Mit Robin Hood aus der Krise

Wie schnell der Wind sich doch drehen kann: Noch in ihrem jüngsten Frühjahrsgutachten hatten die beteiligten Wirtschaftsinstitute trotz eines Wachstumsrückgangs gegenüber dem letzten Jahr von 1,8 auf 1,4 Prozent einen sehr robusten Aufschwung für das kommende Jahr vorausgesagt. Doch dieser Konjunkturoptimismus ist mittlerweile massiven Abschwungsängsten gewichen. Das Ifo-Institut aus München bezeichnet die Auftragseingänge der Unternehmen, die seit drei Monaten rückläufig sind, gar als „grottenschlecht“.

Tatsächlich ist das Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal dieses Jahres erstmals wieder seit knapp vier Jahren preis- und saisonbereinigt um einen halben Prozentpunkt gesunken. Die Wachstumskurve zeigt also eindeutig nach unten. Wie aber lässt sich dieser plötzliche Umschwung in einen deutlichen Abwärtstrend erklären?

Zwei Ursachenbündel sind bei der Antwort auf diese Frage zu unterscheiden: Drei eher exogene Belastungen treffen auf zwei länger angelegte interne Ursachen, nämlich eine an Kraft verlierende Exportwirtschaft, während die Binnenwirtschaft die konjunkturelle Führungsrolle nach wie vor nicht übernehmen kann.

 

Dollar im Fall, Öl im Anstieg

Drei primär exogene Belastungen hat die deutsche Wirtschaft derzeit zu verarbeiten:

Erstens die anhaltende Stärke des Euro bei gleichzeitiger Schwäche des Dollar. Zwar ist der Euro-Außenwert gegenüber dem US-Dollar von seinem Höhepunkt von rund 1,60 Dollar für einen Euro inzwischen zurückgegangen, mit einem nachhaltigen Comeback des Greenbacks ist aber dennoch nicht zu rechnen. Denn die fundamentalen Gründe für den schwachen US-Dollar sind ja nicht gleichsam über Nacht verschwunden.

Hinzu kommt, dass die konjunkturelle Schwäche in „Euroland“ hypersensibel an den Devisenbörsen registriert wird. Mittelfristig muss weiterhin mit einem hohen Wechselkurs gerechnet werden, der direkt und indirekt zu Erlöseinbußen bei der deutschen Exportwirtschaft führt. Und die Vorteile gleichzeitig billiger gewordener Importe können die Nachteile gesamtwirtschaftlich nicht aufwiegen.

Zweitens: Die gesamte Weltwirtschaft ächzt unter dem gewaltig nach oben geschnellten Preis für ein Barrel Öl. Da vor allem die einkommensschwachen Haushalte mit den aus den allgemein steigenden Preisen resultierenden Kaufkraftverlusten fertig werden müssen, wird dadurch insbesondere die Produktionswirtschaft belastet. Und eine nachhaltige Verbesserung der Lage ist nicht in Sicht: Gegenüber dem Höchstwert von knapp 150 US-Dollar für das Fass (159 Liter) von Anfang August 2008 wird der Ölpreis nicht mehr nachhaltig sinken, sondern im Gegenteil mit zunehmender Knappheit (peak oil) weiter ansteigen. (Der kurzfristige Preisrückgang erklärt sich vor allem durch den zeitweiligen Rückzug der Spekulanten.)

Drittens schließlich hinterlässt die vor genau einem Jahr ausgebrochene Finanzmarktkrise weiter tiefe Spuren in der Produktionswirtschaft. Insbesondere kleinere und mittlere Unter-nehmen kommen dadurch noch schwerer als früher an zum Teil überlebensnotwendige Kredite.

Diese drei stark exogenen Belastungen treffen auf eine veränderte Konstellation der deutschen Gesamtwirtschaft. Über viele Jahre stand einer, bedingt durch die private Konsumnachfrage, eher schwachen Binnenwirtschaft eine expandierende Außenwirtschaft gegenüber. Jetzt aber schwächelt auch die Exportwirtschaft. Von einem – allerdings nach wie vor hohen Niveau aus – sinkt der Zuwachs an Aufträgen aus dem Ausland.

