen, die viele richtig geärgert haben, sehr gelungen. Pink Rabbit (siehe das Titelbild der 5. Ausgabe vom prager frühling) und Vorrundenaus 2006 zur Fußball-WM der Männer. Ansonsten halte ich noch Schutzehen und andere kreative Umgehungsformen von staatlichem Rassismus für einen wichtigen Bereich des zivilen Ungehorsams. Allerdings ist es auch zynisch, dass Instrumente wie die Ehe, die ein sehr großes Abhängigkeitsverhältnis vor allem für eine illegalisierte Person mit sich bringen, ein Ungehorsamsinstrument sein sollen. Dass es eines der wenigen Mittel ist, sich als Mensch ohne Pass langfristig einer permanenten Entrechtung entziehen zu können, sagt viel über den Zustand der westlichen Freiheit aus.

Ole: G8 ist für mich nicht so interessant, weil das eine klassisch militärische Konfrontation ist. Da finde ich den Castor viel spannender, wo es darum geht: Man hält ihn auf und erhöht den politischen Preis.

pf: Vielen Dank für das Gespräch.

Das Gespräch führte Stefan Gerbing