Politische Ökonomie des Minuszinskapitalismus
Die heute vorherrschende wirtschaftswissenschaftliche Lehre, Forschung und vor allem Beratung ist durch einen tiefen Widerspruch gekennzeichnet. Im Mittelpunkt dieser "Mainstream Economics" steht der Marktfundamentalismus. Märkte seien durch die endogen wirkende Selbststeuerung in der Lage, das optimale Gleichgewicht der Gesamtwirtschaft zu erreichen. Bedingung dafür ist, dass sich die Preise durch Angebot und Nachfrage bilden und darüber das markträumende Gleichgewicht erreicht wird. Die trostlose Figur des "Homo oeconomicus" steht mikroökonomisch hinter dem makroökonomischen Gleichgewichtsglauben. Die gesamtwirtschaftlichen Konsequenzen sind jedoch verheerend.
Empirisch und theoretisch ist immer wieder gezeigt worden, dass dieser neoklassische Fundamentalismus eher zur Ideologie als zur Diagnose der großen ökonomischen Herausforderungen tendiert. Darüber können die hoch komplexen Modelle der Gleichgewichtsökonomik nicht hinwegtäuschen. Hier einige wenige Beispiele: Auf dem Arbeitsmarkt wird die systemische Abhängigkeit der Beschäftigten vom Arbeitsplatz bei der Lohnfindung verdrängt. Beim öffentlichen Sektor als Voraussetzung funktionierender Märkte wird immer wieder versucht, diesen über Marktmodelle zu entmachten. Gesamtwirtschaftliche Irrationalität in Form von Krisen als Folge einzelwirtschaftlicher Rationalität wird nicht erfasst. Soziale Ungerechtigkeiten, die durch vermachtete Märkte entstehen, entziehen sich der neoklassischen Sicht. Abenteuerliche Effizienzmodelle vernebeln die durch den Herdentrieb erzeugte Instabilität der Finanzmärkte. Während die an sich durch einzelwirtschaftliche Profitabilität erzeugten Umweltprobleme nicht vorkommen, werden allerdings unter dem Druck der realen Umweltkrise widerwillig reduzierte Modelle der Verpreisung von Umweltschäden diskutiert.
Gegen diese vorherrschende, neoklassisch fundierte Orthodoxie stemmen sich kritische Ansätze. Die bunte Welt unterschiedlicher alternativer Sichten wird unter dem Stichwort "heterodoxe Ökonomik" zusammengefasst. Die Rede ist auch von der um Anerkennung werbenden "pluralen Ökonomik". Die Überlegenheit vieler dieser Alternativen gegenüber der marktfixierten Orthodoxie ist nachweisbar. Zur Heterodoxie gehört auch marxsche Politische Ökonomie mit dem Ziel der "Anatomie der kapitalistischen Bewertungsgesetze". Aber auch die Analyse der Triebkräfte und zerstörerischen Folgen des Spekulationskapitalismus, die J.M. Keynes entwickelt hat, werden durch die neoklassisch dominierte Mehrheitsökonomik vor allem in der Lehre nicht berücksichtigt.
Mit diesem Beitrag wird versucht, die derzeitige Geldpolitik der Europäischen Zentralbank auf der Basis der Dominanz der hoch spekulativen Finanzmärkte zu bewerten, die die produzierende Unternehmenswirtschaft, die sog. Realwirtschaft, beherrschen. Heterodoxe, also alternative Theoriebildung ist allein schon deshalb unvermeidbar, weil die heutige Geldpolitik bei der massiven Überschussliquidität die ausbleibende Inflation nicht erklären kann. Im Widerspruch zum eigenen Theorem der optimalen Marktpreisbildung wird der Eindruck suggeriert, die Notenbank hätte die Aufgabe und Macht, Zinssätze auf den Finanzmärkten zu gestalten.