Dieser Rückgang hat jedoch nichts mit einem Verlust der internationalen Konkurrenzfähigkeit zu tun. Untergangspropheten, die jetzt erneut auftauchen und den ökonomischen Niedergang beschwören, sind deshalb unseriös. Die rückläufige Nachfrage aus dem Ausland geht vielmehr auf den allgemeinen Einbruch der Weltkonjunktur zurück – angetrieben durch die anhaltende Krise in den USA. Hinzu kommen rückläufige Auslandsbestellungen aus den westeuropäischen Ländern.

Damit bezahlt die Bundesrepublik derzeit den Preis ihrer hohen Exportabhängigkeit. Sobald jedoch die Weltkonjunktur wieder anzieht, wird die Exportwirtschaft wieder zu den Gewinnern zählen.

Die Binnenwirtschaft ist dagegen nach wie vor zu schwach, um die Rolle der Konjunktur-Lokomotive zu übernehmen. Massiv sinkende Auftragsorder in der Industrie lassen die für die Beschäftigung wichtigen Ausrüstungsinvestitionen weiter schrumpfen – trotz einer noch so guten Kostenlage. Zugleich dümpelt das Wachstum des privaten Konsums in der Nähe der Nulllinie.

 

Lohnpolitik gegen den Abschwung

Die Ursachen der anhaltenden Schwäche des privaten Konsums liegen auf der Hand: Seit Jahren sinken die effektiv bezahlten Löhne nach Abzug der Steuern und Sozialver-sicherungsabgaben. Darüber hinaus wird die reale Kaufkraft durch Preiserhöhungen geschröpft. Immer noch wirkt der 2007 auf 19 Prozent erhöhte Mehrwertsteuersatz nach. Hinzu kommen die expandierenden Energiepreise, die sich bei den meisten Gütern niederschlagen und zur Einschränkung des privaten Konsums an anderer Stelle zwingen. 1

Was also ist zu tun? Einiges. Die Bundesregierung jedoch tut so, als habe sie mit dem drohenden Absturz des schwächelnden Aufschwungs nichts zu schaffen.

Und tatsächlich sind die Belastungen durch die Finanzmarktkrise, der viel zu hohe Außenwert des Euro sowie die explodierten Ölpreise auf nationaler Ebene unmittelbar schwer beeinflussbar. Umso mehr kommt es darauf an, die nationalen, regionalen, aber auch EUrelevanten Instrumente zur Stärkung der Binnenwirtschaft zu nutzen.

Insbesondere muss die Lohnpolitik im Kampf gegen den Abschwung expansiv ausgerichtet werden. Arbeitseinkommen sind nämlich nicht nur unternehmerische Kosten, sondern auch die Basis für die Motivation der Beschäftigten – und für die Kaufkraft. Derzeit zeigt sich, dass die anhaltende Lohnzurückhaltung die Risiken des jüngsten konjunkturellen Abschwungs massiv erhöht hat. Die tief verankerte Schwäche der privaten Konsumnachfrage ist auch das Ergebnis einer seit 2003 sich beschleunigenden Umverteilung zulasten der Erwerbseinkommen und zugunsten der Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen. Ungeachtet positiver konjunktureller Entwicklung ist der Anteil der Einkommen aus unselbstständiger Arbeit am Bruttoinlandsprodukt von 71,8 Prozent in 2003 auf 64,6 Prozent im letzten Jahr gesunken – und die volkswirtschaftliche Gewinnquote also spiegelbildlich dazu gestiegen.

In der vorherrschenden Politik wird derzeit, unterstützt durch den wirtschaftswissenschaftlichen Beratertross, zwar durchaus die Stärkung des privaten Konsums durch höhere Nettolöhne gefordert. So lautet das Schlagwort, mit dem die CSU im Wahlkampf punkten will: „Mehr netto für brutto“. Sicherlich müssen die Lohneinkommen entlastet werden, vor allem von wachsenden Abgaben. Unterschlagen wird dabei jedoch, dass vor allem „brutto“ zugelegt werden muss, das heißt die Löhne vor Abzug der Abgaben steigen müssen.

