Über das Interesse der jungkonservativen Neuen Rechten an der AfD
Die Alternative für Deutschland (AfD) scheint sich - zumindest vorläufig - als neuer Bestandteil der deutschen Parteienlandschaft zu etablieren. Die Analyse des Phänomens AfD beschäftigt Wissenschaft und Medien in den letzten Monaten intensiv. Handelt es sich nun um eine liberale, konservative, rechtspopulistische oder rechtsextreme Partei? Ist sie vielleicht ein Gemischtwarenladen aus diversen Versatzstücken? Und welche der Strömungen wird sich durchsetzen? Aus der Sicht der Neuen Rechten bietet sie durchaus Chancen, die Verfassung aus der "Gefangenschaft der Linken und Liberalen" zu befreien, wie Helmut Kellershohn beobachtet.1
Die AfD hat bei den ostdeutschen Landtagswahlen auf ihrem Weg in den Bundestag einen wichtigen Etappensieg errungen. Ob aber langfristig es tatsächlich zu einer "Umwälzung" des deutschen Parteiensystems kommt, wie sich dies die jungkonservative Neue Rechte wünscht,2 ist noch keineswegs ausgemacht. Zumindest ist aus dieser Sicht von Bedeutung, dass mit dem Erfolg in Sachsen der wert- und nationalkonservative Flügel der Partei gestärkt worden ist. Versteht sich doch die sächsische AfD explizit als "konservative Volkspartei". Ihr Parteiprogramm, das hat die Neue Züricher Zeitung in einer knappen Analyse3 richtigerweise herausgearbeitet, ist keineswegs eine überarbeitete Fassung der FDP-Programmatik; und sie ist auch nicht ein Kompendium neoliberaler Forderungen.
Der Blick der jungkonservativen Neuen Rechten auf die AfD ist geprägt durch ihre eigenen programmatischen und strategischen Vorstellungen, wie sie in den letzten Jahren entwickelt wurden. Federführend war hier die Junge Freiheit (JF) um ihren Chefredakteur Dieter Stein, die sich mittlerweile als inoffizielles Sprachrohr der AfD zur Verfügung gestellt hat. Assistiert wurde die JF, wenn auch nicht immer einvernehmlich, durch den jungkonservativen Think Tank, das Institut für Staatspolitik (IfS). Seit dem Ausscheiden des wissenschaftlichen Leiters, Karlheinz Weißmann, ist die Bedeutung des Instituts für die Entwicklung einer rechten politischen Alternative allerdings geschmälert, weil die anderen Protagonisten des Instituts wie Götz Kubitschek oder Erik Lehnert für sich in Anspruch nehmen, die AfD offen von rechts zu kritisieren und weiterhin eigenständige Aktions- und Organisationsformen zu verfolgen. Diese Haltung aber beschneidet, weil von außen kommend, Einflussmöglichkeiten - und Chancen, falls die AfD demnächst ihre ›Fleischtöpfe‹ für Politikberatung und politische Bildung öffnen sollte. Weißmann, im Allgemeinen als Vordenker der Neuen Rechten deklariert, hat dies sicherlich mitbedacht, als er von der AfD als der zurzeit "einzig denkbaren Option" für neurechte Intellektuelle sprach. Damit stellte er sich hinter den Kurs der Jungen Freiheit.4
Dieter Stein, wie Weißmann Mitglied der Deutschen Gildenschaft, einer Korporation in der Tradition des völkisch-konservativen Flügels der Bündischen Jugend, sieht die politische Hauptaufgabe der JF darin, mit publizistischen Mitteln an der Bildung eines für die Durchsetzung rechter Positionen auf parlamentarischer Ebene tragfähigen gesellschaftlichen Milieus mitzuwirken. Es sei "höchste Zeit für die Formierung eines starken konservativ-freiheitlichen Widerlagers"5, das in der Lage sei, die staatstragenden Parteien, insbesondere aber "die Union von rechts unter Druck" zu setzen und eine Ausdifferenzierung des Parteiensystems nach rechts hin zu bewirken. Die AfD scheint nun der Hebel dafür zu sein. Die AfD habe das Verdienst, schrieb Stein im Mai 2013, das "Thema der verantwortungslosen Euro-Rettung" und, damit verbunden, "die endgültige Schleifung der nationalen Souveränität" in das "Zentrum der Debatte" gerückt zu haben; es müsse nun, trotz mancher Zweifel gegenüber der weiteren Entwicklung der AfD, "von übergeordnetem Interesse" sein, das "Monopol der CDU" zu brechen.6
Soviel Pragmatismus mag für einen politischen Existentialisten wie Götz Kubitschek verdächtig sein. Aber, gramscianisch gesprochen, ging es der JF immer darum, ein Hegemonieprojekt zu entwickeln, d.h. die Bildung eines Netzwerks von Akteuren zu fördern, das vielleicht einmal in der Lage sein könnte, in den Kampf um die kulturelle und politische Hegemonie einzugreifen. Welche "Akteurskonstellationen" bringt nun die JF ein, wo gibt es Anknüpfungspunkte an das Projekt einer "konservativen Volkspartei"?