EZB-Geldpolitik: Nullzinsen, Minuszinsen, Niedrigzinsen
Der Europäische Zentralbankrat hat vor der Sommerpause alle Spekulationen auf eine Zinswende beendet. Es bleibt erst einmal bei den zuvor geltenden geldpolitischen Beschlüssen. Selbst eine Verschiebung der Zinswende über Ende 2020 hinaus ist recht realistisch. Diese immer wieder revidierten Ankündigungen wirken eher als Beruhigungspille gegen die Anti-EZB-Stimmung. Die EZB-Kausalität ist klar: Es bleibt so lange bei der Überflutung mit billigem Geld, solange die Wirtschaft, wie es im Originalton der EZB heißt, "günstige Liquiditätsbedingungen" zur Stärkung der unternehmerischen Nachfrage braucht. Dabei ist derzeit der Pessimismus über die wirtschaftliche Entwicklung so groß, dass die geldpolitischen Auguren nach der Sommerpause des EZB-Rates mit einer "neuen Welle monetärer Lockerung" kalkulieren. Die EZB dient dem Ziel, "eine fortgesetzte nachhaltige Annäherung der Inflation an ein Niveau von unter, aber nahezu 2 Prozent auf mittlere Sicht sicherzustellen". Bei einer erwarteten Inflationsrate von 1,4 Prozent als Folge einer schwachen Konjunktur und unzureichender Sachinvestitionen ist über dieses Jahr hinaus mit einem Wachstumsschub nicht zu rechnen.
Hier ein kurzer Überblick über die aktuell genutzten geldpolitischen Instrumente:
- Die Banken profitieren weiterhin von dem seit März 2016 geltenden Leitzins mit null Prozent, zu dem sie sich Geld bei der EZB leihen. Sollte die bisherige Geldleihe zum Nullzins von den Banken weiterhin nicht zur Vergabe von Unternehmenskrediten genutzt werden, ist durchaus ein nominaler Minuszins aus der Sicht der Banken denkbar. Dann erhalten sie eine Prämie etwa von 1 Prozent, wenn diese sich bei der EZB Geld leihen.
- Dagegen belegt die EZB die Banken, die ihre Liquidität, anstatt zu investieren, dort parken, mit einem Strafzins. Allein im letzten Jahr haben die Banken nach Angaben des Bundesfinanzministeriums 2,3 Mrd. € an Strafzahlungen aufbringen müssen. Davon betroffen sind vor allem kleine und mittelgroße Kreditinstitute. Es gibt ernstzunehmende Hinweise, dass dieser Strafzins von 0,4 auf 0,5 Prozent mit einer Mehrbelastung von 600 Mio. € bei den deutschen Banken erhöht werden soll. Zum Schutz der von der Niedrigzinspolitik besonders hart betroffenen Kleinbanken, Spar- und Volksbanken wird eine Staffelung durch zinslose Freibeträge je nach Institutsgröße von den Bankenverbänden gefordert. Betrüge der Freibetrag das Zehnfache des Mindestreservesolls, so würden nach einer Berechnung des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes die Banken um jährlich 4,6 Mrd. € im Euroland entlastet. Eine Staffelung der Einlagenzinsen der Banken bei der Notenbank ist zum Schutze dieser Banken im Bereich der Zinsgeschäfte zu empfehlen.
- Zwar ist das Programm zum Aufkauf von weiteren Vermögenswerten, das den Banken Liquidität zuführt, mit dem Volumen von über 2,6 Bio. € (Stand Juni 2019) Ende 2019 gestoppt worden. In diesem Bestand stecken maßgeblich bisherige Käufe von Staatsanleihen aus den Eurostaaten sowie von Unternehmensanleihen wie etwa Daimler AG, Nestlé, Deutsche Bahn, Vovonia oder Anheuer-Busch InBev. Allerdings werden die Anleihen aus dem Bestand, die in der kommenden Zeit fällig werden, "wieder voll umfänglich angelegt". Die Erlöse aus der Tilgung werden also erneut zum Ankauf von Vermögenswerten bei den Banken genutzt. Beim Bundesverfassungsgericht wird seit Anfang Juli 2019 nach der zurückgewiesenen Klage vor dem EuGH verhandelt. Es geht um das Ankaufprogramm vom Staat aufgelegter Wertpapiere (Public Sector Asset Purchase Programme, PSPP). Am Ende wird das Bundesverfassungsgericht wohl nicht auf Konfrontationskurs mit dem EuGH gehen und eine europäische Verfassungskrise vermeiden.
