Der Sammelband „Die Kriegslogik durchbrechen!“ setzt Zeichen der Hoffnung
Buchbesprechung
zu: Bernd Drücke (Hrsg.): Die Kriegslogik durchbrechen! Graswurzelrevolutionäre Stimmen zum Gaza-Krieg. Mit einem Geleitwort von Moshe Zuckermann. Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2025, 132 Seiten, 14,90 Euro, ISBN 978-3-939045-59-5
Nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 waren es hunderte arabischer Beduinen, die in spontan zusammengestellten unbewaffneten Notfallteams nach vermissten Israelis suchten. In Haifa und Jaffa bildeten sich gemischte arabisch-israelische Zivilpatrouillen, um Zusammenstöße zwischen beiden Bevölkerungsgruppen zu verhindern. In der Unerbittlichkeit, mit der zwei von genozidalen Phantasien angetriebene Akteure im Gaza-Konflikt aufeinander losgegangen sind, sind es diese Zeichen der Hoffnung, die leicht in Vergessenheit geraten. Deshalb ist die Veröffentlichung eines Buches, das genau solche Perspektiven dokumentiert, so wichtig in den Diskursen über den Nahen Osten.
Das Buch versammelt „graswurzelrevolutionäre Stimmen“, die zuerst in der anarchistisch-pazifistischen Monatszeitung „Graswurzelrevolution“ erschienen und nun vom gleichnamigen Buchverlag zwischen Buchdeckel versammelt wurden. Herausgeber ist der Redakteur der GWR, Bernd Drücke. Das bewirkt eine gewisse Fokussierung auf politische, undogmatisch-linke Initiativen in Palästina/Israel und in Deutschland. Zu Wort kommen insbesondere Vertreter*innen der Organisationen „Palestinians and Jews for Peace“, die in Deutschland aktiv ist, und „Combatants for Peace“. In letzterer organisieren sich ehemalige Ex-Soldat*innen der „Israel Defense Forces” (IDF) und ehemalige palästinensische Paramilitärs, die in Schlüsselerlebnissen lernten, ihre Gegenüber als Menschen zu sehen. Auch zwei junge Menschen, die den Kriegsdienst bei den IDF aus politischen Gründen verweigerten und dafür Haftstrafen in Kauf nahmen, kommen zu Wort.
Das Spektrum derjenigen, die sich der Logik des ethnischen Hasses widersetzen, wird in diesem Buch nicht erschöpft. Das bekannte israelisch-arabische „West-Eastern Divan Orchestra“ z. B. erfährt nur eine beiläufige Erwähnung. Die Organisation „Road to Recovery“ mit 1500 Freiwilligen, die Palästinenser*innen an Checkpoints abholen, um sie zur Behandlung in israelische Krankenhäuser zu bringen, kommt in dem Buch nicht vor. Sie hätte das Gesamtbild aber bestätigt. Auch „Road to Recovery“ litt nach dem 7. Oktober 2023 zunächst unter der „Welle der Desillusionierten“ (87), welche die Hoffnung auf Versöhnung aufgaben. Doch dann kamen viele neue Ehrenamtliche hinzu. Viele Israelis werden an ungezählten Orten aktiv, weil sie sich für ihre Regierung schämen und dem etwas entgegensetzen wollen.
Viele, aber doch nur eine kleine Minderheit. Eine linke israelisch-jüdische Perspektive, sagt Swetlana Nowoshenowa von „Palestinians and Jews for Peace“ im Interview, sei heute eine „sehr, sehr einsame Position“ (77).
Das Buch, das Texte zusammenbringt, die zwischen Herbst 2023 und Sommer 2025 entstanden (inklusive eines Interviews mit dem Autor Meron Mendel, das kurz vor dem Hamas-Überfall geführt wurde), dokumentiert auch Entwicklungsprozesse, die sich in diesen zwei Jahren abgespielt haben. Es ist einigermaßen beklemmend, wie rasch die Zahl der getöteten Menschen in Gaza von Beitrag zu Beitrag steigt. Jens Kastners Beitrag unter der Überschrift „Gegen die Hamas-Versteherei in der Linken“ spiegelt westliche Debatten unmittelbar nach dem Hamas-Überfall, wie sie auch Eva Illouz in ihrem aktuellem Buch „Der 8. Oktober“ problematisiert. Kastner lässt, ähnlich wie Illouz, die in der Tat zynische Einschätzung des Hamas-Überfalls als „Signal des palästinensischen Widerstands“ aus der linken Analyse Israels als Kolonialmacht und Apartheids-Staat folgen, die er abwegig findet (46). Der Rezensent hält beide Begriffe hingegen für brauchbare Analysekategorien: Aus der Tatsache, dass Israel 1948 nicht als Kolonialmacht entstand, folgt keineswegs, dass es sich nicht nach 1967 zu einer solchen entwickeln konnte. Und die Bezeichnung der unterschiedlichen Rechte von jüdischen und nichtjüdischen Menschen in Israel und den besetzten Gebieten als „Apartheid“ ist nicht zuletzt unter kritischen Israelis weit verbreitet, wovon es im Buch auch Beispiele gibt (84). – Aber es ist gut, dass der Band vielstimmig ist und nicht zu sehr auf die ‚Reinheit‘ der Begriffe abzielt. Auch Nowoshenowa empfiehlt, dass man im Gespräch mit Betroffenen „mal ein Auge zudrückt, wenn die Emotionen verrückt spielen“ (75 f.).