Nationalliberalismus
Der erste Eckpunkt ist das sog. "marktwirtschaftliche Profil"7 in Verbindung mit der Ablehnung des Euro. Man kann diese Verbindung zwischen "Marktwirtschaft" und einer Renationalisierung der Währungs-, Finanz- und Wirtschaftspolitik, mit Blick auf die deutsche Parteiengeschichte, als nationalliberal bezeichnen. Der Nationalliberalismus ist ein zentraler Orientierungspunkt des Jungkonservatismus. Das war schon in den 1990er Jahren so, als die JF den nationalliberalen Flügel in der Berliner FDP und den Bund Freier Bürger unterstützte, von dem personelle Kontinuitäten bis in die heutige AfD führen. Unterstützung erhielten auch die Freien Wähler, für die JF-Autor und aktuell stellvertretender Sprecher der AfD Hans-Olaf Henkel als Programmschreiber tätig war. Gelobt wurden die Volkswirtschaftler, die die Bundesregierung wegen ihrer Euro-"Rettungspolitik" kritisierten; von Dieter Stein wurden sie zum sezessionistischen Kern der "publizistisch-wissenschaftlichen Elite" erhoben.8
Seine soziale Basis hat der Nationalliberalismus vor allem in Teilen der Mittelklassen, z.B. mittelständischen Familienunternehmen, soweit sie für Wohlstandschauvinismus und Standortnationalismus empfänglich sind.9
Im sächsischen AfD-Wahlprogramm wird die Sozialstaatskritik von rechts zwar nur dezent angedeutet, dafür heißt es aber klipp und klar: "Wirtschaftspolitik ist für uns in erster Linie eine gute Mittelstandspolitik". Dies wirft ein bezeichnendes Licht auf das, was hier unter "Volk" verstanden wird. Im Programm tauchen die Arbeiterschaft bzw. die Gewerkschaften als direkter Adressat nicht auf, wohl wird unter dem Stichwort Arbeitsmarktpolitik deutlich gemacht, dass die Verringerung der Arbeitslosenquote nur unter Berücksichtigung eines "preiswerten Arbeitskräfteangebots" erfolgen dürfe. Im Mittelpunkt stehen dagegen die (regionalen) Standortinteressen des Handwerks und der Landwirte sowie die ständischen Interessen der Ärzte, Professoren, Lehrer etc. Da erlaubt man sich, neben den bekannten Seitenhieben gegen "Brüssel" und die EZB, auch einige antikapitalistische Töne ("enthemmter Neokapitalismus", "der Landwirt darf nicht zum Sklaven der Banken werden"), nicht aber ohne zugleich auf die "strangulierende Ideologie des Marxismus-Leninismus" zu verweisen. Marc Jongen, Mitarbeiter Peter Sloterdijks und Kandidat auf der Europawahlliste der AfD, hat das alles sehr schön in seinem Manifest Das Märchen vom Gespenst der AfD10 zum Ausdruck gebracht. Bei ihm, der von der "Proletarisierung des Mittelstandes" spricht und die "bürgerliche Mitte" zur "eigentlich revolutionäre[n] Klasse" erklärt, werden besonders die Bezüge zum jungkonservativen TAT-Kreis um Hans Zehrer deutlich, der in der Auflösungsphase der Weimarer Republik einer der wichtigsten Intellektuellenzirkel der Konservativen Revolution war.