Expansive Billiggeldpolitik: Motive, Zielverfehlungen und Nebenwirkungen
Da die Zeichen auf Intensivierung der billigen Geldvermehrung für die Banken stehen, stellen sich Fragen: Was sind die Motive, wo liegen die Ursachen der unzureichenden Erfolge und lassen sich Kollateralschäden vermeiden? Kein Verständnis haben Deutschlands Sparerinnen und Sparer für die Bagatell-Zinsen. Die Wut der mehr als 57 Millionen Betroffenen über die Zins- und Vermögensverluste ist groß. So macht auch die "Verschwörungstheorie" von der gezielten Enteignung die Runde. Welche Machtgruppen sich auf was auch immer verschwören sollen, es bleibt der Vorwurf: Während die Spareinlagen zu realen Vermögensverlusten führen, profitiere der Staat von den Zinsersparnissen auf seine Schulden. In der Tat, bei den Spareinlagen liegen die Zinssätze nur noch knapp über null Prozent. Ein Zinssatz von nominal 0,3 Prozent lässt bei einer Inflationsrate von 1,7 Prozent im letzten Jahr die reale Kaufkraft des Sparvermögens um 1,4 Prozent schrumpfen. Die Kombination minimaler Nominalzins bei negativem Realzins wird als "finanzielle Repression" gegeißelt, Geldvermögen verdampft also. 1
Staatsanleihen: Minusgeschäft für Anleger
Die Flucht in den sicheren Hafen mit Staatsanleihen lohnt auch nicht mehr. Seit Anfang August liegen die Renditen für alle Typen an Bundesanleihen im Minusbereich. 10-jährige Bundesanleihen bringen über einen "Strafzins" zwischen 0,4 und 0,5 Prozent vor allem den öffentlichen Schuldnern Gewinne. Auch die 30-jährigen Bundesanleihen liegen leicht im Minus. Dafür gibt es eine doppelte Ursache: Einerseits steigt wegen der wirtschaftlichen Abschwächung bis hin zu Rezessionsängsten die Nachfrage nach Bundesanleihen, die die Kurse nach oben treibt. Andererseits verknappt der Staat auf dem Weg zu Nullverschuldung das Angebot an Bundesanleihen.
Aktien zu riskant, Immobilienmarkt kaum nutzbar
Wer schließlich auf spekulativ getriebene Aktienwerte oder andere risikohohe Alternativanlagen ausweicht, der muss wissen, dass der Kursexplosion schnell ein tiefer Fall folgen kann. Der Aktienindex der 30 DAX-Unternehmen ist über Jahre viel schneller als die reale Wirtschaftskraft gestiegen.2 Diese relative Entkoppelung ist auf massive Spekulationen zurückzuführen. Dabei hat die EZB mit ihrer Geldflutung selbst dazu beigetragen, dass sich die Aktienkurse in dieser Nullzinslandschaft von der realen Wirtschaft wegentwickelt haben. Wer mit seinen Ersparnissen zur Vorsorge für die Zukunft planen muss, dem ist das Risiko des spekulativen Handels mit Aktien ökonomisch nicht zuzumuten.
