Der Aufstieg: Deutschland und die NATO

„To keep the Americans in, keep the Russians out and keep the Germans down“ – Amerika drin (in Europa), die Russen draußen und die Deutschen unten zu halten – die berühmte NATO-Definition ihres ersten Generalsekretärs, des britischen Barons und Kolonialpolitikers Hastings Lionel Ismay liest sich mit Blick auf Deutschland nachträglich wie das Eingeständnis eines grandiosen Scheiterns.

Allerdings war auch nicht geplant, dem deutschen Militarismus den Garaus zu machen. Er sollte dem britischen und US-Imperialismus nützlich sein.


Neubewaffnung statt Entwaffnung

Es war Ismay selbst, der als Chief of Staff der britischen Armee bereits zwei Wochen nach der Kapitulation der Wehrmacht seinem Premierminister Winston Churchill einen Plan zur militärischen Unterwerfung der Sowjetunion übergab. Vorgesehen war, dass an der Seite britischer und US-Truppen auch ein Kontingent von 100 000 Wehrmachtssoldaten die Sowjetunion angreifen sollte. Die sogenannte „Operation Unthinkable“ (Operation Undenkbar) wurde letztlich als undurchführbar fallen gelassen, aber die Wiederbelebung des deutschen Militarismus als Hilfstruppe im Kampf gegen den Kommunismus blieb Programm.

Der US-Generalstab stellte 200 hohe Wehrmachtsoffiziere von Strafverfolgung frei und ließ sie ihre Erfahrungen im Krieg gegen die Sowjetunion zu Papier bringen. Diese „historische Division“ war eine Ansammlung von Kriegsverbrechern, aber sie waren Antikommunisten. Und sie waren nützlich und erfahren im Kampf gegen die Sowjetunion.

„Wir wussten, was wir taten“, erklärte ein ehemaliger CIA-Verantwortlicher. „Es war unbedingt notwendig, dass wir jeden Schweinehund verwendeten; Hauptsache, er war Anti-Kommunist.“1

60 Jahre später protzt eine deutsche Festschrift zum Bundeswehr-Jubiläum damit, dass man es schon immer besser gewusst hat:  
„Die Bundeswehr entstand aus einer Fehleinschätzung der westlichen Siegermächte des Zweiten Weltkrieges. Diese hatten nach 1945 sofort ihre Truppen demobilisiert, während die im Herzen Europas stehende Rote Armee aufrüstete und Westeuropa bedrohte. Insbesondere die Amerikaner waren es, die sich der großen Leistungen der deutschen Wehrmachtsoldaten während des zweiten Weltkrieges besannen. Die USA wünschten zu ihrer eigenen Unterstützung eine neue, schlagkräftige ‚Wehrmacht ohne Hakenkreuz’“.2

Diese US-Wünsche deckten sich mit den Plänen der neuen westdeutschen Führung. Für Adenauer ging es darum, „die sittlichen Werte des deutschen Soldatentums mit der Demokratie zu verschmelzen“, um Deutschlands politischen und militärischen Wiederaufstieg zu organisieren.3 

Was an Blut noch an den Wehrmachtsuniformen klebte, sollte mit den Ehrenerklärungen der Sieger und neuen Verbündeten abgewaschen werden. General Eisenhower Anfang 1951: „Ich sagte dem Kanzler und den anderen deutschen Herren, mit denen ich letzte Nacht gesprochen habe, ich sei zu der Überzeugung gekommen, dass ein tatsächlicher Unterschied zwischen den regulären deutschen Soldaten und Offizieren und Hitler und seiner verbrecherischen Gruppe bestehe. Ich glaube nicht, dass der deutsche Soldat seine Ehre verloren hat.“4

Und auch die materielle Unterstützung für den neuen Kampfgefährten floss üppig.

Kamen anfangs im Rahmen des Marshall-Planes Zivilgüter über den großen Teich, stand bald die Lieferung von Rüstungsmaterial im Vordergrund.

Die Remilitarisierung Westdeutschlands war bereits in vollem Gange, als der französische Ministerpräsident René Pleven am 24. Oktober 1950 eine europäische Armee unter deutscher Beteiligung vorschlug, bei der die deutschen Einheiten vollkommen in den europäischen Truppen aufgehen sollten.