Das Tableau der Stimmen in diesem Band ist durch zwei soziologische Auffälligkeiten gekennzeichnet. Erstens: Obwohl überwiegend Organisationen zu Wort kommen, in denen jüdische und palästinensische Menschen kooperieren, überwiegen die jüdischen Stimmen. Noch auffälliger jedoch: Es überwiegen die weiblichen Stimmen. Das dürfte damit zusammenhängen, dass die Feindbild-Logik, die es zu durchbrechen gilt, eine toxisch-männliche, eine chauvinistische Logik ist. Netanjahus Regierung und die Hamas-Führung ähneln darin einander viel mehr als den jeweiligen Opfern auf ‚ihrer‘ Seite. Der „Marsch für Frieden“, den 3.000 israelische und palästinensische Frauen 2016 zum Amtssitz Netanjahus durchführten, zeigte die Alternative zu dieser Macho-Logik. Die auf israelischer Seite für den Marsch maßgebliche Organisation „Women Wage Peace“ hat heute 40.000 Mitglieder. Eine weitere Ergänzung des im besprochenen Band auftretenden Portfolios. Im Dachverband „Alliance for Middle East Peace“ (ALLMEP) sind über 170 israelische, palästinensische und beiderseitige Friedensinitiativen organisiert, die immerhin Hunderttausende von Aktivist*innen umfassen. Wir wissen viel zu wenig darüber.
Das besprochene Buch bringt hier Licht ins Dunkel. Es ist wichtig, um die Chancen auf eine Versöhnung im Palästina-Konflikt diesseits der fanatischen, kriminellen Führungen auszuloten. Aber es wirft auch ein beunruhigendes Schlaglicht auf unseren eigenen Staat. Den israelischen Friedensorganisationen „New Profile“ und „Zochrot“, die im Band ebenfalls berücksichtigt werden, hat die Bundesregierung im Juni 2024 (noch zur Zeit der Ampel!) die Unterstützung entzogen und sie damit in existenzielle Not gebracht – weil sie der „bedingungslos“ zu unterstützenden Netanjahu-Regierung ein Dorn im Auge sind. „Wieder einmal“, resümiert eine bei „New Profile“ engagierte Aktivistin, „steht Deutschland auf der falschen Seite der Geschichte“. Und die Jüdin Nowoshenowa formulierte bei einer Rede: „Wir sind es leid, dass deutsche Politiker*innen unsere Identität benutzen, um Hass gegen Palästinenser*innen, Araber*innen, Muslime und Geflüchtete zu verbreiten.“ (93 f.)
Ja, es ist beschämend; aber wie im Nahen Osten selbst stellt sich auch in Deutschland die Frage, ob dies das letzte Wort der Geschichte sein muss, ob nicht doch noch die Menschenrechte eine Chance bekommen. Das Bächlein, das dafür zum Strom werden müsste, murmelt bereits. Dies ist die Mut machende Botschaft dieses Buchs.
Rüdiger Haude
Weitere Infos:
https://www.graswurzel.net/gwr/produkt/die-kriegslogik-durchbrechen/
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1194682.gaza-krieg-wir-muessen-keine-feinde-sein.html
Lesungen „Die Kriegslogik durchbrechen! Graswurzelrevolutionäre Stimmen zum Gaza-Krieg“ mit Herausgeber Dr. Bernd Drücke:
01.11.2025, 17 Uhr, Linke Literaturmesse Nürnberg
12.12.2025, 20 Uhr, Buchladen Schwarze Risse, Gneisenaustraße 2a, 10961 Berlin
Rezension aus: Graswurzelrevolution Nr. 503, November 2025, www.graswurzel.net