Auch bei der Besteuerung der Arbeitseinkommen gibt es dringlichen Handlungsbedarf – anders jedoch als zumeist vorgeschlagen. Denn der Verlauf des Einkommensteuertarifs ist nach wie vor ungerecht. Ab dem Eingangssteuersatz von 15 Prozent steigt die Steuerbelastung mit wachsenden Nominallöhnen sehr schnell an. Daraus folgt: Steigt das zu versteuernde Lohneinkommen um ein Prozent, nimmt die Steuerbelastung um zwei Prozent zu.

Der Staat wird auf diese Weise zum Gewinner der Inflation. Während die Nominallöhne allenfalls in Höhe der Inflationsrate zunehmen, also die Reallöhne faktisch sinken, steigen die auf diesen Zuwachs erhobenen Steuern.

Dagegen wird ab einem zu versteuernden Einkommen von 52 151 Euro ein konstanter Steuersatz von 42 Prozent verlangt. Diese „kalte Progression“ zwischen dem Eingangs- und Spitzensteuersatz muss abgebaut werden. Der Belastungsanstieg ließe sich durch eine Senkung des Eingangssteuersatzes und die Erhöhung des Spitzensteuersatzes auf 48 Prozent abbauen (der ab einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 60 000 Euro einsetzen sollte).

Einen schnell wirksamen und anhaltenden Impuls müssen die öffentlichen Haushalte mit ihrer Ausgabenpolitik setzen. Der Bund sollte gemeinsam mit den Ländern endlich wieder die Verantwortung für die Konjunktur der Gesamtwirtschaft übernehmen.

 

Der Blick ins Ausland

Bei der Suche nach der richtigen Medizin lohnt sich ein Blick ins Ausland. Viele andere Länder zeigen, was zur Stärkung des privaten Konsums getan werden kann. In den USA werden derzeit aus einem Konjunkturprogramm rund 170 Mrd. Dollar zur Belebung der Konjunktur ausgeschüttet. Millionen von Amerikanern (bis zu einem Jahreseinkommen von 75 000 Dollar) erhalten eine einmalige Steuerrückzahlung in Höhe von 600 Dollar, Ehepaare das Doppelte, also 1200 Dollar. Für jedes Kind gibt es noch mal 300 Dollar dazu – und das von einer Regierung Bush, die bisher keineswegs übertriebener Sympathien für den Keynesianismus verdächtig gewesen wäre.

Allerdings drohen einmalige Barauszahlungen in Deutschland schnell zu versickern. So hat Peter Bofinger, zu Recht für gesamtwirtschaftliche Nachfragepolitik eintretendes Mitglied im „Rat der Weisen“, vorgeschlagen, das Finanzamt solle an die Bürgerinnen und Bürger einmalig einen Scheck in Höhe von 125 Euro auszahlen – und das für jedes Familienmitglied. Die Gefahr ist jedoch groß, dass dieser Einmaleffekt schnell verpufft. Erst wenn die Erwartungen hinsichtlich steigender Masseneinkommen und vollwertiger Arbeitsplätze zunehmen, dürfte auch der private Konsum wieder anziehen.

Gefragt ist jedenfalls in Deutschland wirtschaftspolitischer Mut, die Marktkräfte ge-samtwirtschaftlich zu stärken, anstatt auf die angeblichen Selbstheilungskräfte des Marktes zu setzen. Jetzt sind die deutsche und die EUFinanzpolitik gefordert. Bundesminister Sigmar Gabriel hat deshalb mit seiner Forderung nach einem Zukunftsinvestitionsprogramm mit den Schwerpunkten Umwelt und Bildung ein richtiges Zeichen gesetzt: Zukunftsvorsorge und Stärkung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage lassen sich kombinieren. Die alten Konjunkturprogramme, mit denen nur kurzfristig ein Nachfrageimpuls ohne Berücksichtigung der damit finanzierten Ausgaben hergestellt wurde, sind damit passé.

