Die EU am 50. Jahrestag der Römischen Verträge

Vor 50 Jahren - am 25. März 1957 - wurden in Rom von Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden die [Römischen Verträge] unterzeichnet: der Vertrag über die ...

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Vertrag über die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM). Damit war der Grundstein für die spätere Europäische Union (EU) gelegt.

Am 50. Jahrestag dieser Verträge befindet sich die EU in einer tiefen Krise. Und dies, obwohl sie sich für die Völker der beteiligten Staaten lange als vorteilhaft erwiesen hat. Sie trug zur Friedenssicherung und durch den gemeinsamen Binnenmarkt zur Wohlstandsmehrung bei. Aus der EWG der 6 ist eine EU der 27 geworden - ein historisch einmaliges Gebilde, weder Staatenbund noch Bundesstaat, sondern Staatenvereinigung mit supranationalen Institutionen und einer Reihe gemeinsamer Politiken. Sie hat 490 Millionen Einwohner und verfügt über den weltweit größten Binnenmarkt. 13 Mitgliedstaaten mit 315 Millionen Einwohnern haben eine gemeinsame Währung, die eine der bedeutendsten im internationalen Währungssystem ist. Aber: Der bisherige Weg der EU wurde vornehmlich von Wirtschaftsinteressen und einem neoliberalen Kurs bestimmt. Das transnationale Kapital verfügt über eine gewaltige ökonomische und finanzielle Macht und übt in der Union mittels seiner Lobbys den entscheidenden Einfluss aus. Zugleich nehmen Auseinandersetzungen um die Perspektive der Union zu.

Mehr als "nur" eine Verfassungskrise
Die Ergebnisse der Referenden in Frankreich und den Niederlanden im Jahre 2005 zum Europäischen Verfassungsvertrag (EVV) waren ein geschichtlicher Einschnitt und führten die tiefgehende Krise der EU unübersehbar vor Augen. Die Einschätzungen über den Charakter dieser Krise freilich divergieren.

Viele der heute hervortretenden Konflikte gären bereits seit langem. Allerdings hatte dieses Gären oft eine die Integration vorantreibende Wirkung. Schon die Gründung der EWG 1957 war in wesentlichen Teilen ein Überbrücken von Widersprüchen. Schon 1961/62 brachte Frankreich mit den Fouchet-Plänen die Idee einer konföderalen Union ins Spiel, scheiterte damit aber noch. Erst 1992 gab es mit dem Maastrichter Vertrag eine Rückkehr zum Projekt einer Politischen Union; eine engere Zusammenarbeit in der Außenund Sicherheitspolitik (GASP) wurde vereinbart. Französischer Widerstand gegen den Übergang zu Mehrheitsentscheidungen im Gemeinsamen Markt hatte 1966 zum Luxemburger Kompromiss geführt, nach dem ein Mitgliedstaat in einer national wichtigen Frage nicht überstimmt werden dürfe. Das galt bis zur Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) von 1987, die den Übergang zum einheitlichen Binnenmarkt vorsah und die Mitgliedstaaten zu einem rigorosen neoliberalen Kurs verpflichtete. 1971 hatten sich die EWG-Länder mit dem Werner-Plan für eine Währungsunion ausgesprochen. Aber erst mit dem Maastrichter Vertrag wurde die Konstituierung einer Währungsunion vertraglich vereinbart. Mit der "Osterweiterung" kam die Perspektive einer gesamteuropäischen Politischen Union wieder ins Blickfeld.

Die jetzige Krise der EU ist aber eine qualitativ andere als die vormalige. Sie ist viel komplexer, und sie geht tiefer. Sie berührt sowohl den sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen, bürgerrechtlichen und institutionellen Bereich als auch das Handeln der EU in den Außenbeziehungen und ihre globale Rolle. Für die Europäische Linkspartei sind um sich greifende Prekarisierung, soziale Unsicherheit und verstärkte Ungleichheit der Kern dieser Krise, die zugleich eine umfassende Vertrauenskrise ist.1 Die Bürgerinnen und Bürger sehen ihre Erwartungen enttäuscht, denn sie mussten zur Kenntnis nehmen, dass die EU als Instrument zum Abbau sozialer Errungenschaften dient. Bürgerrechte werden begrenzt. Der Einfluss rechtspopulistischer Kräfte nimmt zu. Ausländerfeindlichkeit und offener Rassismus grassieren. In mehreren Ländern gibt es Parteien, die an den demokratischen Fundamenten rütteln. Innerhalb der EU erlangen zudem die Auseinandersetzungen um Einfluss und Machtverteilung neue Dimensionen. Die Staatenbeziehungen werden komplizierter. Unterschiedliche Interessen werden intensiver vertreten. Verschiedenartige Koalitionen zeichnen sich ab. Insbesondere in den Beitrittsländern nimmt die Sorge um Verlust an Souveränität zu. Tendenzen einer Renationalisierung von Integration zeichnen ab. Die Wechselbeziehungen zwischen Vertiefung der EU einerseits und ihrer erneuten Erweiterung andererseits sind umstritten und entzünden sich insbesondere an der Frage des Beitritts der Türkei. Auch das internationale Agieren der EU ist ein Konfliktfeld, nur scheinbar sind die Gegensätze zwischen "altem" und "neuem" Europa aus der Zeit des Beginns des Irak-Krieges 2003 überbrückt. Die Militarisierung der EU findet nicht geringe Unterstützung, ruft aber andererseits auch mannigfache Besorgnisse weit über die Friedensbewegungen hinaus hervor.

Insgesamt verstärkten sich in den letzten Jahren Kritik und Ablehnung der negativen Aspekte der Integration. Der Widerstand gegen den neoliberal dominierten Kurs wurde breiter. Das französische und niederländische "Nein" zum Verfassungsvertrag führte zu einer qualitativ neuen Situation. Die Verfassungskrise verdeutlicht, wie weit die Union von politischer Identität entfernt ist, wie tiefgreifend die Divergenzen zwischen weitreichenden Visionen einerseits und der Wirklichkeit andererseits sind. Der Integrationsprozess stockt. Die Potenzen des bisherigen Weges erschöpfen sich.

"Die Europäische Union ist in zentralen Bereichen das Gegenteil der positiven Visionen geworden, die die Menschen in den 1950er Jahren bewegten: Statt zu einer gesamteuropäischen Friedensunion befindet sich die EU auf dem Wege zu einem aggressiven globalen Machtblock, der zur Sicherung von Ressourcen und Handelswegen mit militärischer Gewalt weltweit rüstet", heißt es in einer Erklärung des Wissenschaftlichen Beirats von Attac zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft. 2

Die heutigen Herausforderungen können für die EU und ihre Währungsunion existenzielle Bedeutung annehmen. Selbst maßgebliche politische und wirtschaftliche Eliten befürworten angesichts dieser Situation eine öffentliche Debatte über die Zukunft der Union, um ein neues Engagement für das "europäische Projekt" zu erreichen. Das freilich hat für manchen unter diesen Entscheidungsträgern nur Alibifunktion. Insgesamt suchen die maßgeblichen wirtschaftlichen und politischen Eliten die Gesamtentwicklung der EU noch weiter als bisher in eine antisoziale, repressive und militärische Richtung zu drängen.

Linke Positionen
Die Linke hat eine besondere Verantwortung, die Union aus der Sackgasse zu führen. Eine Vielzahl von Fragen muss beantwortet werden. Konsens gibt es in der Einschätzung, dass die EU vom großen Kapital und neoliberaler Politik dominiert wird. Verschieden aber sind die Ansichten über die verteidigungswerten Aspekte der Integration. Das betrifft solidarische Gesichtspunkte, den vieljährigen zivilen Charakter der EU sowie den Charakter der Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten. Linke Kritik zielt nicht auf den Zerfall der EU in ein nationalstaatliches Europa, sondern auf eine qualitativ andere Integration.

Die Union ist Rahmen demokratischer und sozialer Auseinandersetzungen. Eine Perspektive gesellschaftlicher Veränderungen muss die Existenz und Wirkungsweise der EU in Rechnung stellen. Grundlegende sozialpolitische Ziele können nicht mehr nur nationalstaatlich erreicht werden. Linke Kräfte engagieren sich daher für eine "neue EU" als einen demokratischen, sozialen, ökologisch agierenden, bürgerrechtlichen, zivilen und weltoffenen Staatenverbund. Zentrale Aufmerksamkeit gilt hierbei der Verteidigung und dem Ausbau des europäischen Gesellschafts- und Sozialmodells sowie den mit dem konstitutionellen Prozess verbundenen demokratischen Fragen. Der Bürgerbeteiligung wird erstrangige Bedeutung beigemessen. Entscheidende Bausteine einer neuen EU müssen die Abkehr vom marktradikalen Fundamentalismus nach innen und von der Absicht sein, im Bündnis mit den USA weltweit eigene Interessen notfalls auch militärisch durchzusetzen.

Über eine EU-Verfassung gibt es in den Reihen der Linken unterschiedliche Ansichten. Sie reichen vom generellen "Nein" über den Standpunkt, die Union funktioniere auch ohne Verfassung und der mit dem Nizza-Vertrag bestehende Status quo reiche aus, bis hin zu der Auffassung, das "Nein" zum jetzigen Verfassungsvertrag könne unter bestimmten Bedingungen zur Zustimmung führen. Dominierend ist allerdings die Position, die Union benötige für einen Neugründungsprozess einen gemeinsamen Rahmen.

Dazu wird ein demokratischer konstitutioneller Prozess befürwortet, wobei mit Recht unterstrichen wird: Ein Verfassungsvertrag darf gesellschaftliche und demokratische Veränderungen nicht ausschließen. Er muss wirtschaftspolitisch neutral und gegenüber einer gemischt-wirtschaftlichen Ordnung mit einem bedeutenden öffentlichen Sektor sowie künftigen politischen Entwicklungen offen sein. Alternative Projekte zum gescheiterten Verfassungsvertrag sind für demokratische Verfassungsbewegungen unverzichtbar. Dazu zählen die von der Sozialforumsbewegung vorgelegte "Charta der Grundsätze für ein anderes Europa".3 Wichtige Aspekte enthalten die Erklärung des Wissenschaftlichen Beirats von Attac zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft vom Dezember 2006 4 sowie der Entschließungsantrag der Bundestagsfraktion "Die Linke zur deutschen Ratspräsidentschaft".5

Ein bedeutender Schritt nach vorn ist das von Gregor Gysi und Oskar Lafontaine vorgelegte Memorandum für einen Verfassungsvertrag, in dem es heißt: "Wir legen Ecksteine für einen demokratischen, freiheitlichen, sozialen und Frieden sichernden Verfassungsvertrag als Diskussionsentwurf vor. (...) Die Linke will die Europäische Union als einen politischen, ökonomischen, sozialen und ökologischen Verbund von staatlich organisierten Völkern. Der Verbund folgt demokratischen Prinzipien. Er ist gerichtet auf Frieden und Wohlergehen der Völker, der europäischen wie aller anderen. Zu den verfassungsrechtlich verankerten Werten und Zielen der EU gehört untrennbar die Sozialstaatlichkeit und die Schaffung einer Sozialunion, in der hohe Standards gelten. Die EU wird nach den Grundsätzen der Subsidiarität tätig. Die Mitgliedstaaten behalten einen Grundbestand souveräner Rechte."6 Mit dieser Initiative werden in der Bundesrepublik alternative Vorstellungen zur Verfasstheit der EU sowohl generell als auch hinsichtlich der zentralen Integrationsrichtungen stärker publik. Damit in Zusammenhang sollten die demokratischsozialistischen wie antifaschistischen Traditionen und Werte mehr in das Blickfeld gerückt werden. Wenn immer wieder betont wird, Europa müsse sich seiner gemeinsamen Werte bewusst werden, dann betrifft das auch die sozialistischen.

Zukunftsdebatte
Antworten auf die Frage, welche Zukunft die EU haben wird und welche Ziele mit der EU und durch sie erreicht werden sollen, sind vielfältig. Die einen befürworten nach wie vor Entwicklungen zu einer föderalen Staatenunion. Der belgische Premier Guy Verhofstadt möchte die gegenwärtige Krise der EU nutzen, um ein noch größeres Projekt als eine EU-Verfassung in Angriff zu nehmen, das "Europa " einen gewaltigen Schritt nach vorn bringen soll. Er plädierte in der Bertelsmann-Stiftung für "Vereinigte Staaten von Europa" mit einer gemeinsamen Wirtschafts- und Sozialpolitik, einem gemeinsamen Sicherheits- und Rechtsraum und einer gemeinsamen europäischen Armee.7 Andere befürworten zwischenstaatlich bestimmte Konstruktionen für eine Politische Union. Das wäre eine Konföderation von EU-Staaten, in der auch föderale/supranationale Strukturen und Elemente wirksam sind. Wieder andere halten nur eine lose politische Vereinigung für möglich oder akzeptabel, sähen am liebsten eine Perspektive der EU als eine bloße Freihandelszone und können sich mit einem "politischen Europa" wenig anfreunden. Auch in den Reihen der Linken divergieren die Standpunkte. Äußerungen zu politischen Projekten sind zurückhaltend. Gewiss sollte die Linke weder in die Falle föderaler Konstruktionen noch eines Staatenverbundes als vornehmlich zwischenstaatlicher Kooperation tappen. Mehr Eindeutigkeit hinsichtlich einer politischen Union wäre geboten.

Eine Politische Union liegt in der Logik der Integration. Sie kann aber nicht nach bundesstaatlichen Blaupausen konstruiert werden. Die EU ist ein Gebilde, das sich auf Nationalstaaten gründet. Die Mitgliedstaaten spielen trotz Abgabe wichtiger Souveränitätsrechte weiterhin die zentrale Rolle. Die Völker wenden sich mehrheitlich gegen deren Verwandlung in Gliedstaaten einer föderalen Union. Die Menschen sind noch immer vor allem mit Nationalstaaten und nicht mit "Europa" verbunden. Die Nationalstaaten bleiben tragende Pfeiler der unionsweiten Ordnung. Die Bürgerinnen und Bürger machen vor allem ihre Regierungen für ihr Schicksal verantwortlich.

Trotzdem darf wiederum auch kein rein zwischenstaatlicher Ansatz verfolgt werden. Perspektive der EU dürfte eine Mischform aus zwischenstaatlicher Zusammenarbeit und supranationalem Souveränitätsverzicht sein. Aber Zuständigkeiten in der EU müssen übersichtlicher als im Verfassungsvertrag abgegrenzt werden - und zwar so, dass progressive Handlungsmöglichkeiten nicht in Frage gestellt werden und maximale Bedingungen für direktdemokratische Teilnahme geschaffen werden.

Die Verfasstheit der Union berührt grundlegende Fragen der Machtverteilung zwischen den Mitgliedstaaten. Gleichberechtigte Beziehungen zwischen Staaten und Völkern sind für eine demokratische Entwicklung der EU unabdingbar und müssen gegen bedrohliche Dominanzpolitik verteidigt werden. Hegemonialansprüche der großen Mitgliedstaaten, sei es in Gestalt einer deutsch-französischen Achse oder etwaiger Direktorien, stoßen auf Widerstand. Kleinere und mittlere Mitgliedstaaten müssen im System der Union gleiche Mitentscheidungsrechte haben und gleichberechtigt an den Institutionen und der Tätigkeit der EU teilnehmen können.

Das institutionelle System der EU darf keine Machtpolitik begünstigen. Das aber verbirgt sich hinter dem Streit um den demographischen Faktor bei qualifizierten Mehrheitsentscheidungen im EU-Ministerrat. Eine solche stärkere Berücksichtigung der Bevölkerungsgrößen entspricht vor allem deutschem Interesse.Einstimmigkeitsregeln bleiben weiterhin notwendig, um einzelstaatliche Interessen zu verteidigen. Nationales Vetorecht in der Sicherheitspolitik ist unverzichtbar. Entscheidungsverfahren müssen gewährleisten, dass nicht eine Gruppe von Mitgliedstaaten als Hegemon in der EU handeln kann.

Eine Verfassungsdebatte wird sich mit neuen Vorschlägen zur Machtverteilung befassen müssen, um die Integration auf gleichberechtigter, demokratischer und solidarischer Grundlage zu befördern. Im Bundestagsantrag der Fraktion DIE LINKE. heißt es hierzu: "Die qualifizierte Mehrheit, bestehend aus der Mehrheit der Bevölkerung der EU und der Mehrheit der Mitgliedstaaten, muss neu definiert werden. Sie soll den demographischen Faktor zwar beachten, aber nicht überbetonen und ausgewogene Regelungen zum Schutz von Minderheiten enthalten."8

Es sind zudem neue Regelungen dringlich, die die Autonomie von Regionen und Kommunen fördern, ohne zugleich zu einem "Europa der Regionen" zu führen, das in den Mitgliedstaaten Partikularismus oder gar Separatismus fördern könnte.

Schlüsselfrage Sozialunion
Die Perspektive der EU ist untrennbar mit ihrer wirtschaftlichen und sozialen Orientierung verknüpft. Seit den 80er Jahren wird der Weg wirtschaftsliberaler Marktintegration verfolgt. Mit der Lissabon- Strategie, nach der die EU mittels eines rigorosen neoliberalen Kurses bis 2010 zum weltweit wachstumsstärksten Wirtschaftsraum werden soll, verfolgten Rat und Kommission noch intensiver eine Politik mit dem vorrangigen Ziel, durch Deregulierung und marktradikale Maßnahmen die Wettbewerbsfähigkeit der EU zu stärken. Neuer Druck wird nunmehr zur weiteren Liberalisierung der Energie- und Postmärkte und zugunsten eines einheitlichen Finanzmarktes ausgeübt. Der rücksichtslose Standortwettbewerb wird vorangetrieben. Der Wissenschaftliche Beirat von Attac gelangte zu dem Schluss: "Die wirtschaftliche Entwicklung der EU zeigt jedoch, dass Marktradikalität nicht zu ökonomischer Stärke und sozialer Sicherheit, sondern zu Wachstumsschwäche, Arbeitslosigkeit, sozialer Polarisierung und ökologischer Zerstörung führt. Die Zunahme von Armut und massenhafter Prekarisierung in den meisten Ländern der EU in den letzten Jahren ist eine äußerst alarmierende und völlig unakzeptable Entwicklung. Umgekehrt zeigt sich aber auch, dass die skandinavischen Länder, die sich dem allgemeinen Trend zur Deregulierung und Liberalisierung weitgehend entzogen haben, in jeder Hinsicht positivere Ergebnisse erzielen. Statt hieraus die Konsequenzen zu ziehen und den neoliberalen Kurs zu verlassen, will die EU ihn durch weitere Deregulierungen und Marktöffnungen fortsetzen und vertiefen."9

Die Akzeptanzkrise des Neoliberalismus widerspiegelt sich im französischen und niederländischen "Nein" zum Verfassungsvertrag. Das demonstrierten die vielfältigen Aktionen gegen die Dienstleistungsrichtlinie. Die Krise der EU veranlasst unterschiedlichste Kräfte zu mehr Engagement für die soziale Dimension der EU. Nicht nur linke Kritiker weisen warnend darauf hin, die EU müsse scheitern, wenn sie nur als eine gigantische Freihandelszone funktioniere, in der alle öffentlichen Güter privatisiert und den Konzernen einverleibt werden. Die Linke macht deutlich, dass die EU den politischen und sozialen Menschenrechen gleichermaßen verpflichtet sein muss. Eine Verfassung muss unionsweit das Recht auf menschenwürdige und Existenz sichernde Arbeit, das Recht auf soziale Sicherheit, auf Schutz vor Armut und sozialer Ausgrenzung gewährleisten.

Die maßgeblichen Kräfte der EU-Eliten halten indes an der neoliberalen Fixierung von Wirtschafts-, Währungs- und Beschäftigungspolitik fest. Die neoliberale Grundorientierung des Verfassungsvertrages soll beibehalten werden - möglicherweise ergänzt durch diese oder jene Garnierung, wozu Erwägungen der Bundesregierung über eine Sozialcharta gehören.

Zentrale, nicht einhellig geteilte Standpunkte der Linken sind in diesem Zusammenhang:

Erstens: Das in einem langen Zeitraum erkämpfte "europäische Sozialmodell " muss gegen die übermächtigen Interessen der Wirtschaft behauptet werden. Wirtschaftspolitik muss nachhaltige Entwicklung und Vollbeschäftigung fördern. Aus der Sicht der internationalen Euro-Memorandum-Gruppe sind hierzu eine entwicklungsfreundliche Koordinierung der Konjunktur-, Wachstums- und Strukturpolitik in einem makroökonomischer Rahmen sowie der gezielte Einsatz eines deutlich höheren EU-Haushalts nötig. Abwehr der einseitigen Wirtschaftsausrichtung der EU und Übergänge zu einer anderen Wirtschafts- und Sozialpolitik bleiben eine langfristige Aufgabe.10 Breiterer Widerstand gegen die von den Interessen des Kapitals und des Binnenmarktes dominierte Arbeitsmarktpolitik ist dringlich, um den Kurs auf Flexibilisierung der Arbeitsmärkte zu durchkreuzen. Es geht um menschenwürdige und Existenz sichernde Arbeitsplätze und eine Angleichung auskömmlicher sozialer Standards. Dem Wettlauf von Lohn- und Sozialdumping zwischen den Ländern und Regionen der EU muss Einhalt geboten werden. Es geht um Schutz und Weiterentwicklung von Arbeitnehmerrechten auf dem entstehenden EU-Arbeitsmarkt, darunter um Mitbestimmungsrechte in europäischen Unternehmen. Das ist schwierig, sind doch die gewerkschaftlichen Gegebenheiten in den einzelnen Mitgliedsländern sehr unterschiedlich. Unmittelbar geht es um die Einflussnahme auf die Revision der Richtlinie über Europäische Betriebsräte. Arbeitgeberverbände wenden sich energisch gegen neue Regelungen im Bereich der Beschäftigungs- und Sozialpolitik, selbst gegen bescheidene Vorschläge, wie sie im Grünbuch der EU-Kommission "Ein modernes Arbeitsrecht für die Herausforderungen des 21.Jahrhunderts" zu sozialer Sicherheit unterbreitet werden.11 In diesem Grünbuch betont die Kommission zwar, größere Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt müsse mit größtmöglicher Sicherheit für alle verbunden werden, in der Tat aber werden flexiblere Arbeitsformen mit einem Minimum an sozialen Rechten für die Beschäftigten befürwortet.

Zweitens: Im Binnenmarkt muss ein fairer Standortwettbewerb stattfinden. Ein Steuerwettlauf nach unten darf bei aller steuerpolitischen Autonomie der Mitgliedstaaten nicht zugelassen werden. Dem sozialen Abwärtswettlauf, dem Lohn- und Steuerdumping muss durch Steuerharmonisierung, schrittweise Angleichung sozialer Rechte und Standards sowie ökologische Mindeststandards nach oben begegnet werden. Unmittelbare Aufgaben sind eine unionsweite soziale Grundsicherung und ein Mindesteinkommen für alle Bürgerinnen und Bürger einschließlich von Migrantinnen und Migranten nach bestimmten Richtwerten. Jeder hat Anspruch auf ein Grundeinkommen. Dazu müssten strenge Regeln für eine Grundsicherung verabschiedet werden.

Drittens: Die Wirtschaftslobby macht Druck, um die Verfügbarkeit öffentlicher Güter weiter abzusenken. Dazu wird die widersprüchliche Dienstleistungsrichtlinie genutzt.12 Ständige Aufgabe bleibt: Das "öffentliche Interesse" muss gegen den Deregulierungskurs von Regierungen und Kommission verteidigt werden. Die zentralen Bereiche der Daseinsvorsorge müssen dem Profitstreben privater Konkurrenz entzogen und demokratisch organisiert werden. Der Schutz des Gemeinwohls und sozialstaatlicher Regelungen der "Daseinsfürsorge" (Bildung, Gesundheit, Müllabfuhr, öffentlicher Nahverkehr, Energie- und Wasserversorgung) bleibt ein entscheidendes Aktionsfeld. Die Verantwortung der Kommunen muss gewahrt bleiben. Die Verteidigung des Systems öffentlicher Banken und Sparkassen bleibt insbesondere in der Bundesrepublik eine ständige Aufgabe.

Viertens: Die Wettbewerbspolitik muss dem Marktradikalismus begegnen und die Macht der Konzerne stutzen. Demokratische Kontrolle der Wirtschaft, Begrenzung der Macht der internationalen Finanzmärkte, von Banken und Finanzinstituten müssen in und mittels der Union erkämpft werden. Dazu gehört demokratische Fusionskontrolle. Wie wichtig das ist, zeigen die Konflikte um die Fusion der Stahlkonzerne Mittal und Arcelor, der Energieerzeuger Eon und Endesa sowie um die Übernahme polnischer Banken.

Fünftens: Die Zukunft der EU wird umfassendere finanzielle Solidarität erfordern, insbesondere mit Blick auf die neuen Mitglieder. Die Struktur- und Regionalpolitik muss wirksamer zu einer ausgewogenen Wirtschaftsentwicklung beitragen und gewährleisten, dass weniger entwickelte Regionen auch künftig angemessene Unterstützung finden. Eine Renationalisierung dieser Politiken würde Ansätze einer sozialen Ausgleichspolitik torpedieren. Versuchen, durch Berufung auf das Subsidiaritätsprinzip partikularistische und antisolidarische Tendenzen zu legitimieren, muss begegnet werden. Das Eigenmittelsystem der Union sollte geändert und eine verlässliche Haushaltsautonomie der EU erreicht werden. Nur so kann die EU auch über die notwendigen Mittel verfügen, um in zukunftsweisende Projekte zu investieren.

Ein weites Feld bleibt die Währungsunion. Mit der einseitig monetaristischen Konstruktion muss gebrochen, der Stabilitätspakt, der den unterschiedlichen wirtschaftlichen, budgetären und sozialen Erfordernissen nicht gerecht wird, muss korrigiert werden. Die Europäische Zentralbank (EZB) muss demokratischer Kontrolle unterliegen. Die Geldpolitik darf sich nicht nur auf Preisstabilität und Fiskalpolitik, nicht nur auf Haushaltsausgleich in Euroland konzentrieren. Eine Wirtschaftsregierung könnte im Euroland bei entsprechenden Kräftekonstellationen zu einem Gegenpol zur EZB werden. Wichtige Aufgabe bleibt die Besteuerung der Finanzspekulation und spekulativer Steuergewinne, insbesondere die Einführung einer Tobinsteuer auf Devisenhandel. Das könnte zum Ansatz einer weltweiten Regelung der internationalen Finanzmärkte werden.

Gesellschaftliche und soziale Fortschritte sind engstens mit der Wirtschaftsordnung in der EU verknüpft. Ein Verfassungsvertrag darf sich nicht einseitig auf ein wirtschaftsliberales Politikkonzept festlegen. Auch der dritte Teil des Verfassungsentwurfes eröffnet keine politischen Spielräume und müsste daher gestrichen werden. Ein Verfassungsvertrag muss demokratische Entscheidungen über unterschiedliche Richtungen der Wirtschafts- und Sozialpolitik ermöglichen - auch solche, die auf Zurückdrängung von Wirtschaftsmacht zielen. Für die Linksfraktion im Bundestag muss die nähere Bestimmung der Eigentumsordnung den Mitgliedstaaten überlassen bleiben. "Die Verfügung über das Eigentum und seine Nutzung muss auch sozialen Belangen, dem Umweltschutz und anderen Erfordernissen des Gemeinwohls entsprechen. (Â…) Keine Bestimmung der Verfassung oder sonstigen Gemeinschaftsrechts darf so ausgelegt werden, als schließe sie eine begrenzte und entschädigungspflichtige Überführung einzelner Wirtschaftsbereiche in nationale Formen des Gemeineigentums aus oder als erzwinge sie die Privatisierung bestehenden Gemeineigentums, öffentlicher Unternehmen und Einrichtungen der Daseinsvorsorge."13

Diese Thematik bedarf weitergehender Diskussionen und Folgerungen für eine etwaige Politische Union, die für demokratische gesellschaftliche Veränderungen in einzelnen oder in mehreren Mitgliedstaaten Gestaltungsräume öffnet.

Globale Rolle: zivil
Vieles spricht dafür, dass die Union ihre Rolle als internationaler Akteur mit globalem Einfluss trotz gravierender Interessenunterschiede festigen wird. Damit werden sehr unterschiedliche Ziele und Absichten verbunden. Maßgebliche Eliten träumen von einer militärischen Weltmachtrolle, fordern dazu den Ausbau militärischer Kapazitäten, drängen auf Interventionsstreitkräfte und entsprechen damit Wünschen des militärisch-rüstungswirtschaftlichen Komplexes.

Seit Maastricht militarisiert die EU im Geleitzug mit den USA die Außen- und Sicherheitspolitik. Die friedliche Kooperation in Westeuropa wird mit geostrategischen Überlegungen verknüpft. In Konkurrenz mit anderen Machtzentren setzt die EU nicht mehr nur auf wirtschaftlichen Wettbewerb, sondern in mittelfristiger Perspektive auch auf die militärische Sicherung von Interessensphären. Unser langfristiges Ziel sollte sein, so der SPD-Vorsitzende Kurt Beck im November 2006, im Rahmen einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion Einheiten mit integrierten Kräften unter einem einheitlichen Kommando zu schaffen. Dies sei notwendig, um Europa sicherheitspolitisch handlungsfähiger zu machen.14

Intensivere militärische Zusammenarbeit zielt in einer langfristigen Perspektive auf eine gemeinsame europäische Verteidigung. Dabei spielen der Zugang zu Energieressourcen und die Sicherung der Rohstoffversorgung eine zentrale Rolle. Vor diesem Hintergrund wächst die Bereitschaft, in "Friedensmissionen" militärisch zu intervenieren und die Gebiete militärischen Engagements auszuweiten. Die Fähigkeiten zu Militärinterventionen werden gestärkt. Die Verteidigungsagentur drängt auf ständige Verbesserung der militärischen Potenziale. "Zivil"-militärische Strukturen werden ausgebaut. Welche Gestalt der Verfassungsvertrag auch annehmen sollte - an der Aufrüstungspflicht der Mitgliedstaaten soll nach Auffassung der Machteliten unbedingt festgehalten werden.

Für friedensengagierte Kräfte zeichnet sich so eine besorgniserregende Entwicklung ab. Sie finden sich mit der Militarisierung der EU nicht ab. Politische Ziele müssen mit ausschließlich friedlichen und zivilen Mitteln verfolgt werden. Die Linke fordert eine Rückbesinnung auf die friedlichen Intentionen der Römischen Verträge. Die EU müsse ziviler Akteur für Frieden und Völkerverständigung bleiben. Dazu muss der zivile Charakter der gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Union festgeschrieben werden. Unverzichtbar bleibt hierbei die Verteidigung nationaler Souveränität. Beschlüsse zu essenziellen Fragen müssen einstimmig gefasst werden, sollten aber künftig der Zustimmung des Europäischen Parlaments (EP) unterliegen.

Zentrale Aspekte alternativer Positionen sind: deutliche Abrüstung von konventionellen und Massenvernichtungswaffen; Maßnahmen in Richtung struktureller Nichtangriffsfähigkeit; Orientierung der Streitkräfte ausschließlich auf europäische Territorialverteidigung; defensive Verteidigung der Union; Auflösung der Battle-Groups; Umwandlung der Verteidigungsagentur in eine Agentur für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Konversion; Beendigung der EUMilitäreinsätze. Das Gewicht der EU müsse der ausschließlich zivilen Regelung internationaler und innerstaatlicher Konflikte dienen. Ein Verfassungsvertrag, der Militarisierung und Rüstung für die ehemals friedensstiftend orientierte EU zum Gebot der Politik erklärt (Artikel 41 I), darf nicht in Kraft treten, denn das wäre eine verfassungspolitische Festlegung, die einem Politikwechsel entgegensteht.

Zentrale Aufgabe: Demokratisierung
Eine umfassende Demokratisierung der EU bleibt ein zentrales Problem ihrer Zukunft. Für die Linke kann die Union dauerhafte Stabilität nur durch demokratische Legitimation erlangen. Davon ist sie jedoch weit entfernt. Willensbildung und Entscheidungsfindung im Europäischen Rat und im Ministerrat, mit Unterschieden auch in der Kommission, sind weitgehend anonym. Der Verfassungsvertrag erweitert die begrenzten Rechte des EP, insbesondere durch Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens mit qualifizierter Mehrheit.

Demokratie kann in einem so komplexen Gebilde wie der Europäischen Union nur als "Mehrebenendemokratie" funktionieren, das heißt, alle ihre Ebenen bedürfen demokratischer Legitimation und Ausgestaltung und müssen zivilgesellschaftliche Beteiligung sicherstellen. Das betrifft sowohl die Tätigkeit des EP als auch der nationalen Parlamente, der regionalen und kommunalen Vertretungen. Die Notwendigkeit einer weiteren Stärkung des EP gegenüber den anderen Organen der EU wird kaum bestritten.