Gesetzliches Rentensystem von den Finanzmärkten entkoppeln
Die unbestreitbar negativen Auswirkungen der Niedrigzinspolitik vor allem bei denen, die für das Alter derzeit auf die Vermögensbildung angewiesen sind, lässt nur diesen Schluss zu: Die die Existenz sichernde Vorsorge im Alter darf nicht von den Finanzmärkten abhängig gemacht werden. Wird die gesetzliche Grundsicherung ohne den Zwang zur privaten Kapitalvorsorge wiederhergestellt, dann minimieren sich die derzeitigen Kollateralschäden der Geldpolitik auf die vom Sparen Abhängigen. Die Geldpolitik gewinnt dadurch ihren makroökonomisch auszuschöpfenden Spielraum wieder zurück.
Einzelwirtschaftlicher Frust und gesamtwirtschaftliche Rationalität
Was Sparerinnen und Sparer einzelwirtschaftlich-individuell als irrational wahrnehmen, ist gesamtwirtlich höchst rational. Die Notenbank verfolgt das richtige Ziel, ihren monetären Beitrag zur Stabilisierung des Eurosystems und seiner gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zu leisten. Ist diese Politik erfolgreich, profitieren auch die vordergründig belasteten Sparerinnen und Sparer. Denn würde die Wirtschaft durch eine restriktive Geldpolitik, die wieder zu höheren Zinssätzen führen soll, in die Knie gezwungen, dann gingen Jobs verloren, die Lohneinkommen würden sinken und die steigende Inflation die Kaufkraft reduzieren.
Zur rationalen Aufklärung der Sparerinnen und Sparer gehört die Angabe: Der Zins kommt nicht "vom Amt" (EZB im Euroland), sondern wird originär durch die vermachteten Finanzmärkte bestimmt. Die Notenbank ist eher Getriebene der fundamentalen Krisenkräfte als Verursacherin. Der Politik und den Bankern fehlt der Mut, zu erklären, dass die niedrigen Zinsen auch eine Folge des gesamtwirtschaftlichen Übersparens gegenüber den Sachinvestitionen sind - allerdings nicht mehr nur durch die privaten Haushalte, sondern auch durch die Unternehmenswirtschaft und den Staat mit seinen Überschüssen.
Warum Zielinflationsrate "nahezu an, aber unter 2 Prozent"?
Im Mittelpunkt steht heute die durch die EZB präzisierte Zielmarke "nahezu an, aber unter 2 Prozent". Eine maximal zulässige Inflationsrate galt im Prinzip auch schon zu Zeiten der Deutschen Bundesbank im Rahmen ihres Konzepts der Geldmengensteuerung für Wirtschaftswachstum bei Inflationsvermeidung. Wie lässt sich diese Maximalmarke makroökonomisch begründen? Würde die Geldpolitik auf die Nullinflation abzielen, dann würde diese konjunkturunabhängige Inflation nicht ausgeschöpft. Das Abrutschen der Wirtschaft in eine Deflation wäre eine realistische Gefahr. Preissenkungen und nachfolgende, einbrechende Gewinne auf breiter Front wären die Folge. Die Wirtschaft braucht diese klein gehaltene Preissteigerungsrate als "Schmiermittel" der Konjunktur. Die Anpassung relativer Preise würde ohne diesen Stoßdämpfer erschwert und die Stabilitätspolitik wäre durch sich schnell verstärkende kurzfristige Schocks weniger handlungsfähig. Dennoch stellt sich die Frage, ob bei der sich abzeichnenden wirtschaftlichen Stagnationstendenz die Zielrate zu niedrig angesetzt ist. Mitarbeiter der EZB analysieren derzeit informell die Frage, ob das gegenwärtige Ziel eines Anstiegs der Verbraucherpreise von "unter, aber nahe zwei Prozent" für die Nachkrisenära weiterhin angemessen sei. Nachdem viele Jahre die Inflationsrate deutlich unterhalb der derzeitigen Obergrenze lag, kann unter Vermeidung sich verstärkender Inflationserwartungen eine Weile das Inflationsziel auch über 2 Prozent liegen. Mit diesem Tabubruch soll die geldpolitische Zielmarke im Durchschnitt über eine längere Periode realisiert werden.