Beim erforderlichen Zukunftsinvestitionsprogramm geht es also auch um die allzu oft zu Unrecht bemühte Generationengerechtigkeit: Enkel und Urenkel profitieren von diesen öffentlichen Investitionen durch verbesserte Produktions- und letztendlich Lebensverhältnisse.

 

Die neue „Robin-Hood-Steuer“

Mut ist auch gefordert, aktiv gegen die sich (nicht zuletzt durch die explodierenden Energiepreise) verschärfende Einkommensarmut vorzugehen. Bereits heute ist absehbar, dass aufgrund der existenziell bedrohlich hohen Strom- und Heizungskosten im kommenden Winter ein Notprogramm für sozial Schwache erforderlich sein wird. Da wirkt die Aufforderung durch den Berliner Finanzsenator, Thilo Sarrazin, sich wärmer anzuziehen, wie blanker Hohn.

Dagegen könnte sich ein Blick über die Alpen ausgesprochen bezahlt machen. Dort hat soeben die italienische Regierung eine regelrechte „Robin-Hood-Steuer“ durchgesetzt – eine Idee, die umgehend vom demokratischen US-Präsidentschaftskandidaten Barack Obama aufgegriffen wurde. Im Mittelpunkt stehen die Gewinner der Preisexplosion auf den Energiemärkten. Sie, die Energieriesen, kassieren nämlich über die Öl-, Gas- und vor allem Strompreise gigantische Extraprofite.

Das Weltwirtschaftsinstitut in Hamburg hat für die ARD-Sendung „Monitor“ Folgendes errechnet: Durch die Verdopplung des Rohölpreises seit 2007 (von 70 auf 150 Dollar pro Barrel) haben die Energiemultis in Deutschland, die sogenannten großen Vier (RWE, EON, EnBW und Vattenfall), die den deutschen Markt unter sich aufteilen, bereits heute Extraprofite in Höhe von 2,5 Mrd. Euro erzielt. Steigt der Rohölpreis, wie von der Studie angenommen, bis 2010 pro Fass weiter auf 200 Euro, werden es sogar 10,8 Mrd. Euro sein. 2

Eine Steuer auf diese Zufallsgewinne („Windfall-Profits“) ist machbar und sinnvoll. Zum einen werden auf diese Weise ungerechtfertigte Extraprofite der Energiekonzerne durch den Staat abgeschöpft, zum anderen können die dadurch erzielten Einnahmen den Einkommensschwachen zukommen.

Dieses Prinzip zeigt sich derzeit in Italien: Dort hat die Gewinnsteigerung um 3,3 Mrd. Euro im ersten Quartal dieses Jahres beim Ölkonzern ENI (mit der dazugehörigen Tankstellenmarke Agip) die „Robin-Hood-Steuer“ entscheidend motiviert. Geplant sind insgesamt öffentliche Zusatzeinnahmen in Höhe von vier Mrd. Euro, die in einem Rentner-Fonds eingesetzt werden sollen. Über ein Rabattsystem werden die Betroffenen 400 Euro erhalten. Mit bestechender Wirkung: Denn die ausgegebenen Rabattmarken werden nicht nur beim Strom- und Gasbezug Verwendung finden, sondern durch die freigesetzten Finanzmittel auch den allgemeinen Konsum erheblich ankurbeln.

Die Ironie der Geschichte: Als die Linke im vergangenen Wahlkampf einen vergleichbaren Vorschlag einbrachte, wurde er von Berlusconi prompt als „linksradikal“ diffamiert. Doch auch der Populismus der gegenwärtigen italienischen Regierung ändert nichts daran: Diese Umverteilung von den Energiepreisprofiteuren zu den sozial Schwachen ist auch in Deutschland machbar und sozial vernünftig – und deshalb das wirtschaftspolitische Gebot der Stunde.


1 Die hohe Inflationsrate im Bereich des privaten Konsums (im Juli 2008 3,3 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat) darf jedoch nicht als eine sich beschleunigende Inflation missverstanden werden. Die Ursache liegt auch hier bei den preistreibenden Produzenten von Energieprodukten und den sich darauf konzentrierenden Spekulanten.
2 Vgl. die „Monitor“-Sendung vom 3.7.2008, www.wdr.de/tv/monitor.