Im Mai 1952 unterzeichnete die Bundesregierung den Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft. Im August 1954 allerdings stoppte die französische Nationalversammlung die Pläne. Dafür wurde die BRD Mitglied des Militärbündnisses Westeuropäische Union und ein Jahr später der NATO.

Dass in der NATO an allen Abzugs- und Schalthebeln US-Offiziere saßen, war der Preis, den die deutschen Generale mal mit mehr und mal mit weniger Zähneknirschen zahlten. Es ging um den Wiederaufstieg Deutschlands, da konnte man nicht kleinlich sein.

Zielstrebig wurde auch die Etablierung einer eigenen westdeutschen Rüstungsindustrie vorangetrieben. Schon Anfang der 50er Jahre befasste sich das Amt Blank, Vorläufer des Bonner „Verteidigungs“ministeriums (noch) illegal mit Plänen für den Serienbau deutscher Militärflugzeuge. 

Die US-Besatzungsmacht ließ die Deutschen gewähren, da ohnehin geplant war, das deutsche Luftrüstungspotential im Zuge des Kalten Krieges gegen die Sowjetunion zu nutzen. Bereits im Mai 1955 wurden die Baubeschränkungen für die deutsche Luftfahrtindustrie aufgehoben. 

Als sich 1951 die Bosse im Verband zur Förderung der Luftfahrt organisierten, wurde mit Admiral R. Lahs ein Mann Ehrenvorsitzender, der im Faschismus Vorsitzender des Reichsverbandes der Deutschen Luftfahrt-Industrie, Leiter der Wirtschaftsgruppe Luftfahrtindustrie und seit 1941 Mitglied des Industrierates zur Produktion von Luftwaffengerät war. Auch hier waren also die Kontinuitäten gewahrt.

Die Bonner Politik sorgte dafür, dass sich ehemalige Rüstungsproduzenten erst gar nicht um zivile Betätigungsfelder in der Luftfahrt bemühten, sondern sofort erneut auf Rüstungsproduktion orientiert wurden. Das Amt Blank drängte schon früh auf Zusammenschlüsse der Luftfahrtunternehmen. So entstand aus Heinkel und Messerschmidt die Flugzeug-Union Süd GmbH, die mit Rüstungsaufträgen für die Luftwaffe gefüttert wurde. 

Später wurde die deutsche und westeuropäische Luftfahrtindustrie im Rahmen der NATO mit Lizenzprogrammen zum Nachbau des US-amerikanischen Kampfflugzeuges Lockheed F-104 Starfighter gepuscht. Ab 1961 wurden in neun europäischen NATO-Staaten davon 1200 Stück gebaut, von der deutschen Version F-104G allein 600 Exemplare. Die deutsche Industrie hat von diesem Programm überproportional profitiert. Sie konnte so rasch den Anschluss an internationale Fertigungsstandards herstellen und dank der Gelder, die reichlich aus dem Bundesetat flossen, ihre Produktionskapazitäten aufbauen. Ende der 60er Jahre kamen bereits über 80 Prozent der Bundeswehr-Waffenbeschaffungen aus deutscher Produktion.5


Deutsch-französische Achse

Zwei Denkschulen stritten um die besten Konzepte für die Erringung der vollen Souveränität Deutschlands und die Wiedereinverleibung der DDR. „Die sogenannten Atlantiker, die als Emissäre Washingtons wirkten, und euro-nationalistische Kräfte um Franz-Josef Strauß, die von Anfang an einen Weg gemeinsam mit Frankreich befürworteten. Ansonsten hatten sie vieles gemeinsam (…) Den Atlantikern ging es offensichtlich darum, sich beizeiten an bester Stelle zu platzieren, um dann, wenn das US-System zusammenbräche, das größte Erbe anzutreten. Die Europa-Nationalisten wollten vorzeitig erben, also über den Ausbau der EWG die US-amerikanischen Schwächen sofort ausnutzen, die Abhängigkeitsfesseln lockern.“6 