Christlicher Konservatismus
Der zweite Eckpunkt ist ein ausgesprochen rigider christlicher Konservatismus. Bezugspunkte sind Strömungen in beiden Konfessionen mit einer traditionalistischen bis fundamentalistischen Prägung: im protestantischen Bereich das (in sich inhomogene) Spektrum der Evangelikalen, im katholischen Bereich traditionalistische, papalistische, integralistische Kreise, deren gemeinsames Kennzeichen in der Ablehnung der Volkskirche und in der Revision bzw. radikalen Ablehnung des II. Vatikanums liegt. Die für den Jungkonservatismus relevanten Bezugspunkte liegen hier vor allem im biopolitischen Bereich und in der Betonung der christlichen Fundamente Europas in der Auseinandersetzung mit dem Islam und dem Judentum. In kirchenpolitischer Hinsicht unterstützt man die genannten Kräfte.
Das Bekenntnis zum Christentum gehört zum Leitbild der JF. Weißmann sieht darin ein wichtiges Abgrenzungskriterium gegenüber neuheidnischen Positionen in der extremen Rechten, wie sie z.B. ehemals von Alain de Benoist oder heute noch in der NPD vertreten werden.11
In der Präambel des sächsischen AfD-Parteiprogramms wird genau dies (allerdings ohne den kirchenpolitischen Hintergrund) betont: "Das Wertesystem, an dem wir uns [...] orientieren, leitet sich aus den Werten des christlichen Abendlandes ab." Von dort aus fühlt man sich legitimiert, "die Kernfamilie in den Mittelpunkt der Familienpolitik zu stellen". Eine "weitergehende Gleichstellung" der sog. "Homoehe" wird abgelehnt, ebenso die "menschenfeindliche Ideologie" des "verqueren Genderismus" und erst recht die angebliche "Früh- und Hypersexualisierung in Kindergarten und Schulen". Die Schwangerschaftskonfliktberatung soll sich dem "Lebensschutz" verpflichtet fühlen. Erklärtes Ziel dieser und weiterer empfohlener Maßnahmen ist es, "die wertstiftenden Funktionen der Familie zu stärken und die Geburtenrate zu erhöhen". - In der Bildungspolitik ist, neben der obligatorischen Betonung des mehrgliedrigen Schulsystems, die Forderung von Bedeutung, staatliche und freie Schulen (also auch kirchliche Schulen) finanziell gleichzubehandeln.
Völkischer Nationalismus
Der dritte Eckpunkt ist die völkische Ideologie, nicht im Sinne der alten völkischen Bewegung, sondern in einem modifizierten Sinne, nämlich vermittelt über die jungkonservative Lesart des völkischen Nationalismus, die bei aller Betonung der "ethnischen Kontinuität" als Basis der Nation stärker das willentliche, subjektive Element hervorhebt. Wenn Dieter Stein die "Ablehnung der Masseneinwanderung" hervorhebt, so deshalb, weil (aus seiner Sicht) die Zuwanderung - neben dem Damoklesschwert des Euro - am stärksten die nationale Souveränität und Einheit in Frage stellt. Allerdings offeriert die JF ein "flexibleres Angebot" als etwa die NPD, indem sie das Kriterium der Nützlichkeit als Maßstab für Einwanderung berücksichtigt und mit den Belangen der "Gemeinschaft" zu vermitteln versucht. Der Burschenschaftler Michael Paulwitz schreibt im JF-offiziösen Manifest für die Zukunft Deutschlands im 21. Jahrhundert12: "Diese Gemeinschaft ist nicht statisch; sie kann Einwanderer aufnehmen und zu beider Vorteil integrieren, wenn Einwanderung nicht schrankenlos und ungesteuert stattfindet." Voraussetzung sei auf Seiten der Einwanderer die Bereitschaft, "sich ohne Vorbehalt mit Staat und Nation zu identifizieren". Demgegenüber wendet sich die JF gegen "ethnisch-kulturelle Parallelgesellschaften" und gegen die sog. "orientalische Landnahme"13, also speziell gegen Einwanderung aus der Türkei und den arabischen Ländern, da besonders von dorther "Umvolkung" und "Bevölkerungsaustausch" drohten.