Die Steuerung am Zielkriterium Inflationsrate folgt derzeit noch der Funktionsweise: Steigt die Inflation über die Zielrate von knapp unter zwei Prozent, dann gilt dies als Folge eines Überhangs der Nachfrage gegenüber den Produktionskapazitäten. In diesem Fall wird geldpolitisch mit der Verknappung sowie Verteuerung des Zentralbankgeldes für die Banken reagiert. Dagegen signalisiert eine Inflationsrate unterhalb der Zielmarke als Folge unzureichender Nachfrageerwartungen eine lahmende Wirtschaft. Derzeit ist immer noch die Sorge der EZB groß, es könnte eher zur Deflation statt Inflation kommen. Dieser Verfall der Preise auf breiter Front wäre Gift für die Unternehmensgewinne mit der Folge einer Wirtschaftskrise. Interessant ist, bei der Kritik der EZB-Politik wird kaum auf den provokanten Widerspruch zur monetaristischen Theorie hingewiesen: Der Überschuss an billigem Geld müsste nach den Monetaristen zu einer galoppierenden Inflation führen. Inflationsgefahren sind jedoch nicht mal am Horizont auch einer besser laufenden Konjunktur zu erkennen. Im Gegenteil, die Wirtschaft entwickelt sich eher im Bereich wirtschaftlicher Stagnation nahezu im Umfeld einer Nullinflation. Ein Grund liegt in der relativen Abkoppelung der übermächtigen Finanzmärkte von der Realwirtschaft. Die geldpolitische Vorsorge mit Liquidität findet nur schwer den erhofften Weg in einen monetären Nachfrageschub. Auch wegen unzureichender Renditeerwartungen für Sachinvestitionen landet das Geld auf den Finanzmärkten und treibt diese spekulativ an.
Die EZB versucht mit geldpolitischen Mitteln, die Liquidität der realen Investitionswirtschaft zu verbessern. Unübersehbar: die billige Liquidität ist da. Allerdings saufen die Pferde an der monetär prallvollen Tränke zu wenig. Anstatt in Sachinvestitionen landen große Teile der Überschussliquidität auf den spekulativ angetriebenen Immobilien- und Aktienmärkten.
Notenbankpolitik in der Nähe des Helikoptergeldes
Aus lauter Verzweiflung über die derzeit nicht zielwirksame Geldüberflutung wird schon mal an die Idee des "Helikoptergeldes" erinnert. (Milton Friedman 1969, John Maynard Keynes) Wenn über Kreditvergabe durch die Banken die gewollte Geldvermehrung bei der Wirtschaft nicht ankommt, dann soll die Zentralbank gedrucktes Geld direkt an die Konsumentinnen und Konsumenten verteilen. Diese Aufgabe übernehmen nach Milton Friedman Helikopter, die Bargeld über den Gemeinden abwerfen. Im Dezember 1999 hatte der damalige US-Notenbankpräsident Ben Bernanke dem Deflationsland Japan eine vergleichbare Idee unterbreitet. O-Ton Bernanke zu der durch die EZB verfolgten Absicht, die Zielinflationsrate von knapp unter 2 Prozent zu erreichen: "Ich denke, dass die meisten Ökonomen zustimmen würden, dass ein Helikopterabwurf von Geld, der groß genug wäre, das Preisniveau auf jeden Fall erhöht."
Ungerechte Verteilungswirkungen der Geldpolitik
Während die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft die Frage der Verteilungswirkungen systematisch nicht thematisiert, steht diese Frage im Zentrum der heterodoxen Ökonomik. Die Verteilungswirkungen der vorherrschenden Geldpolitik sind: Sparerinnen und Sparer ohne großen Kapitalbesitz werden ärmer, während die Schuldner von den Niedrigzinsen, vor allem auch der Staat mit seinen Schuldenbeständen, profitieren. Es findet also eine Umverteilung durch Zinsverluste der Gläubiger einerseits und Zinsersparnisse der Schuldner andererseits statt.