Bereits in den Jahren 1957 und 1958 gab es zwischen Bonn und Paris eine Zusammenarbeit mit dem Ziel einer gemeinsamen Atomwaffenproduktion. Die Offerte ging von Frankreich aus und bezog auch Italien mit ein. Sie sollte nach dem Prinzip funktionieren, dass Deutschland die französische Force de Frappe mitfinanziert und im Gegenzug im Krisenfall Zugang zu französischen Atomsprengköpfen bekommt.7 Die Zusagen waren den Militaristen um Strauß aber zu vage. Mit der Amtsübernahme von Charles de Gaulles wurde die atomare Kumpanei beendet. In Bonn orientierte man sich wieder stärker auf die USA.

In den 80er Jahren nahm die militärische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich richtig Fahrt auf. 

Als die Regierung in Paris 1984 die Initiative ergriff, um das im Schatten der NATO dahindümpelnde Militärbündnis WEU zu reaktivieren, war man in Bonn begeistert. Außenminister Genscher verkündete vor der WEU-Vollversamlung am 29.10.1984 in Rom eine Abstimmung mit Frankreich, Großbritannien, Italien und den Benelux-Staaten zu Themen, bei denen sich „eine europäische Haltung empfiehlt“, mit anderen Worten eine Euro-Fraktion in der NATO unter Führung Deutschlands und Frankreichs. 

Frankreich sorgte auch dafür, dass die WEU-Behörde für die Kontrolle der deutschen Rüstungspolitik in ein Institut für strategische Studien umgewandelt wurde. Bonn und Paris knüpften ein enges militärisches Netzwerk, das von gemeinsamen Rüstungsprojekten über regelmäßige Treffen der Regierungschefs bis zur Aufstellung einer deutsch-französischen Brigade reichte.

Unter deutschem Doppelvorsitz beschloss der Europäische Rat 1999 in Köln die Eingliederung der WEU in die EU. Die EU konnte nun damit beginnen, sich „die Fähigkeit zu autonomem Handeln, gestützt auf glaubwürdige militärische Fähigkeiten“ zu verschaffen und Militäreinsätze zu beschließen und durchzuführen „unbeschadet von Maßnahmen der NATO“.8 


Etappenziel erreicht

Der Anschluss der DDR war bereits ein deutscher Alleingang. „Die Europäische Gemeinschaft (EG) wurde nicht konsultiert, obwohl die Übernahme der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) den Eintritt eines 13ten Mitgliedslandes in die Gemeinschaft darstellte; Brüssel wurde nicht einmal immer informiert (…) An jedem Punkt, einschließlich bei den NATO-Treffen, hat er (Helmut Kohl, A.N.) äußere Kontrollen unterlaufen oder ist ihr ausgewichen.“8

Der deutsche Militarismus, den viele Beobachter längst tot gesagt hatten, zeigte nach 1990 wie stark und organisiert er ist. Der Einfluss der militärischen Führungskaste auf die deutsche Außenpolitik ist nicht nur „größer geworden, als er jemals seit Ende des Zweiten Weltkrieges war“, die Generalität ist zur „treibenden Kraft für die Neuformulierung der Außen- und Militärpolitik“ der Berliner Republik geworden.10

Anfang der 90er Jahre macht ein Kohl-Zitat die Runde, das in Wahrheit keines ist, aber dessen Inhalt trotzdem stimmt.

„Deutschland hat mit seiner Geschichte abgeschlossen. Es kann sich künftig offen zu seiner Weltmachtrolle bekennen und soll diese ausweiten“. Ein „echter Kohl“ hätte die Lage nicht besser beschreiben können. 11

Am 19. Dezember 1991 wagte die Berliner Republik die erste außenpolitische Konfrontation mit seinen Verbündeten: Sie erkannte die Unabhängigkeit Kroatiens an. Wenige Tage zuvor hatte der UN-Sicherheitsrat davor gewarnt und „alle Staaten dringend aufgefordert, auf jegliche Aktionen zu verzichten, die die Spannungen in Jugoslawien erhöhen sowie die Sicherung des Waffenstillstandes behindern und eine friedliche Lösung des Konflikts verzögern könnten“.12

Acht Jahre später beteiligten sich deutsche Soldaten unter NATO-Flagge am Krieg gegen Jugoslawien. Ein eklatanter Bruch des Völkerrechtes, angeordnet von einer Regierung aus SPD und Bündnisgrünen.