Diese Differenzierung - Dieter Stein spricht von einem "erneuerten Volkstumsbegriff"14 - hat Methode: Auch das AfD-Wahlprogramm unterscheidet zwischen erwünschter und unerwünschter Zuwanderung. Die erstere richtet sich nach dem Bedarf an hochqualifizierten Arbeitskräften ("bedarfsorientierte Einwanderungspolitik" nach kanadischem Vorbild), die Zuwanderung als gewissermaßen unumkehrbare "Lebensentscheidung" betrachten und denen der Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft eine "Herzensangelegenheit" ist. Die zweite dagegen ist "eine ungesteuerte Einwanderung über Familiennachzug, Duldungsmechanismen und durch laxe Auslegungen des Asylrechts." Im Übrigen wird auch hier betont, dass die Erhöhung der Geburtenrate durch Familienförderung und Qualifikationsangebote an deutsche Arbeitslose wichtiger seien und Zuwanderung "nur kurz- und mittelfristig negative Effekte abmildern" könne.
An den "erneuerten Volkstumsbegriff" anknüpfend ist Identitätspolitik ein eigenständiges Thema im Wahlprogramm: Zum einen wird die (regionalbezogene) "Landesidentität", zum anderen die "Nationalidentität" beschworen und deren Nutzen unterstrichen: "Eine gefestigte Landesidentität garantiert [!] Leistungs- und auch Opferbereitschaft, Gesetzestreue und Solidarität, Toleranz und Stabilität." Wer sie nicht hat, neigt erstaunlicherweise zum Extremismus. Für die Bildung der nationalen Identität sei z.B. ein Geschichtsunterricht hilfreich, dessen "deutlicher Schwerpunkt" im 19. Jahrhundert (1813, 1848, 1871) liegen soll. Das "Absingen der Nationalhymne bei feierlichen Anlässen" sollte "selbstverständlich" sein. Empfohlen werden "weniger Anglizismen" und "mehr deutschsprachige Titel" in Rundfunk und Fernsehen. Gleichzeitig wendet man sich gegen Sprachregelungen und politische Vorgaben, lehnt die "Gender- und Gleichstellungsideologie" ab. Gegen eine staatlich gelenkte, nationalistische "PC-Politik" hat die AfD offensichtlich nichts.
Das strategische Ziel: Staatsumbau
Ein vierter Eckpunkt ist eine bestimmte Haltung zum Staat. Die Kritik an Euro und EU, die Warnungen vor Multikulturalismus und Islamisierung oder die Perhorreszierung des Sozialstaats bewegt die Jungkonservativen, an bekannte Konzepte des "Staatsumbaus" in der Endphase der Weimarer Republik anzuknüpfen.15 Freilich ist man hier nicht alleine. Das Spektrum, innerhalb dessen heute Debatten um Wahlrechtsänderungen (z.B. Familienwahlrecht, Stärkung der Persönlichkeitswahl, Mehrheitswahlrecht), die Einführung eines Zwei-Kammer-Systems oder die Aufwertung des Bundespräsidenten in Verbindung mit direkt-demokratischen Verfahren stattfinden, reicht von Wissenschaftlern, Journalisten, Politikern, Verbandsvertretern über neoliberale Think Tanks wie der Zivilen Koalition oder dem Konvent für Deutschland (KfD) bis hin zur AfD und zur JF.16 Selbst die NPD versucht hier anzudocken. Konzeptive Ideologen wie Hans-Olaf Henkel oder Hans Herbert von Arnim tauchen in all diesen Zusammenhängen auf und beklagen den Zustand der Republik. Im Mittelpunkt steht immer der "exzessive" Parteienstaat, das "faktische Monopol der Parteien in der politischen Willensbildung"17, wodurch "Reform"-Bemühungen zum Scheitern verurteilt seien.
