Der deutsche Staat unterstützt den Angriffskrieg der türkischen Autokratie gegen die Menschen in Afrin
Kommentar
Am 17. Februar 2018 waren 367 Tage türkischer Geiselhaft für Deniz Yücel Geschichte. Endlich!
Ähnlich groß war die Erleichterung, als im Oktober 2017 der Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner (Kurve-Wustrow) und zwei Monate später die Journalistin Meşale Tolu nach monatelanger Haft in der Türkei freigelassen wurden.
Aber auch nach der Entlassung der drei prominenten politischen Gefangenen hat sich die katastrophale Menschenrechtssituation in der Türkei nicht entschärft. Noch am Tag der Freilassung von Deniz machte die türkische Justiz klar, dass sie in erster Linie ein willfähriges Werkzeug des autoritären AKP-Regimes ist. Während Deniz auf freien Fuß gesetzt wurde, wurden gleichzeitig sechs andere JournalistInnen in der Türkei wegen ihrer aufklärerischen Arbeit zu lebenslanger Haft verurteilt, darunter die bekannte Journalistin Nazli Ilicak. Heute sitzen immer noch mindestens 153 JournalistInnen in der Türkei im Gefängnis. Mehr als in jedem anderen Land der Welt. Der langjährige Redakteur der linksliberalen Tageszeitung Cumhuriyet, Can Dünder, und viele andere Intellektuelle und JournalistInnen haben die Türkei mittlerweile verlassen, weil ihnen aufgrund ihrer regimekritischen journalistischen Arbeit die Inhaftierung droht und ihr Leben zudem durch aufgehetzte Fanatiker bedroht wird.
Eine regimekritische Äußerung auf Facebook oder Twitter reicht aus, um Menschen in der Türkei in den Knast zu bringen.
Als die (nicht immer) öffentlichen „Kuscheltreffen“ des deutschen Außenministers Sigmar Gabriel mit seinem türkischen Kollegen Mevlüt Çavuşoğlu den Eindruck erweckten, dass es ein Tauschgeschäft mit den Geiselnehmern geben könnte, stellte Deniz Yücel im Dezember 2017 klar: „Für schmutzige Deals stehe ich nicht zur Verfügung“. Seine Freiheit wolle er nicht „mit Panzergeschäften von Rheinmetall oder dem Treiben irgendwelcher anderer Waffenbrüder befleckt wissen“.
Gabriel betont seitdem immer wieder, es habe keinen Deal gegeben. Dabei sind die Geschäfte der deutschen Biedermänner mit dem türkischen Brandstifter offensichtlich. Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren neben zahlreichen weiteren Waffen auch 400 Leopard-1- und 352 Leopard-2-Panzer an den NATO-Partner Türkei geliefert. Seit dem 20. Januar 2018 werden viele dieser Waffen von der türkischen Armee im völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den kurdischen Kanton Afrin (kurdisch: Efrîn) auf syrischem Staatsgebiet eingesetzt.
Auf dem Wunschzettel, den das türkische Regime dem deutschen Partner öffentlich aufgetischt hat, stehen unter anderem die Nachrüstung der Leopard-2-Panzer mit einem „Hard Kill“-Abwehrsystem, ein Minenschutz für M60-Panzer und die Baugenehmigung für eine Rheinmetall-Panzerfabrik in der Türkei, in der das AKP-Regime dann über 1000 neue türkisch-deutsche Panzer bauen will. Schließlich braucht der Autokrat diese Waffen, um seine öffentliche Ankündigung, die kurdischen Gebiete in Syrien vollständig von den „Terroristen“ zu „säubern“, tatsächlich in die Tat umzusetzen.
Durch die Waffenverkäufe an das türkische Regime ist Deutschland direkt mitverantwortlich für die Kriegsverbrechen, die damit verübt werden.
Es gibt auch andere, bisher in den Medien kaum beleuchtete Aspekte des BRD-Türkei-Deals. Während türkische Faschisten (Graue Wölfe) und vom türkischen Regime aufgehetzte AKP-Fans hierzulande unbehelligt ihre menschenfeindliche Hetze betreiben können, macht der deutsche Staat durch die Kriminalisierung von kurdischen Vereinen und Symbolen unmissverständlich klar, auf welcher Seite des türkisch-kurdischen Konflikts er steht.
Als Anarchist finde ich jede Form von Personenkult absurd und lächerlich. Warum aber dürfen die Fahnen mit dem Konterfei des Kriegsverbrechers Erdoğan hierzulande überall herumgeschwenkt werden, während das Konterfei des PKK-Gurus Abdullah Öcalan der Polizei regelmäßig als Vorwand dafür dient, um Demonstrationen gegen die verbrecherische Politik der Türkei zu kriminalisieren?
Welch groteske Züge diese Form von „Erdoğanisierung“ der deutschen Innenpolitik mittlerweile angenommen haben, zeigen die Geschehnisse, die sich gerade im Wendland abgespielt haben. Meuchefitz im Landkreis Lüchow-Dannenberg ist ein bekannter Gasthof und ein Tagungshaus aus der Anti-Atom-Bewegung. Am 20. Februar 2018 überfielen 80 vermummte und mit Maschinenpistolen ausgestattete PolizistInnen das selbstverwaltete Projekt, durchsuchten das Gebäude und nahmen von allen Anwesenden die Personalien auf. Die Staatsanwaltschaft Lüneburg leitete ein Strafverfahren nach § 129 a StGB „Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“ ein. Als Anlass für den Polizeiüberfall diente ein (bei der Razzia beschlagnahmtes) Transparent, auf dem folgendes zu lesen war: „Afrin, halte durch! Türkische Truppen & Deutsche Waffen morden in Rojava! Es lebe die YPJ/YPG!“
Die YPJ und YPJ sind die Militäreinheiten der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) in Syrien. Mit Unterstützung der USA haben sie die islamistische Terrororganisation IS weitgehend zurückgedrängt und sich am Aufbau einer basisdemokratischen Gesellschaftsordnung in Rojava beteiligt.
Nach Ansicht der Lüneburger Staatsanwaltschaft (und der AKP) sind die beiden Organisationen YPJ und YPG „unselbstständige Teilorganisationen“ der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und somit selbst von dem Verbot erfasst.
Der deutsche Staat unterstützt das Krieg führende AKP-Regime also nicht nur durch Waffenlieferungen, sondern auch durch die Kriminalisierung von Menschen, die sich gegen deutsche Waffenlieferungen und türkische Kriegsverbrechen engagieren. Finstere Zeiten für die Meinungsfreiheit und andere Menschenrechte – auch in Deutschland.
Bernd Drücke
Literaturtipp:
Sehr lesenswert sind die Bücher von Deniz Yücel: Taksim ist überall (2017) und Wir sind ja nicht zum Spaß hier (2018), beide erschienen in der Edition Nautilus Hamburg.
Videotipps:
MünsterTube-Filme mit Bernd Drücke zur Freilassung von Deniz Yücel, Februar 2018: https://www.youtube.com/watch?v=94YMg9V6HG8
und zur Lage in Afrin: https://www.youtube.com/watch?v=94YMg9V6HG8
Radio-Interview:
Radio Q-Interview mit Bernd Drücke zum FreeDeniz-Fahradkorso, Februar 2018: https://www.radioq.de/FreeDenizMuenster
Zum Thema siehe auch: Erdoğans Krieg in Afrin – Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Artikel von Bernd Drücke, in: GWR 427, März 2018, Seite 3
Kommentar aus: Graswurzelrevolution Nr. 427, März 2018, www.graswurzel.net