Atomare Ambitionen

Was der Berliner Republik auf dem Weg zu einer wirklichen Großmacht noch fehlt, ist die Ausrüstung der Bundeswehr mit eigenen Atomaffen. Der Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrages durch die Bundesrepublik 1969 waren jahrelange Auseinandersetzungen vorangegangen, in der die herrschenden Kreise Westdeutschlands lautstark und massiv Verfügungsgewalt über Atomwaffen und ihren Mitbesitz verlangt hatten.

1954 unterschrieb Adenauer den Verzicht auf die Produktion von ABC-Waffen und die nationale Verfügungsgewalt über Atomwaffen – die Eintrittskarte für NATO und WEU - nur mit dem Vermerk dass er nicht für eine künftige europäische Militär- und Atommacht gelten sollte. 

Zäh kämpften die Regierenden in Bonn für ihre atomaren Ambitionen.

„Ein erster Schritt der Bundesregierung in diese Richtung war das Eintreten für die Ausrüstung der Bundeswehr mit nuklearen Trägersystemen (…) danach konzentrierten sich die Mitsprache-Politik der Bundesregierung und die Diskussionen in der NATO von 1959 bis 1966 auf verschiedene Konzepte zur Bildung einer gemeinsamen Nuklearstreitmacht der NATO.“13

So auffällig wurde der deutsche Drang nach Atomwaffen, dass US-Präsident Kennedy in einem Interview mit der sowjetischen Zeitung Iswestija vom 25.11.1961 dieses Thema ansprach. In Adenauers Hausblatt Rheinischer Merkur hieß es daraufhin, dass „seit vielen Jahren (…) kein amerikanischer Präsident mehr seinem tiefen Misstrauen gegenüber Deutschland so deutlich Ausdruck gegeben“ habe.14

Atomwaffen waren den Bonner Herren ein probates Mittel für ihre revanchistischen Ziele. Nach der Abriegelung der DDR-Grenze am 13. August 1961 erklärte die Bundesregierung den Mauerbau zum NATO-Bündnisfall und forderte die Umsetzung der NATO-Strategie der „massiven Vergeltung“ mit vollem Einsatz von Atomwaffen. General Steinhoff verlangte als deutscher militärischer Vertreter bei der NATO zumindest den selektiven Atomwaffengebrauch. Noch im Dezember 1961 drängten Strauß und Oberst Beermann in Washington darauf, zumindest einige Atombomben demonstrativ über der Ostsee oder einem DDR-Truppenübungsplatz zu zünden.15

In den USA hatte man aber nicht die geringste Lust, für den durchgeknallten deutschen Verbündeten einen Atomkrieg mit der Sowjetunion zu riskieren, der Berlin-Konflikt wurde zu einem lokalen Konflikt herabgestuft, die Atomwaffen blieben in den Depots und unter US-Kontrolle.

In Bonn und Berlin sorgte man aber dafür, dass das Thema deutsche Verfügungsgewalt über Atomwaffen immer wieder demonstrativ zur Sprache kam.

Nachdem im Frühjahr 2006 der französische Präsident Chirac mit einem Einsatz von Atomwaffen gegen sogenannte „Schurkenstaaten“ gedroht hatte, stellte sich Bundeskanzlerin Merkel demonstrativ hinter den französischen Staatschef. Ihr Parteikollege, der ehemalige „Verteidigungs“minister Rupert Scholz sah die Gelegenheit gekommen, um das Thema deutsche Atomwaffen wieder in die politisch Debatte zu werfen. Eine kalkulierte Provokation. „Ich bin mir völlig darüber im Klaren, dass ich mit dieser Frage ein Tabu anspreche“, ließ er die Bild-Zeitung verbreiten. Er verlangte eine Änderung der NATO-Strategie und eine bindende Zusage, dass die NATO auf eine atomare terroristische „Bedrohung oder Erpressung“ mit dem Ersteinsatz von Atomwaffen reagieren würde. „Ohne entsprechende Schutzgarantien unserer Partner muss in Deutschland die Frage einer eigenen atomaren Abschreckung ohne Scheuklappen neu debattiert werden.“ 16