Karlheinz Weißmann und Erik Lehnert (IfS) sehen das "Problem" grundsätzlicher. Die Aufgabe des Staates, "Garant für Recht und Ordnung" zu sein, werde durch die Gesellschaft in Frage gestellt. Der Staat gerate "zunehmend in die Abhängigkeit einer Gesellschaft, die sich mit dem allgemeinen Anspruch des Staates" nicht mehr identifiziere. Interessengruppen machten "den Staat zu ihrer Beute, indem sie ihn für ihre jeweiligen Sonderinteressen" instrumentalisierten. Carl Schmitt habe das "bereits in seiner Auseinandersetzung mit dem Pluralismus erkannt"18.
Als Alternative zu einem Staat als "Ausbeutungsobjekt" (Schmitt) ruft Weißmann die anachronistische Idee eines Staates in Erinnerung, der der Gesellschaft vorgegeben und ihr übergeordnet ist und wie eine "objektive Käseglocke über dem Gewimmel subjektiver Interessen"19 thront. "Unter allen menschlichen Institutionen", so Weißmann, komme "dem Staat ein Vorrang zu". Er sei die "ausschlaggebende Ordnung", durch die allein "Sicherheit und Freiheit" der Individuen - gerade durch deren Beschränkung - gewährleistet werden könne. Allein der Staat verfüge über "jene katechontische Fähigkeit [...], auf die es ankommt, die vis conservandi, de[n] Wille[n] zur Erhaltung".20 Von dorther bestimmt sich das strategische Ziel des Jungkonservatismus, nämlich Staat und Verfassung von den Elementen zu befreien, die dieser vis conservandi entgegenstehen und verhindern, dass "eine Ordnung überhaupt sicher und dauerhaft bestehen" (ebd.) kann.
Der Kampf gegen die sog. "Kartellparteien", vornehmlich gegen die Liberalen21 und Linken, ist ein wesentlicher Bestandteil dieser strategischen Orientierung. Er wird im Namen der direkten Demokratie geführt, zielt aber auf die Etablierung eines autoritären Staates, dessen Gestalt über das hinausgeht, was heute etwa unter dem Stichwort "Postdemokratie" (Colin Crouch) diskutiert und - von links - kritisiert wird. Wenn die Linke letztlich die Form des Politischen transformieren und die staatlichen Kompetenzen in die Selbstregierung der Zivilgesellschaft reintegrieren will (radikale Demokratie), so zielt der Jungkonservatismus auf das Gegenteil. Carl Schmitt hat dies 1932 auf die Formel des "qualitativ totalen Staates" gebracht, als dessen Klassenbasis Schmitt eine von gewerkschaftlicher Gegenmacht befreite, sich selbst verwaltende Wirtschaft unterstellt.22
Selbstverständlich werden diese Zusammenhänge von der sächsischen AfD nicht direkt angesprochen. Gleichwohl gibt es zwei Hinweise. Der Hebel des "Staatsumbaus", der im Programm angesetzt wird, liegt zum einen im Bereich der Stärkung direkt-demokratischer Verfahren: "Das Volk ist gemäß Art. 70 der Sächsischen Verfassung neben Regierung und Parlament berechtigt, Gesetzesvorlagen einzubringen. Wir wollen dieses Element direkter Demokratie stärken und die Verfahren für Volksantrag, Volksbegehren und Volksentscheid verbessern." Angewandt werden sollen diese Verfahren, was explizit erwähnt wird, etwa im Falle von Moscheebauten mit Minaretten. Zum anderen wird ein Kinder- bzw. Familienwahlrecht gefordert, das dem nahe kommt, was Paul Kirchhof schon mal in der FAZ (10.04.2012) unterbreitet hat, und auch zu den verfassungspolitischen Forderungen23 der Jungkonservativen in der Endphase der Weimarer Republik gehörte: "Kinder sind [...] vollwertige Bürger dieses Landes. Zur Umsetzung des Gleichheitsgrundsatzes im aktiven Wahlrecht und der Generationengerechtigkeit, treten wir für das aktive Wahlrecht der Kinder von Geburt an ein [...], indem die Stimme des Kindes bis zur Vollendung von dessen 16. bzw. 18. Lebensjahr jeweils von den Erziehungsberechtigten abgegeben wird."
