Verfassungskampagnen

An den Champs Elysées, dort, wo der Place Clemenceau liegt, steht das Denkmal für Charles de Gaulle; er ist in einer Weise dargestellt, wie er 1944 an der Spitze des Siegeszuges durch das befreite .

... Paris schritt, am Sockel die Worte: Die Idee der Freiheit und die französische Nation sind vor langer Zeit ein festes Bündnis eingegangen.

In genau diesem Sinne hatte die Mehrheit der Franzosen 2005 gegen die sogenannte EU-Verfassung gestimmt, wegen der verordneten Militarisierung der Europäischen Union und ihrer Außenpolitik, wegen der neoliberalen Orientierung sämtlicher Politik, die so Verfassungsrang erhalten sollte, und weil die angezielte Verschlechterung der sozialen Lage der Mehrheit der Menschen nun auch noch die höheren Weihen des Plebiszits erhalten sollte. Die europäische Linke feierte das Ergebnis in Frankreich als gemeinsamen Sieg, stellvertretend auch für all jene, die nicht selbst abstimmen durften, etwa die Deutschen. Es war zugleich davon auszugehen, man könne es mit der großen französischen Nation nicht so machen wie in der Vergangenheit mit anderen Bevölkerungen in der EU: daß man sie so lange abstimmen läßt, bis das Ergebnis in die Kalkulationen der Herrschenden und ihrer Regierer in der Union paßt.

Nun scheint es sich doch anders zu wenden. Das mit dem Verfassungstext umrissene Programm soll dennoch realisiert werden, schrittweise: Die Militarisierung läuft zielstrebig weiter, das derzeit laufende Durchdrücken der Bolke-Frankenstein-Richtlinie soll den Preis der Ware Arbeitskraft weiter in Richtung indisches Niveau senken und wird allgemein als das zentrale Anliegen der Union in diesem Jahr angesehen, und dann soll augenscheinlich auch das Verfassungsprojekt wieder in Angriff genommen werden. Die entsprechenden Äußerungen von Bundeskanzlerin Merkel werden von den Linken genauso verstanden, jedenfalls war dies während der Europäischen Vorbereitungsversammlung Anfang Januar in Wien für das nächste Europäische Sozialforum der Grundtenor der politischen Bewertung. Man will offenbar die französischen Wahlen abwarten und die Franzosen dann zu erneuter Abstimmung zur Verfassungsfrage nötigen. Die Auseinandersetzungen um die Verfaßtheit Europas sind also nicht entschieden, es geht in die nächste Runde.

Die Kritiker des Neoliberalismus und der von oben verordneten Globalisierungspolitik sagen jedoch nicht nur "Nein". Es geht um die Umrisse für ein "anderes Europa", das Verantwortung für eine "andere" Welt des Friedens und der Gerechtigkeit wahrnimmt. Das war bereits anläßlich der Europäischen Vorbereitungsversammlung im September 2005 in Istanbul vereinbart worden. Demgemäß tagte im November 2005 in Florenz eine Konferenz zur Vorbereitung einer Charta der Prinzipien für ein anderes Europa, an der etwa zweihundert Akteure aus verschiedenen Ländern Europas teilnahmen. Sieben Themen wurden diskutiert: Frieden und Sicherheit; Europa in der Welt von heute; Bürgerschaftlichkeit, Gleichheit und Differenz; die Arbeitenden und ihre Rechte; Demokratie und Partizipation; Für eine andere Wirtschaftsweise: Daseinsvorsorge und Ökologie; Für eine andere Wirtschaftsweise: Die sozialen Gemeingüter.

Die Texte jener Florentiner Versammlung wurden jetzt in Wien intensiv diskutiert. Die erste Frage, die gestellt wurde, war: Reden wir über Europa oder über die Europäische Union? Die Charta für ein anderes Europa wird der Gegenentwurf zu jenem EU-Verfassungskonzept sein; aber es wird ein Entwurf für das ganze Europa sein. Eine russische Diskutantin betonte, daß in Rußland vor fünfzehn Jahren die Illusion vorherrschte, der Kommunismus sei die Ursache für die Spaltung Europas gewesen; wenn jener falle, verschwinde auch die Spaltung des Kontinents. Heute sähen sie, daß sich diese Spaltung immer weiter vertieft. Zugleich jedoch existieren die Grenzen immer nur für die Armen, für die "einfachen Leute", die kontrolliert und schikaniert werden, während die Mächtigen, die "Reichen und Schönen" sich immer gegenseitig in Empfang nehmen. Rußland wird nie Teil der EU sein; aber es bleibt ein Teil Europas. So wird auch die "Charta für ein anderes Europa" für das ganze Europa gemacht werden, nicht nur für die EU-Länder. Es geht um die gemeinsamen Werte eines sozialen Europas, nicht um ein Europa als geopolitisches Konstrukt. Zugleich umreißt die Charta Europa aus der Sicht von Prinzipien, Werten und Rechten der Bürger und aller hier Lebenden, nicht unter der Perspektive von Institutionen und Ausgrenzungen.

Die Politik des Neoliberalismus führt in der EU wie im Osten des Kontinents zu wachsender Armut, die auch Exklusion bedeutet, die wiederum die Bürger- und Menschenrechte immer weiter verletzt. Insofern bedeutet ein Leben in Würde auch ein Leben ohne Armut, das ein Grundrecht jedes Menschen sein muß - und alltäglich verletzt wird.

Die Charta wird in einer Reihe von Veranstaltungen während des Europäischen Sozialforums (das vom 4. bis 7. Mai in Athen stattfindet) diskutiert werden. Danach wird die Linke mit der Charta in die breite europäische Öffentlichkeit gehen. Das Nein zu der EU-Verfassung ist das Ja zu einem anderen Europa. Diese Auseinandersetzung wird auch in Deutschland nachhaltig zu führen sein. Der zu befürchtenden Kampagne "der da oben" wird sich die Kampagne "der da unten" entgegenstellen, europaweit.

in: Des Blättchens 9. Jahrgang (IX) Berlin, 23. Januar 2006, Heft 2

aus dem Inhalt:
Martin Nicklaus: Große Freiheit; Ove Lieh: Der Linksdeichgraf; Ignaz Wrobel: Die Verräter; Uwe Stelbrink: Ungetilgte Hypotheken; Heerke Hummel: Zu eng gedacht; Erhard Crome: Verfassungskampagnen; Franz Schandl, Wien: Die Partner; Wladislaw Hedeler: Stalins zweiter Schauprozeß; Wladimir Wolynski, Moskau: GULag als Event; Roland M. Richter, Kiew: Stabile Instabilität; Klaus Hart, Rio de Janeiro: Oscar Niemeyer; Franz Zauleck: Gerhard Oschatz; Jens Knorr: Verbrechen und Sühne; Frank Hanisch: Hallesche Nächte; Frank Ufen: Das X im Sex