Strategie-Debatten – Machtspiele

Anfang 2008 legten fünf ehemalige hochrangige NATO-Generale, unter ihnen der pensionierte Vorsitzende des NATO-Militärkomitees und Bundeswehr-Generalinspekteur Klaus Naumann, ein Strategiepapier vor, in dem sie sich um die Sicherung der Vormachtstellung des westlichen Kapitalismus auf dem Globus sorgen.17

Sie sprachen sich für ein „Direktorium“ der Führungskräfte der USA, Europas und der NATO aus, das im Bedarfsfall schnell handeln und hart zuschlagen kann, notfalls auch durch den Ersteinsatz von Atomwaffen. Die Strategiedebatte im Vorfeld des NATO-Gipfels im April 2009 in Straßburg, Kehl und Baden-Baden war mit einem Paukenschlag eröffnet.

Im Februar 2009 lässt die Hamburger Körber-Stiftung Eric Gujers Buch „Schluss mit der Heuchelei. Deutschland ist eine Großmacht“ als „Policy Paper No. 1“ in englischer Sprache drucken. Der Deutschland-Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung soll im Auftrag der Stiftung Sätze wie diesen unter das Lesevolk bringen: „Die deutsche Außenpolitik lernt allmählich nicht ‚wir’ zu sagen, wenn sie eigentlich ‚ich’ meint.“ [18] Deutschland sei eine Großmacht und solle sich gefälligst auch so verhalten, hämmert er seinen Zuhörern bei Vorträgen in den Räumen der Deutschen Gesellschaft für Außenpolitik und anderswo ein.

Analysen und Kommentare zum „Ende des amerikanischen Jahrhunderts“ füllen die Seiten von Zeitungen und Zeitschriften.

Die schwächelnde Supermacht ist das allgegenwärtige Thema. Nicht zuletzt in den USA selbst. Die US-Geheimdienste warnen in einem Bericht vom November 2008 vor einem sinkenden Einfluss der USA in den kommenden zwei Jahrzehnten. „Obwohl die Vereinigten Staaten wahrscheinlich der mächtigste einzelne Akteur bleiben, wird ihre relative Stärke – sogar auf militärischem Gebiet – sinken und ihr Einfluss schwächer werden.“19 In Deutschland herrscht mitten in der tiefsten Wirtschaftskrise Erwartungsstimmung. Die Erbschleicher reiben sich die Hände. Das Wort von der „Führungspartnerschaft“ mit den USA macht wieder die Runde. War Kohl mit deutschen Ambitionen bei Bush senior noch abgeblitzt, hatte Schröder mit Frankreich gemeinsam versucht, sich der US-Dominanz zu entziehen, wollen Merkel und Steinmeier jetzt die Kommandobrücke entern.

„Das ist meine und die Erwartung vieler Europäer an die Vereinigten Staaten von Amerika“, hatte die Kanzlerin dem US-Vize Biden bei der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang Februar unmissverständlich klar gemacht, „uns sollte meiner Meinung nach einen, dass die internationalen Konflikte heute von keinem Land mehr allein gelöst werden können, sondern dass wir einander brauchen. Wir müssen dies gemeinsam tun. Egal, wie groß ein Land ist, keiner kann dies allein tun. Das heißt, der kooperative Ansatz muss die Grundlage unseres Handelns sein.“ 20

Dass die USA unter Obama, mit den desaströsen militärischen Altlasten der Bush-Truppe am Bein, mit einem unvorstellbaren Haushaltsdefizit von 1,75 Billionen Dollar und krisengeschüttelt, auf deutsche Hilfe angewiesen ist, gilt bei den Herrschenden in der Berliner Republik als ausgemacht. Die Frage ist, wie hoch der Preis für eine stärkere Machtbeteiligung werden wird.

Joe Biden hat in München klar gemacht, dass von Deutschland und den anderen NATO-Staaten mehr militärische Unterstützung erwartet wird. 

Vier einflussreiche US-Politikinstitute haben im Februar ein Papier für eine „Wiedergeburt“ der NATO vorgelegt.21

Sie verlangen von den NATO-Europäern, dass sie eine „voll taugliche NATO Response Force (NRF)“, also eine schnelle Eingreiftruppe für Einsätze „innerhalb und außerhalb“ des NATO-Gebietes ausrüsten und dazu mehr Soldaten abstellen. Die Militärhaushalte der europäischen NATO-Staaten müssten dazu erhöht oder die Ausgaben auf High-tech-Waffen, moderne Kampfplattformen und Hubschrauber konzentriert werden.

Das Naumann-Papier fordert, mit dem Konsensprinzip in der NATO Schluss zu machen. Deutschland könnte so rasch in eine Minderheitenposition kommen. Mitsprache soll es künftig nur noch für die militärisch Beteiligten geben. Bei Militäreinsätzen müssten nationale Vorbehalte abgeschafft werden.

NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer will den europäischen Mitgliedstaaten höhere Rüstungskosten auferlegen und den Finanzierungsmechanismus von NATO-Einsätzen verändern. Bisher gilt hier im Wesentlichen, dass die Beteiligten jeweils ihre Einsatzkosten aus der nationalen Kasse bezahlen.22

In Berlin scheint man bereit, militärisch in eine größere Weltmachtrolle zu investieren.

Mit der Entsendung von 600 zusätzlichen Soldaten nach Afghanistan hat Deutschland gerade den Vorreiter für die Ausweitung des Krieges am Hindukusch gemacht und übt Druck auf die NATO-Europäer aus, die bislang eher kriegsmüde waren.

Mit dem Rüstungshaushalt 2009 wurde insbesondere der Beschaffungsetat erhöht. Aus dem Konjunkturpaket II werden rund 500 Millionen Euro für die Bundeswehr abgezweigt. Ein beträchtlicher Teil geht direkt an die kämpfende Truppe in Afghanistan. Die Bundesmarine zeigt weltweit immer stärker Flagge. Am Horn von Afrika operiert sie gleich innerhalb von drei Flottenverbänden. Je nach Bedarf wird dabei auf den deutschen Kriegsschiffen die NATO- oder die EU-Flagge gehisst.

Wenn Frankreich zur Vollmitgliedschaft in der NATO zurückkehrt, so empfiehlt eine Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik, soll Deutschland das nutzen, „um die bestehenden Kräfteverhältnisse in der NATO zugunsten beider Länder zu korrigieren.“23

Allerdings hält man es in Berlin auch für möglich, dass „Paris eine privilegierte Partnerschaft mit Washington zu Lasten Deutschlands anstreben“ könnte und ist auf der Hut. 24

In Berlin klingeln daher alle Alarmglocken, wenn Frankreich NATO-Posten beansprucht, die bisher mit einem Bundeswehr-Offizier besetzt waren oder wenn Paris einen rein französischen Luftfahrt- und Rüstungskonzern neben der EADS aufbaut und bereits an einem eigenen (unbemannten) Nachfolger für den Eurofighter bastelt. [25]

Dennoch kündigte Merkel gemeinsam mit Sarkozy im Vorfeld der Münchner „Sicherheits“konferenz die Stationierung deutscher Soldaten auf französischem Boden im Rahmen der deutsch-französischen Brigade an. In einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung warnten beide die USA vor künftigen Alleingängen und forderten gleichzeitig von den NATO-Europäern ganz im Stile eines Generalstabes „ein hohes Maß an Disziplin“, weitere Stärkung der Militärmacht Europa und drohten Teheran, iranische Atompläne würden nicht geduldet und als „Bedrohung des Weltfriedens“ betrachtet.26