Die Brisanz dieser Forderung erhellt sich aus folgendem Bezug: Bei Walter Schotte, dem Propagandisten des "Neuen Staates", firmiert das Familienwahlrecht unter dem Stichwort "Pluralwahlrecht". Dieses gibt vor, das Gewicht der Stimmen nach "Leistung" und "Verantwortungsfähigkeit" zu differenzieren, wobei hier an die "Sammlung der Stimmen aller Unmündigen bei den Versorgungsberechtigten und -verpflichteten"24 gedacht wird. Im völkischen Ton fortfahrend heißt es bei Schotte: "Erst ›das Wahlrecht des Babys‹ kann die parlamentarische Demokratie [sic!] sinnvoll machen und in Beziehung setzen zum Volke, das kein Durchschnitt durch die Generation der über Zwanzigjährigen ist, sondern ein werdendes Ewiges [!], das im Fortgang der Generationen erst sich vollendet" (ebd.). Das Volk also als generationsübergreifende völkische "Zeugungsgemeinschaft" mit Ewigkeitswert!
Ausblick
Die vorstehenden Überlegungen machen deutlich, dass die Selbstdarstellung der AfD als "konservative Volkspartei" tatsächlich sich dem nähert, was dem jungkonservativen Hegemonieprojekt um die Junge Freiheit schon seit längerem vorschwebt: nämlich durch die Verknüpfung von nationalliberalen, christlich-konservativen, völkischen und staatspolitischen Ideen eine "moderne" völkisch-konservative Bewegung im vorpolitischen Raum zu inspirieren und über deren parteipolitische Implementierung in den politischen Raum zu einer "Umwälzung" (Stein) des politischen Systems beizutragen. Eine Broschüre des IfS hat bereits 2003 die JF als in der Tradition der sog. "Volkskonservativen" stehend bezeichnet25, einer Teilströmung des Weimarer Jungkonservatismus, die von Vordenkern der Konservativen Revolution wie Hermann Ullmann, Georg Quabbe und Edgar Julius Jung "geistig" beeinflusst wurde. Dieter Stein hat sich damals zu dieser "Verortung" zurückhaltend geäußert.26 Heute aktualisiert Weißmann genau diesen historischen Bezug, wenn er in seiner Begründung für seinen Abschied vom Institut für Staatspolitik die Notwendigkeit und die Möglichkeit betont, dass sich die AfD in Richtung einer Volkspartei entwickeln müsse und auch könne.
In einem Artikel in der Jungen Freiheit skizziert Weißmann ein solches Szenario für die weitere Entwicklung der AfD und ordnet es dem langfristigen strategischen Kalkül der Jungkonservativen zu. Zusammen mit der UKIP zählt Weißmann die AfD unter den rechtspopulistischen Parteien Europas zu den "Unbeugsamen", die beide sich durch eine "strukturelle Ähnlichkeit" auszeichneten: In beiden Fällen sei die "Führungsriege" seriös; Personal und Anhängerschaft kämen zum großen Teil "aus den Reihen der eigentlich dominierenden bürgerlichen Parteien"; aber auch Menschen ohne politische Heimat oder aus dem Umfeld von Außenseiterparteien würden erreicht. Beide Parteien repräsentierten vor allem die Mittelschicht, d.h. solche Leute, die "hart" arbeiteten, Steuern zahlten, Familien gründeten und Kinder großzögen.27
Der Erfolg der AfD, so Weißmann weiter, sei einerseits der "klugen Taktik" ihrer Führungsgruppe geschuldet, "möglichst wenig Angriffsflächen zu bieten [...] und immer die ›Normalität‹ der Partei" zu betonen; andererseits sei die Zeit einfach reif gewesen für eine Partei wie die AfD. Zeit also auch, um über wünschens- bzw. nicht-wünschenswerte Perspektiven nachzudenken. Nicht-wünschenswert sei es, wenn durch die Etablierung der AfD das "bürgerliche Lager" insgesamt geschwächt würde. Im Umkehrschluss hält also Weißmann, ohne das offen auszusprechen, eine Koalition der Unionsparteien mit der AfD als nächstliegende Perspektive für wünschenswert (was den Planspielen mancher Konservativer in der Union entgegenkäme). Er geht aber noch einen Schritt weiter: "Die AfD ist aber noch nicht am Ende ihrer Möglichkeiten angekommen, und wenn sie zur Sammlung all derjenigen wird, die die Tassen im Schrank behalten, ergeben sich ganz neue Perspektiven. Dann geht es nicht mehr um Juniorpartnerschaften, dann geht es tatsächlich um eine Neugestaltung des deutschen Parteiensystems."