Nach Angaben der Deutschen Bundesbank lassen sich die Zinsersparnisse des Bundes, der Länder und Kommunen seit dem letzten Jahr vor dem Ausbruch der Finanzmarktkrise auf fast 370 Mrd. € (2018 allein 55 Mrd. €) hochrechnen. Diese Schätzung basiert auf der Tatsache, dass die durchschnittliche Zinsrate für staatliche Kredite von 4,2 Prozent 2007 auf 1,5 Prozent im letzten Jahr gesunken ist.3
Vor allem die kleinen und mittleren Banken sowie die Sparkassen und Genossenschaften gehören zu den besonders großen Verlierern der EBZ-Politik mit Null- und Minuszinsen. Betroffen sind vor allem die Zinsgeschäfte und der für das operative Ergebnis der Banken hoch relevante Überschuss aus den Zinszahlungen auf die Einlagen gegenüber den Zinserträgen aus Kreditgeschäften (Zinsmarge).
Dagegen belegt eine Rechnung der DZ-Bank: Bei den privaten Haushalten addieren sich in den Jahren 2008 bis 2018 die realen Zinseinbußen aus Spareinlagen, Rentenpapieren und Versicherungen gegenüber dem "Normalzinsniveau" auf netto 358 Milliarden Euro (die Zinsersparnisse aus zinsgünstigeren Krediten abgezogen).
Politisch-ökonomische Überwindung des geldpolitischen Versagens
Eine expansive Geldpolitik ist angesichts der viel zu niedrigen Inflation und der Gefahr, wegen anhaltender Nachfrageschwäche in eine Deflation umzuschlagen, unverzichtbar. Es geht darum, einerseits ihre Wirksamkeit herzustellen und andererseits die schädlichen Nebenwirkungen zu minimieren. Dies begreift die neoklassische "Mainstream Economics" mit ihrer Fixierung auf sich selbst stabilisierende Märkte nicht. Der Grund für die Erfolglosigkeit liegt nicht im Konzept der Geldpolitik, denn das ist angemessen. Vielmehr ist die auf sich allein gestellte, monetäre Expansion komplett überfordert, die Sachinvestitionen durch verstärkte Kreditaufnahme in der Realwirtschaft anzukurbeln. Genau darauf zielt die mehrfach wiederholte Forderung nach einer ergänzenden aktiven Finanzpolitik durch Mario Draghi, auch bei der letzten EZB-Ratssitzung am 25. Juli 2019: Mit der Unterstützung durch die Finanzpolitik der Euroländer und der gesamten EU "kann die Geldpolitik mit weniger Nebenwirkungen und schneller ihr Ziel erreichen." Der Chef der "Allianz Global Investors" bei der ALLIANZ SE unterstützt die EZB-Politik zutreffend: "Bisher haben die Notenbanker und Politiker nebeneinander gearbeitet, nicht miteinander. Lockere Geldpolitik stand gegen restriktive Haushalte, gerade in Deutschland. Im Nachhinein wurde zu wenig Geld investiert… US-Ökonomen wie Paul Krugman fordern seit langer Zeit die Deutschen auf: Macht mehr Schulden! Wir waren dagegen, weil wir die Prinzipien des ehrbaren Kaufmanns hochhalten. Ehrbarer Kaufmann kann bleiben …" - gerade auch mit einem verantwortungsvollen, schuldenfinanzierten Infrastrukturprogramm.
Die expansive Geldpolitik schafft es nur, der Zinsfalle zu entrinnen, wenn sie durch eine aktive Finanzpolitik mit Infrastrukturprogrammen sowie weiteren Maßnahmen zur Stärkung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage auch durch eine expansive Lohnpolitik unterstützt wird. Die neue EU-Kommissarin von der Leyen ist gut beraten, die Geldpolitik der künftigen EZB-Präsidentin Lagarde durch die Flexibilisierung der viel zu engen Schuldenregeln und ein EU-Infrastrukturprogramm zu unterstützen: mit ökologisch und sozial nachhaltigen Projekten für eine starke Wirtschaftsentwicklung auch zugunsten der Sparerinnen und Sparer durch höhere Zinsen. Schließlich hat es die "Große Koalition" mit ihrem Bundesfinanzminister in der Hand, eine expansive Finanzpolitik zugunsten der Konjunktur und der nachhaltigen Entwicklung einzuleiten. Die Schuldenbremse ist die Ursache für eine doppelte Fehlentwicklung: Durch den Verzicht auf die Kreditaufnahme für öffentliche Investitionen werden einerseits zukunftsrelevante Infrastrukturinvestitionen in die Reparatur und Erneuerung vernachlässigt. Andererseits treibt der Staat die Renditen für Staatsanleihen damit in den Minusbereich. Gegenüber einer enorm wachsenden Nachfrage nach den als sicher geltenden Bundesanleihen wird mit der Schuldenbremse das Angebot dieses Finanzierungsinstruments reduziert. Daher ist es dringend geboten, die Bereitschaft, Anleihen zur Finanzierung sinnvoller öffentlicher Projekte zu zeichnen, auch zu forcieren. Schließlich zahlt der Staat keine Zinsen, sondern erzielt auch noch Zinseinnahmen. Es gibt kein rationales Argument, sondern nur fundierte Kritik an dieser Politik der Verweigerung öffentlicher Finanzierung für an sich bereitwillige Kreditgeber.
Mit einer kreditfinanzierten Investitionsoffensive allein lässt sich jedoch nicht das [i]Übersparen[/i], also die gigantische Lücke zwischen dem viel zu hohen Sparen und den zu geringen Sachinvestitionen, abbauen. Die alte Lehrbuchweisheit von den Unternehmen, die die Ersparnisse der privaten Haushalte für die Finanzierung produktiver Investitionen abschöpfen, stimmt schon lange nicht mehr. Der Anteil des erwirtschafteten Einkommens, das nicht direkt volkswirtschaftlich verausgabt, sondern stattdessen zum Sparen eingesetzt wird, nimmt auch forciert durch die Expansion der deregulierten Finanzmärkte seit Mitte der 1980er Jahre deutlich zu. Während die Sparvermögensbildung der privaten Haushalte 2017 mit 196 Mrd. € gestiegen ist, fallen die Sachinvestitionen dahinter auch wegen der erwarteten stagnativen Grundtendenz niedriger aus. Dazu beigetragen haben nicht mehr nur die privaten Haushalte, sondern auch die produzierenden Unternehmen außerhalb der Institutionen des Finanzsektors. Diese Unternehmen sind in ihrer Gesamtheit selbst Sparer geworden. Dazu kommt seit 2014 auch noch der Staat, der, anstatt kreditfinanzierte Ausgaben zu tätigen, seine Überschüsse den Finanzmärkten als Vermögensanleger zur Verfügung stellt. Fazit: Die Geldanlagen von Staat und Unternehmen übersteigen bedrohlich die Kreditaufnahme. Zwangsläufige Folge sind die negativen Zinsen, also die Preise, die das Übersparen mit der unzureichenden Kreditnachfrage irgendwie ins Gleichgewicht zu bringen versuchen und damit zur "neuen Normalität" geworden sind. Die Determinanten des Übersparens lassen sich anhand der Finanzierungssalden der drei wichtigsten Sektoren der inländischen Wirtschaft spezifizieren: Die privaten Haushalte erhöhen jährlich ihr Sparvermögen. Nach Angaben der Deutschen Bundesbank betrug der Finanzierungsüberschuss - Differenz aus der Sachvermögensbildung und dem Sparen bei den privaten Haushalten - 2017 insgesamt 165,4 Mrd. €. Dagegen werden schon seit Jahren in Deutschland die Sparüberschüsse durch die anderen inländischen Sektoren nicht mehr abgeschöpft. So produzierte der Staat 2017 einen Finanzierungsüberschuss von 38,2 Mrd. €. Schließlich erzeugen auch die produzierenden Unternehmen (nichtfinanzielle Kapitalgesellschaften) einen positiven Finanzierungssaldo (2017: 74,4 Mrd. €) Gesamtwirtschaftlich fehlt es durch das Übersparen gegenüber den Sachinvestitionen an effektiver Nachfrage für die Realwirtschaft. Auch deshalb verweilt die Inflationsrate unterhalb der Zielnorm von "nahezu an, aber unter 2 Prozent". Aus dieser saldenmechanischen Betrachtung ergeben sich drei Ansätze, das Übersparen gegenüber den Sachinvestitionen abzubauen: Zum einen weiten Staat und Unternehmen ihre kreditfinanzierten Sachinvestitionen aus. Zum anderen sind die Hauptquelle des Übersparens die privaten Haushalte mit der massiven Vermögenskonzentration. Gegen die heute stagnative Grundtendenz ist die Vermögensungleichverteilung, durch die Einkommen zur Finanzierung des Massenkonsums und staatlicher Ausgaben fehlen, zu reduzieren. Die wirtschaftliche Entwicklung wird erst stark und damit die Niedrigzinspolitik überflüssig, wenn das Übersparen gegenüber den realen volkswirtschaftlichen Ausgaben abgebaut wird. Dazu dienen einerseits steigende private und öffentliche Investitionen. Andererseits dämpft eine gerechtere Einkommens- und Vermögensverteilung das Sparen auf den Finanzmärkten.
Dieser heterodoxe Ansatz, bei dem Erkenntnisse der marxschen politischen Ökonomie und der keynesschen makroökonomischen Analyse des instabilen Finanzmarktkapitalismus zusammengeführt werden, offenbart die systematischen Schwächen einer sich eher zur Ideologie eignenden, marktfundamentalistischen "Mainstream Economics".
Anmerkungen
1) An der Zahl der Jahre, die es bei gegebenem Zinssatz braucht, um sein Sparbuchguthaben zu verdoppeln, zeigt von einer anderen Seite des Sparers Elend. Im Sommer 2008 verdoppelte sich das Sparguthaben bei einem Zinssatz von 2% nach 35 Jahren. Dagegen sind es im Sommer 2019 bei einem Zinssatz von 0,01% insgesamt 6.932 Jahre. Im Winter 2012/13 waren es bei 0,5% nur 139 Jahre. Dabei ist ein Ende der Zinsschmelze in den nächsten Jahren nicht in Sicht.
2) 1995 bis 2015 stieg der DAX-Index von 100 auf 310 und das reale Bruttoinlandsprodukt auf nur 200.
3) Anfang August dieses Jahres zahlen die Anleger für eine zehnjährige Bundesanleihe mit derzeit 0,4 Prozent drauf. Dadurch muss der Bund nach zehn Jahren für 1 € Anleihe nur 96 Cent zurückzahlen. Das ist der Preis, den Anleihekäufer für den "sicheren Hafen", den der Bund in unsicheren Zeiten bietet, zu zahlen bereit ist.
Rudolf Hickel, Prof. Dr., war Hochschullehrer für Finanzwissenschaft an der Uni Bremen und von 2001 bis 2009 Direktor des Instituts Arbeit und Wirtschaft (IAW). Er ist Gründungsmitglied der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Inhaltliche Schwerpunkte sind: eine erklärungsrelevante Geldtheorie, Analyse des Marktversagens und Kritik der neoklassich-monetaristischen Reduktionsökonomik.