Forderungen sind: volle legislative Mitentscheidungsrechte; Recht zu Gesetzesinitiativen; volles Haushaltsrecht; Mitspracherecht in allen Tätigkeitsbereichen der Union; Kontrolle des Europäischen Rates und des Ministerrates; parlamentarische Verantwortlichkeit der Kommission sowie politische und juristische Kontrolle ihres bürokratischen Apparats; echte Wahl des Präsidenten und der Kommissare der EU-Kommission; Zustimmungsverfahren auch für die Währungsunion sowie für die Grundzüge der GASP. Anregend ist der Vorschlag, das EP künftig nach einem EU-weit einheitlichen Gesetz nach dem Verhältniswahlrecht zu wählen.

"Erforderlich sind mutige Schritte in einer Europäischen Verfassung, die zentrale Gesetzgebungskompetenz vom Rat - als Vertreter nationaler Sonderinteressen - zum Parlament - als hypothetische Vertretung Europäischer Allgemeininteressen - zu verlagern", meint der Wissenschaftliche Beirat von Attac.15 Damit ist die Frage nach einem parlamentarischen System aufgeworfen, in dem die Gewaltenteilung ähnlich wie in den Mitgliedstaaten organisiert wird. Dieses liberal-demokratische Prinzip kann in der Union aber aufgrund der autonomen nationalstaatlichen Demokratie nicht voll umgesetzt werden. Majoritative Formen taugen nicht zur Behebung des Demokratiedefizits der EU in ihrem jetzigen Zustand. Würde dieser Weg gegangen, dann wäre mannigfache Ablehnung der Überstimmten die Folge, nicht nur in der Bevölkerung kleinerer EU-Mitgliedstaaten. So müssen die Möglichkeiten des EP letztlich begrenzt bleiben.

EU-Demokratie erfordert für einen nicht absehbaren Zeitraum eine weitaus gewichtigere Rolle der nationalen Parlamente. Diese müssen enger kooperieren, auch mit dem EP, und die jeweilige Regierungspolitik wirksamer kontrollieren sowie deren Richtungen effektiver bestimmen. Veränderungen in den nationalen politischen Kräfteverhältnissen können die EU-Politik von Regierungen und damit die Tätigkeit des Rates unmittelbar beeinflussen. Weitergehende Mitsprachemöglichkeiten regionaler und kommunaler Körperschaften - gerade hier spielt Bürgerbeteiligung eine besondere Rolle - werden nötig sein, auch wenn ein "Europa der Regionen" unter Ausklammerung der Staaten nicht Ziel sein kann.

Zivilgesellschaftliche Beteiligung und Gegenmacht
Ohne zivilgesellschaftliche Beteiligung wird es keine demokratische Europapolitik geben. Die Deregulierungspolitik der Staaten hat den Konzernen eine Machtposition verschafft, gegen die demokratische Politik immer schwieriger durchzusetzen ist. Ohne unionsweite Anstrengungen gesellschaftlicher Bewegungen und breite Reformbündnisse gegen die Macht des multinationalen Kapitals und zur Einflussnahme auf die EU-Politik ist Demokratisierung nicht erreichbar. Europäische Öffentlichkeit ist eine entscheidende Konstitutionsbedingung transnationaler Demokratie.

Diese war lange Zeit nur in engen Grenzen sowohl organisierbar als auch institutionalisierbar. Das hat sich in jüngster Zeit verändert. Dazu tragen die Europäischen Sozialforen, Attac und andere sozialkritische Bewegungen, das Forum der europäischen Zivilgesellschaft sowie andere Netzwerke bei. Mit den Europäischen Sozialforen entstand ein öffentlicher Raum für Organisationen und soziale Bewegungen. Bislang hauptsächlich national geprägte Debatten bekommen einen europaweiten Bezug. Engagement für Bürgerbeteiligung an Entscheidungen der EU und deren Umsetzung wird vielfältiger. Dabei geht es erstens um partizipative Demokratie. Zweitens wären regelmäßige Konsultationen in den Mitgliedstaaten zu politischen Fragen von europäischem Belang, auch in Ad-hoc-Foren, ein Fortschritt. Wünschenswert wären drittens über das Europäische Sozialforum hinausgehende gesellschaftliche Repräsentationen. Der Vorschlag des französischen Soziologen Pierre Bourdieu für Generalstände der sozialen Bewegungen Europas bleibt eine wichtige Anregung. Viertens geht es um direktdemokratische Möglichkeiten, so um Volksbegehren und Volksabstimmungen über Grundfragen der EU-Politik. Sie müssen in allen EU-Ländern möglich werden.

Für die Einmischung der Völker gibt es nach dem französischen und niederländischen "Nein" zum Verfassungsvertrag ein "Fenster der Gelegenheit". Zweifellos ist Gegenmacht nötig gegen Absichten, die Substanz des gescheiterten Verfassungsvertrages bis 2009 trotz aller Widerstände unter Dach und Fach zu bringen. Die Fortsetzung des alten Kurses ohne Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger führt aber in die Irre. Warnend wird geäußert: Wer dies versuche, verspiele noch mehr Vertrauen und könne die Union schwerlich aus der Sackgasse führen. Daher ist es überaus wichtig, dass vielfältige Bewegungen und Kräfte in den EU-Staaten und darüber hinaus Konzepte und Projekte für den weiteren Weg der EU zur Diskussion stellen. Dabei dürfte die ›Prinzipiencharta für Europa‹ des Europäischen Sozialforums besonderes Gewicht haben. Eine Verfassung muss letztlich von einer konstituierenden Versammlung verabschiedet werden. Das benötigt einen demokratischen konstitutionellen Prozess. Die Linke versichert, ein alternativer Verfassungsvertrag müsse demokratisch, unter Beachtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker und der souveränen Gleichheit der Staaten zustande kommen. In den "Programmatischen Eckpunkten auf dem Weg zu einer neuen Linkspartei in Deutschland" wird eine aus zwei Kammern bestehende verfassunggebende Versammlung angeregt.16 Die eine Kammer könnte das 2009 zu wählende Europäische Parlament bilden. Die andere bestünde aus Vertretern der Regierungen und der Parlamente der Mitgliedstaaten nach dem Prinzip der Gleichheit der Staaten. Zudem müsse die breite Teilnahme der Öffentlichkeit gesichert werden. Mit der Orientierung auf einen neuen Verfassungsvertrag zeichnet sich eine Hauptrichtung demokratischen Handelns ab. Es wird nicht leicht sein, diese Orientierung mit vielen anderen unionsweiten, nationalen, regionalen und kommunalen Aktionsfeldern in der Europäischen Union zu verknüpfen.