Anmerkungen

1 Zitiert nach Lorenz Knorr: Rechtsextremismus in der Bundeswehr. Frankfurt am Main, 1998. 
2 Clemens Range: Die geduldete Armee. 50 Jahre Bundeswehr. Berlin, 2005. Der Autor der Festschrift war politischer Leitender Redakteur der „Welt“, Kommandeur eines Panzergrenadierbataillons der Bundeswehr, Referent im Verteidigungsministerium und „Feindnachrichten“-Offizier im NATO-Stab CENTAG.
3 Lorenz Knorr ...
4 New York Times, 24.01.1951
5 Jörg Huffschmid, Werner Voß, Norbert Zdrowomyslaw: Neue Rüstung – Neue Armut. Aufrüstungspläne und Rüstungsindustrie in der Bundesrepublik Deutschland bis zum Jahr 2000. Köln, 1986.
6 Werner Biermann, Arno Klönne: Ein Spiel ohne Grenzen. Politik und Weltmachtambitionen in Deutschland 1871 bis heute. Köln 2009.
7 Vgl. z.B. Matthias Küntzel: Bonn und die Bombe. Deutsche Atomwaffenpolitik von Adenauer und Brandt. Frankfurt a.M., 1992. 
8 Arno Neuber: Militärmacht EUropa. Die EU auf dem Weg zur globalen Interventionsmacht. ISW-Report 56. München, 2003.
9 (Robert Kimmit, Abteilungsleiter für politische Angelegenheiten im US-Außenministerium, in: Hippler S. 133)
10 Wolfram Wette: Der Wunsch nach Weltmacht. „Die Zeit“ Nr. 31, 30.07.1993.
11 In Wahrheit handelt es sich um den Kommentar einer taz-Redakteurin zu Kohl-Bundestagsrede.
12 ADN 15.12.1991.
13 Christoph Hoppe: Zwischen Teilhabe und Mitsprache: Die Nuklearfrage in der Allianzpolitik Deutschlands 1959-1966. Baden-Baden, 1993.
14 Christoph Hoppe …
[15 Detlef Bald: Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte 1955-2005. München, 2005.
16 Reuters, dpa, 19.02.2006.
17 Towards a Grand Strategy for an Uncertain World: Renewing Transatlantic Partnership, URL: HYPERLINK http://www.worldsecuritynetwork.com/doduments/3eproefGrandStrat(b).pdf" http://www.worldsecuritynetwork. com/documents/3eproefGrandStrat(b).pdf.
Die Autoren sind neben Klaus Naumann der ehemalige NATO-Oberkommandierende in Europa John Shalikashvili, Henk van der Bremen (ehem. NL-Oberkommandierender), Jacques Lanxade (ehem. franz. Oberkommandierender) und Lord Inge (ehem. Chef des britischen Generalstabes).
18 Körber Stiftung, Policy Paper No. 1, Hamburg, 2009.
19 Zitat aus der Studie “Global Trends 2025” des National Intelligence Council, einem Prognose-Zentrum der US-Geheimdienste. Spiegel-online 20.11.2008.
20 Rede von Angela Merkel auf der Münchner Sicherheitskonferenz: www.bundesregierung.de/content/ DE/ Rede/ 2009/02/2009-02-07-rede-merkel-sicherheitskonferenz.html.
21 Alliance Reborn: An Atlantic Compact fort he 21st Century. The Wasgington NATO Project. Februar 2009. Eine gemeinsame Studie von Atlantic Council of the United States, Center for Startegic and International Studies, Center for Technology and National Security Policy (NDU), Center for Transatlantic Realtions - Johns Hopkins University (SAIS). HYPERLINK „http://www. acus.org/files/publication_pdfs/65/NATO-AllianceReborn.pdf“ www.acus.org/files/publication_ pdfs/65/ NATO-AllianceReborn.pdf
22 Jaap de Hoop Scheffer: Zeit für ein neues Konzept. Beitrag in „loyal“, März 2009.
23 Ronja Kempin: Frankreichs neuer NATO-Kurs. Sinneswandel, Pragmatismus, Politik für Europa? SWP-Studie, Berlin, Februar 2009.
24 dto.
25 Franzosen stärken EADS-Konkurrenten. Financial Times Deutschland vom 22.12.2008.
26 Wir Europäer müssen mit einer Stimme sprechen. Süddeutsche Zeitung vom 3.2.2009.