Will sagen: Wünschenswert wäre es, wenn die AfD sich realiter in Richtung einer breit aufgestellten Volkspartei entwickeln würde. Denn dies würde die Kräfteverhältnisse im bürgerlichen Lager ändern, und die Koalitionsfrage könnte aus einer Position der Stärke neu verhandelt werden, etwa nach dem Modell der grün-roten Koalition in Baden-Württemberg. Das ist sicherlich Zukunftsmusik und wird es womöglich auch bleiben. Weißmann ist sich darüber im Klaren, dass eine solche Entwicklung von "schwer kalkulierbar[en]" Faktoren abhängt. Die AfD müsste weiter an "Anziehungskraft" gewinnen und die Krisenlage sich weiter verschärfen.
Die Bedeutung der "großen Krise" für einen Wandel der Machtverhältnisse hat Weißmann in den letzten Jahren immer wieder betont. "Die Konjunktur der Rechten" hänge ab von der "Wahrnehmung innerer oder äußerer Bedrohung", schrieb er 1996 in der Jungen Freiheit.28 2007 prognostizierte er "eine dramatische Zuspitzung der Krise" für die "nächsten zehn Jahre", die "Unfähigkeit" der Politischen Klasse werde überdeutlich werden.29 In einer solchen Situation sei ein Elitenwechsel möglich. Und dann sei es möglich, die Verfassung aus "der Gefangenschaft der Linken und Liberalen zu befreien".30
Anmerkungen
1) Der folgende Text ist eine überarbeitete und gekürzte Fassung eines Artikels, der in der Jungen Welt v. 06.09.2014 erschienen ist.
2) Vgl. Dieter Stein, JF 22/2014: 1; zur jungkonservativen Neuen Rechten allgemein vgl. Helmut Kellershohn 2010: "Strategische Optionen des Jungkonservatismus", in: Regina Wamper / Helmut Kellershohn / Martin Dietzsch (Hg.): Rechte Diskurspiraterien. Strategien der Aneignung linker Codes, Symbole und Aktionsformen, Münster: 13-30.
3) NZZ v. 01.09.2014.
4) Zu den Auseinandersetzungen im IfS um den Kurs gegenüber der AfD vgl. Helmut Kellershohn 2014b: Die AfD als "Staubsauger" und "Kantenschere" - Turbulenzen im jungkonservativen Lager, http://www.diss-duisburg.de/2014/06/helmut-kellershohn-afd-sondierungen-2/.
5) JF 41/2009: 1.
6) Dieter Stein 2013: "Bei aller Skepsis: Diesmal hoffe ich", in: Sezession Sonderheft "Alternativen für Deutschland, Mai 2013: 18-19.
7) Dieter Stein, JF 20/2013: 1.
8) JF 17/2013: 1
9) Bezeichnenderweise war es Lutz Goebel, der Präsident des Verbands "Die Familienunternehmer", der in der FAZ v. 20.10. 2014 eine ablehnende Replik zu Yasmin Fahimis Plädoyer für ein breites gesellschaftliches Bündnis gegen die AfD (FAZ v. 16.10.2014) verfassen durfte.
10) Cicero v. 22.01.2014.
11) Vgl. Karlheinz Weißmann im Gespräch mit Dieter Stein: "Wie wichtig ist ein Begriff?"; http://www.sezession.de/wp-content/uploads/2009/02/sez-doppelinterview.pdf [Abruf: 11.02.2009]. Zu Weißmanns theologischen Positionen - er fühlt sich der Hochkirchlichen Bewegung verbunden - vgl. auch Weißmann 2006: 115-133.