Wilhelm Ersil - Jg. 1928, Prof. Dr. habil., Potsdam; Fachgebiet: Europäische Integration, Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland; zuletzt in UTOPIE kreativ: Kerneuropa: Drohungen und Tendenzen, Heft 162 (April 2004).

1 Vgl. Appell der Führungsgremien der Europäischen Linkspartei, www.sozialisten.de, Nachrichten, 13. 1. 2006 (Stand 23. 1. 2007)

2 www.attac.de/eu-ag/neu/readarticle.php?article_id=48 (Stand 23. 1. 2007).

3 Vgl. DIE LINKE.PDS. international, Nr. 2/2006, S. 84-94.

4 Vgl. Anm. 2.

5 Deutscher Bundestag, Drucksache 16/3796.

6 Memorandum für eine demokratische, freiheitliche, soziale und Frieden sichernde Europäische Union. Fraktion DIE LINKE im Bundestag. www.linksfraktion.de/nachricht.php?artikel=1469907099 (Stand 23. 1. 2007).

7 www.cap-lmu.de/aktuell/events/2006/ibf.php (Stand 23. 1. 2007).

8 Deutscher Bundestag, Drucksache 16/3402. Siehe dazu auch Andres Wehr: Das Publikum verlässt den Saal. Nach dem Verfassungsvertrag: Die EU in der Krise, Köln 2006.

9 Vgl. Anm. 2.

10 Siehe hierzu ausführlich: EuroMemorandum- Gruppe: Eine demokratische wirtschaftspolitische Alternative zum neoliberalen Umbau Europas, Dezember 2006; www.eu.dgb.de/article/articleview/4107/1/323/ (Stand 23. 1. 2007).

11 www.ec.europa.eu/employment_social/labour_law/docs/2006/green_paper_de.pdf (Stand 23. 1. 2007).

12 Vgl. dazu: Die öffentliche Daseinsfürsorge - eine Angelegenheit des Marktes?, in: la gauche 3, Brüssel 2006.

13 Memorandum für eine demokratische, freiheitliche, soziale und Frieden sichernde Europäische Union, a. a. O.

14 Vgl. Europa-Konferenz der SPE-(Sozialdemokratische Partei Europas) Fraktion; SPD-Pressemitteilung 593/06 v. 6. 11. 2006; siehe auch: www.spd.de/menu/1695612/ (Stand 23. 1. 2007)

15 Vgl. Anm. 2.

16 www.sozialisten.de/sozialisten/parteibildung/protokolle/programm/view_html?zid=31907&bs=1&n=1 (Stand 23. 1. 2007)

in: UTOPIE kreativ, H. 197 (März 2007), S. 229-240

aus dem Inhalt:
Essay STEPHANIE BALIS: Wo Sommer wirklich Sommer ist. Eine Reise in die Berge von Kurdistan; Gesellschaft - Analysen & Alternativen ARMIN BERNHARD: Bildung als Ware - Die Biopiraterie in der Bildung und ihr gesellschaftlicher Preis; WOLFGANG BITTNER: Lese-Kultur gegen Gewalt. Kinder- und Jugendliteratur als Prophylaxe; HARALD WERNER: Fünf Fragen an ein zeitgemäßes Curriculum zur Politischen Ökonomie; Europa heute WILHELM ERSIL: Die EU am 50. Jahrestag der Römischen Verträge; Geschichte & Utopie ANDREAS HEYER: Ursprung und Gehalt des Utopiebegriffs von Karl Mannheim; GOTTFRIED OY: Spurensuche Neue Linke. Das Beispiel des Sozialistischen Büros und seiner Zeitschrift links; Gedenken In memoriam Theodor Leipart (1867-1947); Standorte CHRISTEL HARTINGER: "Nicht gegen mein Gewissen". Gespräche mit Felicia Langer; Festplatte WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau; Bücher & Zeitschriften Volker Hauff, Günther Bachmann (Hrsg.): Unterm Strich. Erbschaften und Erblasten für das Deutschland von morgen. Eine Generationenbilanz (RAINER RILLING); Doron Rabinovici, Ulrich Speck, Nathan Sznaider (Hg.): Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte (ANDREAS MÜLLER, PETER ULLRICH); Bernd Nagel: Die Eigenarbeit der Zisterzienser (ULRICH BUSCH); Imperialismus heute. Weltmarkt und Weltmacht - Von der globalisierten Zivilgesellschaft und ihrer antiterroristischen Kriegskultur (RENATE DILLMANN); Adelheid von Saldern (Hrsg.): Stadt und Kommunikation in bundesrepublikanischen Umbruchszeiten (JOACHIM TESCH); Summaries