12) JF 42/2012: 3.
13) Paulwitz, JF 23/2012: 1.
14) JF 41/2013: 1.
15) Vgl. Walter Schotte 1932: Der neue Staat, Berlin. Kern des Neuen Staates sollte eine Reichs- und Verfassungsreform sein, die an die Stelle der Republik einen autoritären Staat setzen sollte.
16) Überblick bei Thomas Wagner 2011: Demokratie als Mogelpackung. Oder: Deutschlands sanfter Weg in den Bonapartismus, Köln; zur Zivilen Koalition, die eng mit der AfD verknüpft ist und deren Protagonistin Beatrix von Storch für die AfD im Europaparlament sitzt, vgl. Andreas Kemper 2013: Rechte Euro-Rebellion: Alternative für Deutschland und Zivile Koalition, Münster: 24-31. Eine hellsichtige Kritik an Henkel u.a. ("Die neuen Staatsfeinde") findet sich bereits in den 1990er Jahren bei Jan Roß 1998: Die neuen Staatsfeinde, 2. Auflage, Berlin.
17) KfD, Presseerklärung vom 23.07.2014.
18) Erik Lehnert / Karlheinz Weißmann (Hg.) 2012: Staatspolitisches Handbuch, Band 3: Vordenker, Schnellroda: 28.
19) Otto H. von der Gablentz 1958: "Autorität und Legitimität im heutigen Staat", in: Zeitschrift für Politik (NF) 5/1958: 5-27; hier: 15.
20) Karlheinz Weißmann 2010: "Was heißt ›Staatspolitik‹?", in: Sezession, Sonderheft "10 Jahre IfS", Sept. 2010, 14-18; hier: 18; Hervorheb. i. Orig.
21) Die heutige Neue Rechte unterscheidet genau wie ihre Vorbilder in der Konservativen Revolution der 1920er Jahre den ökonomischen von einem politisch-kulturellen Liberalismus. Während Letzterer unter dem Verdikt der Dekadenz steht, wird die "heilige Kuh" des Liberalismus, die "Heiligkeit des Eigentums" zum eigenen Programm erhoben.
22) Carl Schmitt 1995: "Starker Staat und gesunde Wirtschaft" [zuerst 1932], in: Ders.: Staat, Großraum, hg. von Günter Maschke, Berlin: 71-91.
23) Die damaligen jungkonservativen Vordenker und ihre Repräsentanten in der Regierung Papen empfahlen drei Manipulationen des Wahlrechts: Erstens die Ersetzung des Verhältniswahlrechts durch ein Mehrheitswahlrecht, mit parteiunabhängigen "Persönlichkeiten" in sog. "Einmannwahlkreisen", ergänzt möglicherweise auch durch die Einführung der indirekten Wahl; zweitens die Heraufsetzung des Wahlalters von 20 auf 25 Jahre. Der dritte Vorschlag ist nun genau der, der von Kirchhof und der sächsischen AfD kopiert wird.
24) Walter Schotte 1932: Der neue Staat, Berlin: 61.
25) Institut für Staatspolitik (Hg.) 2003: Die "Neue Rechte". Sinn und Grenze eines Begriffs (= Wiss. Reihe, Heft 5), Schnellroda: 17, 36 Anm. 57.
26) Dieter Stein 2005: Phantom "Neue Rechte". Die Geschichte eines politischen Begriffs und sein Mißbrauch durch den Verfassungsschutz, Berlin: 22.
27) JF 24/2014: 18.
28) JF 44/1996, zit. nach Karlheinz Weißmann 2000: Alles, was recht(s) ist. Ideen, Köpfe und Perspektiven der politischen Rechten, Graz/Stuttgart: 250.
29) Karlheinz Weißmann 2006: Unsere Zeit kommt, Schnellroda: 80.
30) Karlheinz Weißmann 2009: "Ich versuche, argumentativ vorzugehen und die Fragen grundsätzlich anzugehen.", in: Sezession, Sonderheft Dez. 2009: 13-16, hier: 14f.
Helmut Kellershohn unterrichtete an einem Gymansium in Moers und ist Mitarbeiter des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS).